Eva Markert

Bizarre Blüten


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Frau gab ein Gurgeln von sich, versuchte zu husten, röchelte, würgte, kämpfte, ihre Augen quollen hervor, doch er presste ihren Leib mit eiserner Gewalt auf die Matratze. Sie wand sich, strampelte mit den Beinen ...

      Er schloss seine heiß brennenden Augen, versuchte nicht daran zu denken, was Festa in diesem Augenblick alles durchleiden musste.

      Schließlich zuckte die Frau nur noch schwach. Und dann lag sie still.

      Widerstrebend öffnete er die Augen, griff in ihren schwarzen Schlund. Vielleicht konnte er Festa noch retten. Doch nein, sie war für immer in der Tiefe des Rachens verschwunden.

      „Ich danke dir“, flüsterte er.

      Er trug die tote Frau in die Küche und legte sie vor die Spüle.

      Danach ging er zum Telefon.

      ***

      „Warum um alles in der Welt hat Ihre Frau eine rohe Kartoffel gegessen, dazu noch am frühen Morgen?“, fragte der Notarzt, nachdem er die Leiche untersucht hatte.

      Er zuckte die Achseln. „Das tat sie in letzter Zeit öfter. Schwangere haben seltsame Gelüste.“

      Als wieder Ruhe eingekehrt war, setzte er sich an den Küchentisch, vor sich einen Korb mit jungen Kartoffeln. Ganz unten fand er eine, die Festa sehr ähnlich sah. Sorgfältig befreite er sie von Erde und Staub, ehe er sie in seine Hosentasche gleiten ließ.

      Nachtbus

      Wie lang ist die Sache jetzt her? Fünfundzwanzig Jahre, schätze ich, wenn nicht länger. Und noch immer muss ich ab und zu daran denken. Manchmal grundlos. Manchmal, weil mich etwas daran erinnert. So wie gestern, als ich allein in einer finsteren Straße auf den Nachtbus wartete. Genau wie damals.

      ***

      Es war an einem Freitag, kurz vor Mitternacht. Meine Freunde zogen weiter durch die Diskos, aber ich war todmüde und wollte nach Hause.

      Während ich auf den Nachtbus wartete, fiel es mir schwer, wach zu bleiben. Ich rieb meine brennenden Augen und kniff die Lider ein paar Mal zusammen. Alles um mich herum kam mir so unwirklich vor, als ob ich träumen würde. Die Luft schien zu flimmern. Von Weitem hörte ich leise Geräusche, die ständig auf- und abschwollen.

      Endlich sah ich wie durch blindes Glas zwei runde Lichter – der Nachtbus kam.

      Ich stieg ein. Im ersten Augenblick glaubte ich, ich wäre der einzige Fahrgast. Aber dann bemerkte ich im bleichen Neonlicht ein Bündel Mensch auf der Rückbank. Der kahlköpfige Mann, der dort lag, trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit einer silbergrauen Krawatte. Die Kleidungsstücke waren ihm viel zu weit.

      Ich ließ mich auf einen Sitz fallen und beobachtete ihn. „Wahrscheinlich ein Betrunkener“, dachte ich.

      Bis zur nächsten Haltestelle hatte er sich nicht ein einziges Mal gerührt. Ich wurde unruhig. Er war doch nicht etwa tot?

      Ein paar Jugendliche stiegen mit lautem Hallo ein. Der dürre Mann stöhnte leise. Aus dem Ärmel seines Jacketts ragte eine knochige Hand, mit der er sich über die Stirn fuhr. Seine Augen blieben geschlossen.

      Ob er krank war? Vielleicht brauchte er Hilfe. Ich rang mit mir. Dann stand ich auf.

      Der Bus fuhr ziemlich schnell. Ich versuchte das Gleichgewicht zu halten, während ich nach hinten durchging. Plötzlich bremste der Fahrer und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig abstützen, sonst wäre ich auf den Mann gefallen. Er zuckte zusammen und setzte sich auf.

      „Entschuldigung“, murmelte ich.

      Er schaute sich um, als ob er nicht wüsste, wo er sich befand. „Guten Morgen“, sagte er und reichte mir seine blaugefrorene Hand.

      Nach kurzem Zögern ergriff ich sie. „Der ist ja vollkommen übergeschnappt“, schoss es mir durch den Kopf.

      Er machte eine einladende Bewegung und ich setzte mich neben ihn. Gesund sah er wirklich nicht aus: bleiches Gesicht mit Augen, die so tief in den Höhlen lagen, dass sie kaum zu erkennen waren. Er saß zusammengekrümmt, als hätte er Schmerzen.

      „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte ich. „Kann ich Ihnen helfen?“

      „Vielleicht.“ Er sprach sehr leise, war kaum zu verstehen. „Ja, wenn ich Glück habe, können Sie mir helfen.“

      Er schwieg und blickte aus dem Fenster.

      Als ich gerade fragen wollte, was ich für ihn tun könnte, wandte er mir sein Gesicht zu. Die blutleeren Lippen bewegten sich kaum, als er hinzufügte: „Ich fahre diese Strecke nun schon zum dritten Mal. Und wenn es sein muss, fahre ich sie auch noch mal, wieder und wieder, immer rund, immer im Kreis ...“ Er brach ab.

      Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. „Wohin möchten Sie denn?“

      Er lächelte schwach. Seine Zähne erschienen mir ungewöhnlich groß. „Ich möchte nirgendwohin“, flüsterte er. „Ich will hier im Bus jemanden treffen.“

      Um nicht aufdringlich zu erscheinen, wartete ich, bis er weiterredete.

      „Ich muss meinen Sohn sehen. Am Wochenende fährt er regelmäßig mit Freunden in die Stadt. Um einen draufzumachen, wie er sich ausdrückt. Irgendwann nimmt er dann immer den Nachtbus nach Hause.“

      „Wie heißt Ihr Sohn denn?“, unterbrach ich ihn. „Vielleicht kenne ich ihn.“

      Er musterte mich. „Ich glaube nicht.“

      Alles Mögliche ging mir durch den Sinn. Warum musste der Mann seinen Sohn treffen? Wieso im Nachtbus und nicht zu Hause? Und auf welche Weise sollte ich ihm helfen?

      Ich wollte ihn gerade fragen, als der Bus an der nächsten Haltestelle hielt. Die Jugendlichen standen auf und schwankten zum Ausgang. Sie lachten und johlten. Einer von ihnen wäre beinahe die hohen Stufen hinuntergestürzt.

      „Die haben bestimmt mehr als nur ein Bier intus“, bemerkte ich.

      „Ach, na ja“, erwiderte er. „Sie sind eben jung.“ Dabei schüttelte er den Kopf. Was er mit dieser Bewegung ausdrücken wollte, war mir nicht klar.

      Danach riss der dünne Gesprächsfaden wieder ab. Der Fremde saß zusammengesunken auf seinem Platz und starrte vor sich hin. Ich schaute in die Nacht hinaus.

      Der Bus hielt erneut. Mit einem Mal richtete sich der Mann auf. „Da ist er!“, flüsterte er und deutete mit zittrigem Zeigefinger auf eine Gruppe, die in den Bus hineindrängte. „Der Junge mit den grünen Haaren, das ist mein Oliver.“

      „Oh“, sagte ich. Kaum zu glauben, dass dieser kraftstrotzende junge Mann in der schwarzen Lederkleidung mit dem überdimensionalen Hahnenkamm der Sohn dieses korrekt gekleideten, schwächlichen Mannes sein sollte.

      Die Blicke des Vaters hingen an Oliver, als wollte er sich sein Bild für die Ewigkeit einprägen.

      Ich war gespannt, wie es nun weitergehen würde. Aber nichts geschah. Nach einer Weile fragte ich: „Warum gehen Sie nicht zu Ihrem Sohn hin?“

      Der Mann schaute mich an. „Sie haben doch gesagt“, wisperte er, „dass Sie mir helfen würden.“ Er wühlte in einer Tasche seines Jacketts und drückte mir etwas in die Hand. „Geben Sie ihm das. Es gehört ihm.“ Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. „Ich danke Ihnen.“

      Ich betrachtete den kleinen Gegenstand. „Ein Siegelring!“, rief ich. „Warum geben Sie ihm den nicht selbst?“

      Ich erhielt keine Antwort. Als ich hochblickte, war der Mann verschwunden.

      Ich konnte es nicht fassen, sah sogar unter dem Sitz nach, aber er hatte sich in Luft aufgelöst.

      Verwirrt lehnte ich mich zurück. Hatte ich geschlafen und geträumt?

      Doch der Ring war noch da. Wenn ich die Finger darum schloss, bohrte sich der blaue Stein mit dem eingravierten Wappen in meine Handfläche.