Beate Morgenstern

Villa am Griebnitzsee


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die klein-rundliche Verena Kammermeier neben dem langen schwarz-ernsten Kurt Kammermeier. Susannes Sätze beginnen zu fließen.

      Die Prüfung vorüber. Sie alle draußen auf der Diele. Die Türen zum Zimmer weit geöffnet. Ein wunderbares Licht. Vom Balkon herein Jasminduft. Aufgehoben die Trennung zwischen Dozenten, Gästen und Studenten. In Grüppchen stehen sie auf dem herrlich graublauen Teppich, zentimeterdick. Man plaudert, blödelt, witzelt, schaut sich um. Susanne wie in Trance: endlich vorbei, überstanden. Sie sieht Fietz in seinem grauen Flanellanzug dahinschweben, von Grüppchen zu Grüppchen eilend, hier ein Witz, dort eine Bemerkung. Fietz zündet sich elegant eine Zigarette an. Lange waren sie gut befreundet. Susanne hört eine Stimme neben sich. Aber da Susanne sich wie im Film befindet, nur als Zuschauer, am Ort des Geschehens, als Akteur also nicht anwesend, kann die Stimme nicht ihr gelten.

       "... Sie haben vielleicht bemerkt, dass ein Menschenleben in Casablanca nicht viel zählt. "

      Fietz stößt sie mit dem Zeigefinger an. Hör mal, du blöde Henne, sagt Fietz, Dort wartet jemand auf dich! Nun mach mal!, weist auf eine Kammer, die Tür halboffen. Susanne sieht, in der Kammer steht jemand. Susanne wandelt auf die Kammer zu. Ein blonder, angenehmer Herr, Gruppendramaturg bei der Defa, erwartet Susanne. Haben Sie sich schon überlegt, wie es nach dem Studium weitergehen soll?, fragt er.

       "Im Café Americain trifft sich alles."

      Susanne weiß, wie es nach dem Studium weitergehen soll, sagt es nicht, so klug ist sie doch. Schaut ihn bloß an. Na ja. Sie zuckt mit den Schultern. Und da kommt das Angebot, das einmalige, das nie wiederkehrende: Ich würde Sie gern in unserer Gruppe sehen!, sagt der Dozent. Susanne wirft sich ihm nicht an den Hals und jubelt. Verhält sich ganz still. Auch das kann Freude sein. Aber ist es nicht. Nur Verwirrung.

      Überlegen Sie es sich, sagt der Gruppendramaturg freundlich. Aber nicht zu lange. Und sagen Sie niemandem etwas darüber! Bringen Sie das fertig? Der Gruppendramaturg weiß um ihre Impulsivität, kennt Susanne nicht erst seit heute. Will sie vielleicht genau deshalb in seiner Gruppe von Dramaturgen haben, weil Susanne nicht lügen kann, ihrem Gefühl, Instinkt folgt. Und ihr Instinkt ist gut. Eine gute Nase ist manchmal besser als ein kluger Kopf. Wie sagt man: Ein kluger Kopf benutzt unter Umständen seine Klugheit, um sich ein Brett vor denselben zu nageln. Jaja, sagt Susanne. An diesem Tag kann sie alles. Auch schweigen. Sie torkelt zurück zu den anderen, zieht eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche, raucht, ganz lässig.

       "Wenn du nicht hilfst, wird Victor Laszlo in Casablanca sterben." - "Na und wenn schon, ich werde auch in Casablanca sterben. Ist doch ein guter Platz dafür. "

      Lange hält sie es in der Villa nicht mehr. Aber wir feiern noch!, sagt Fietz. Jaja, geh nur, sagt Schwab, Schwäbchen genannt, der Seminarleiter, kennt ihre Schwäche an solchen Tagen. Die Nerven. Unter Nervenschwäche litt auch ihre natürliche Mutter, wie die ihr erzählte, Stickerin und Weißnäherin und mit einem typischen Hang der Dresdner zur Kunst und zum Adel. Erst als sie ins Rentenalter kommt, lebt sie auf, verdient sich freudig als Einlassdame beim Kino dazu. Der Bus ist gerade weggefahren. Susanne zieht Stöckelschuh und Strümpfe aus, um voranzukommen, geht den Berg hinauf, hat ein Ziel: ER. An diesem besonderen Tag wird Reimar da sein, hofft sie, wird in seinem Zimmer auf sie warten. Vom Schauspielhaus kommt ein Mädchen herunter, als "Don Gil von den grünen Hosen" gekleidet, grünes Wams, grüne Beinlinge, knallrotes Käppchen auf dem Kopf mit einer langen, wippenden Fasanenfeder. Das Mädchen hält sich die Kappe fest. Hallo!, sagt sie. Susanne hat es eilig. Warte mal, warte mal!, sagt das Mädchen. Wann machen wir's denn, wann, Nanne? - Na, was denn?, fragt Susanne. - Na unsere Weiberfete! - Nee, ist doch kaum jemand noch da. Wir müssen warten, bis das Haus wieder voll ist. - Aber wir können doch auch allein saufen! - Nee, sagt Susanne, heute nicht. Ich hab was vor. Susanne lächelt, verrät sich. Ach ja, du hast heute deinen eigenen Sommernachtstraum mit Reimar, spottet das Mädchen. Ja, denkt Susanne. Hoffentlich. Will weiter, endlich zu ihm. Doch Don Gil von den grünen Hosen hält sie fest, ist auch allein, hat Dreharbeiten beim Film, die anderen Schauspielmädchen sind schon abgereist. Wie war's denn? Wie hast du's überstanden? Sie fragt nun nach der Prüfung. Jaja, sagt Susanne, so und so. Das Mädchen lässt nicht locker. Susanne rennt einfach los zur Villa, in der Reimar wohnt, ist voll des süßen Jasminduftes und im Erfolgsrausch: Gleich wird sie bei ihm sein. Rennt hin zu ihm wie ein Hundel, wird ihn anschauen, sehen, wie er sitzt, wie er guckt. Dann wird er sie - vielleicht - in die Arme nehmen und küssen, der große Reimar, der überragende Schriftsteller. Und vielleicht wird er sagen: Hach, wie freu ich mich! Ja, wie stolz bin ich auf dich! Und dann wird er wieder von seinem Traum reden. Sie werden zusammen in die Taiga gehen, in die Prärie, gleichbedeutend mit weit weg und nah an der Basis. Sie nehmen den Kontakt zum Volk auf, nur so wird echte Kunst entstehen. Ins Petrolchemische Kombinat Schwedt werden sie gehen, Erfahrungen sammeln, die fürs Schreiben, für die Kunst wichtig sind. Susanne durfte noch keine Zeile von Reimars großem, wundervollem Roman lesen. Aber es muss ein ganz außerordentliches Werk sein, so wie er davon redet. Im "Neuen Deutschland" wurde schon ein Stück abgedruckt. Reimar hat eine Theorie, die Susanne einleuchtet. Doch bei ihr laufen die Figuren, wie sie wollen, sie kann sie nicht zur Disziplin rufen. Das ist ihre Schwäche, denkt sie. Es kann ja nicht sein, dass die Figuren, von ihr erschaffen, sich plötzlich nicht mehr um sie scheren und ihr Eigenleben führen.

      Utz, ein Mitbewohner von Reimars Zimmer, kommt ihr entgegen mit einem Kotelett in der Hand, lacht. Was soll ich nun machen, abwaschen oder gleich so in die Pfanne?, fragt er, wird mit einem Mal ganz ernst, was nichts mit der Frage nach der Prüfung zu tun hat. Susanne könnte aufmerken. Später wird sie sich an den mitleidigen Ausdruck erinnern. Jetzt sieht sie nur eins: Reimar ist nicht da, hat nicht auf sie gewartet. Kein Reimar, kein Held, der sie umarmt! Sie steht da, bedeppert. Na ja, er ist sicher in seinem Verlag, denkt sie endlich. So einen Helden hat man nie für sich allein, der hat Aufgaben, kann sich nicht um Susanne kümmern, wie sich Susanne um ihn gekümmert hätte. Sie läuft in ihr Haus, legt sich hin, versucht zu schlafen. Bald wird sie gestört. Fietz steht vor ihrem Bett. Die Fachrichtung trifft sich nachmittags zur Feier, sagt er. Nee, sagt Susanne. Ich will nicht. Sie denkt, Reimar wird noch kommen. Mein lieber Reimar wird mich holen. - So geht das nicht, sagt Fietz. Und wenn du nur ne Stunde dort erscheinst! Reimar kommt nicht und immer noch nicht. Susanne wird schwindlig, übel. Gegessen hat sie seit gestern nichts. Die Küche ist nicht mehr besetzt. Was mache ich bloß?, denkt sie, kocht sich schließlich einen starken Kaffee. Und rennt dann die Straßen hinunter zur Stalin-Villa. Die Feier ist schon im Gang. Wodka gibt es. Sie ist nüchtern und Alkohol nicht gewöhnt. Trotzdem kippt sie zwei, drei Wassergläser voll Wodka runter.

      Laetitia, die Geliebte des Rechtsanwalts Maglia, die offenen Haare, halb nach oben gesteckt, das herrliche Gesicht eines Geiers und einer bösen Vettel, immer noch als Frau anziehend, klopft an die Tür des Rechtsanwalts, steckt ihren Kopf hinein. "Kuckuck, du wirst verlangt, großer Wau- Wau",: krächzt sie. "Signore! Raffaele mit Freunden und einer jungen Frau, einer jungen Frau, wie Signore Sie geliebt hat. Früher." Laetitia bewegt sich elegant, sehr wenig, weicht dem Buch aus, das er nach ihr wirft, lacht, fett, hexisch, flüstert: "Beeil dich, meine große Ratte, es gibt Portwein und Zigaretten."

      Als Susanne zu sich kommt, hört sie ein Gemurmel. Man hat sie auf ihr Bett gelegt. Die Jungen müssen sie den Berg hinauf getragen haben in ihr Zimmer. Alles dreht sich. Und immer noch denkt sie: Reimar! Wann kommt Reimar? Fietz kümmert sich, denn die Mädchen sind nicht mehr da. Ihn sieht sie, als sie wieder einmal die Augen aufschlägt.

      "Das Bett Julias. Ich bin bezaubert. Ich bin entzückt ... und verwirrt zugleich ... immerhin ..."

      In der Nacht kommt Utz vorbei. Wo ist denn Reimar?, fragt sie.

      Nun warte doch nicht, sagt Utz. Der ist doch bei seinem Verlag.

      Aha, wie ichs dachte, er ist bei seinem Verlag!, denkt Susanne, will einen Augenblick erleichtert sein, aber ihr Herz krampft: Wieso weiß er davon, und ich, ich weiß nichts? Weh tut diese Frage, bitterweh, lässt sie nicht mehr los. Na schön. Ich werde ihm nichts sagen, wenn er wieder auftaucht, denkt sie.

       "Bist du gelaufen, Angelo?" - "ja, aber nicht schnell genug. "Angelo fällt hin, eine Glasscherbe in der Hand. "Ich war in schlechter Gesellschaft, und meine Nase hat ihnen