Beate Morgenstern

Villa am Griebnitzsee


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Arbeiterklasse ist wie die Menschenklasse sonst, auf Vergnügen aus, auf Späße, eifersüchtig und auch etwas prüde. Denn hat Susanne nur einem der verheirateten Männer etwas weggeguckt, als man sie in die Falle lockte, so dass er nun zu Mannestaten nicht mehr fähig ist?

      Eine Kundgebung findet statt. Der Erste Mai ist es nicht, der Kampftag der Arbeiterklasse, die machtvolle Demonstration, zu der mit Losungen, groß gemalte Buchstaben an Häuserwänden, gerufen wird. Als Susanne einmal an der Mauer des Berliner Untersuchungsgefängnisses Rummelsburg vorbeifährt, sieht sie den Spruch: Heraus zum Ersten Mai! Selbst Friedhofsmauern ziert dieser Spruch. Das Volk lacht. Losungen, sinnige, aberwitzige, wenig materialaufwändig, ein bisschen Kreidefarbe braucht man nur, sie beleben das Bild der Städte und Gemeinden Ostdeutschlands, vormals Mitteldeutschland genannt. Wenig dankt die Bevölkerung, der Coca-Cola-Werbung lieber wäre, selbst wenn man die Coca-Cola nicht zu kaufen kriegte. Eine Kundgebung also, aber nicht zum Ersten Mai, zum internationalen Kampftag. Vielleicht zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus. Oder eine Sonderdemonstration aus Protest gegen einen imperialistischen Anschlag. Susanne als Gemeindeangestellte mit dabei. Ein Trüppchen nur, Gemeindeangestellte, Mitglieder von Parteien und Massenorganisationen, ein paar Hausfrauen vom DFD, vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands. Beginn der Demonstration am Gemeindeamt in Höhe des Klubhauses. Da ist dann noch der Kindergarten und die Brauerei, weiter ins Tal hinunter zieht das Trüppchen mit Transparenten, wie sich's gehört, macht in der Senke, am Gasthof "Zur Sonne" halt. Dort ein Bächlein, in dem die Elektrische, die elend quietschende Straßenbahn, bei ihrer kurvenreichen Tour von Hohenstein nach Oelsnitz mal landete. Das Trüppchen kehrt wieder um, zieht den Berg hinauf, seinen Willen bekundend. Zieht vorbei am Klubhaus, Gemeindeamt, an der Brauerei bis zum endlichen Ende des Dorfes. Dann dreht man wieder um, zieht bis zum Gemeindeamt hinunter, kommt an der Post vorbei. Ein Postangestellter ruft in das Trüppchen hinein. Frolln Purgert! Frolln Purgert!, ruft er in der typisch sächsischen Verkehrung von harten zu weichen und weichen zu harten Konsonanten. Die Mutter hat angerufen, erfährt die Versammlung örtlicher Vertreter von Parteien, Massenorganisationen und Gemeindeangestellten.

       "Ein Brief von meinem geliebten Antonio": schreit Antonios Mutter, eine hässliche Alte, schmalschultrig, breithüftig, schief, auf die Gassen von Cosano hinaus. "... Wie hab ich auf den Briefgewartet. Wie Maria auf den Engel der Verkündigung."

      Morchn missn Se zur Offnahmeprüfung nach Babelsberg, sagt der Postangestellte. Was nun wieder eher wie Papelsperk klingt mit einem dunklen a. Susanne hat still geschwiegen über ihre Absicht, sich aus Gersdorf wegzumachen, wo sie's ja gar nicht schlecht hat, wenn der Drang nicht wäre zu Höherem, zur Kunst. Jetzt steht Susanne da, heiß ist ihr, der Kopf feuert, und die um sie herum sind wie mit Wasser begossen und können es nicht fassen, dass das Fräulein Burkard mit ihrem Gersdorf nicht genug hat. Der Postangestellte erklärt den Anwesenden, wie Susannes Mutter zu der Nachricht gelangt sei. Ein Brief an Susanne sei so lange unterwegs gewesen. Gott sei Dank habe die Mutter ihn geöffnet und das Datum gefunden.

      Das ist nun auch die Burkard-Gerda, dass sie das Interesse ihrer Tochter befördert, wenn es denn mal offenkundig ist, obwohl es ihrem Interesse ganz entgegenläuft. Sie hätte den Brief nur nicht zu öffnen brauchen oder wenn schon, wenn die Neugier sie schon trieb, dann doch die Nachricht verspätet übermitteln. Die Tochter ist doch alles, was sie hat, und die Angst, sie zu verlieren, besonders groß, weil sie in Susannes Kindheit immer fürchtete, man könne sie ihr wieder wegnehmen, die leibliche Mutter könne Ansprüche stellen. Weihnachten zum Beispiel sitzt die, zunächst noch mit Susannes Großmutter, später allein, immer in der Kirche in der Nähe ihres Kindes und der Geschäftsfrau. Könnte ja sein wegen der Abstammung, dachte Susannes Mutter, dass man die Frau gezwungen hätte, das Kind zur Adoption freizugeben. Die Burkard-Gerda war sich Susannes nie sicher gewesen. Und ihre Angst hat sich noch verstärkt, weil es nicht gut ging zwischen ihr und Susanne. Aber der Tochter den Weg verstellen, das will die Mutter nun auch nicht. So hat sie vom Laden aus auf der Gersdorfer Post angerufen.

      Den Mittagszug von Karl-Marx-Stadt schafft Susanne nicht mehr. Der Abendzug fährt gegen 18.00 Uhr. Frolln Purgert, da müssn Se hin, sagt die junge Bürgermeisterin. Auch sie wandeln Gefühle von Besitzanspruch an. Aber manchmal wachsen die Menschen über sich hinaus, gerade, wenn Ereignisse sie überrumpeln, sie keine Zeit zum Überlegen, zum Berechnen haben, überraschen sie mit Großzügigkeit. Se kriegen den Dienstwagen!, sagt die Bürgermeisterin. Packn Se paar Sachn zusammen. Se wern schon irgendwie unterkomm, un wenn's im Wartesaal is! Da müssn Se hin! Susanne stürzt hinauf zu Oberlehrer Schulz. Der alte Oberlehrer ganz aufgeregt, seine liebe Frau ebenfalls ganz aufgeregt, schmiert Bemmen. Hach, wo wern Se bloß übernachtn, Frolln Purgert. Dasse uns bloß gesund wiederkomm! Un passn Se auf durch Westberlin! Verwandte in Westdeutschland haben Oberlehrer Schulzens eine sehr schlechte Meinung von Westberlin beigebracht. Hoch sei die Kriminalität. Und Susanne nachts unterwegs! Susanne fährt großartig mit Dienstwagen nach Karl-Marx-Stadt. Dann steht sie in der Nacht auf dem Berliner Ostbahnhof. Weil sie ein viechellanter Sachse ist, von vigilant im Französischen, weiß sie sich zu helfen, spricht den nächsten Bahner an, der ihr ein Schlafwagenhotel anempfiehlt, Warschauer Straße, über die Gleise, da stehen drei, vier Schlafwagen, Treppchen führen hinauf. Doppelkabine, Einzelkabine? Einzelkabine natürlich!

      Susanne kann bezahlen! Na, mer hams doch!, sagt der Sachse. Der Lärm des Güterverkehrs, Susanne schläft spät ein, wacht früh auf, noch bevor man sie weckt.

      Zum ersten Mal betritt Susanne den Vorführraum, in dem sie später so viele Filme sehen wird. Papa Rodenberg, Leiter der Fachrichtung Dramaturgie, begrüßt die Prüflinge. Es wird "Stärker als die Nacht" gezeigt, ein antifaschistischer Film. Machen Sie sich Notizen, sagt Papa Rodenberg. In einem anderen Haus schreiben Sie dann über das Thema dieses Films.

      Wer weiß nicht, was ein Thema ist? Stille. Doch Susanne will sichergehen, dass sie und die Prüfungskommission dieselbe Vorstellung von dem haben, was ein Thema ist, hebt die Hand.

      Daraufhin recken sich noch andere Hände. Aha!, sagt Papa Rodenberg. Schreiben Sie: Was geschieht warum! Die mündliche Prüfung in der berühmten Stalin-Villa. Die Anzahl der Prüflinge schon dezimiert. Einer, die kräuselnden Haare um zwei Zentimeter länger als üblich, und ein Vorderzahn fehlt ihm, kommt eine Stunde zu spät. Einfach so. Das macht Susanne auf ihn aufmerksam. Es ist Golzow. Ein Name, der in Nachwendezeiten gefragt bleibt. Jeweils zu dritt werden die Prüflinge gleichzeitig in den Saal gerufen. Papa Rodenberg attackiert eine Schnittmeisterin, deren Mann Regisseur ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie Dramaturgin werden wollen, sagt er. Um Ihrem Mann zu helfen, brauchen Sie kein Studium an der Filmhochschule! Einem jungen Mann ergeht es ebenfalls nicht gut. Ihm wird unterstellt, er hätte keine richtige Haltung. Man kann auch sagen Einstellung oder Standpunkt. Den Standpunkt der Arbeiterklasse hat man zu vertreten. Der Vorwurf, man täte dies nicht, schwer zu entkräften. An Susanne richtet man nur drei Fragen: Wie mahlt eine Arbeiterfrau den Kaffee? Susanne überlegt kurz. Sie zählt die Bohnen ab! Gut, sehr gut. Susanne scheint mit der Arbeiterklasse vertraut zu sein. Sie ist mit der Armut der Kriegs- und Nachkriegszeit vertraut. Aber die Antwort war auf jeden Fall richtig. Glück hat sie auch bei der zweiten Frage: Welches Buch würden Sie zur Verfilmung vorschlagen? Susanne nennt den Titel eines Buchs von Wolfgang Joho, einem zu jener Zeit anerkannten Autor. Auf dem Karl-Marx-Städter Bahnhof hat sie das Buch gerade gekauft. Noch niemand kennt den Titel. Das bringt ihr Pluspunkte ein. Sie erzählt die Geschichte, vier Menschenschicksale in der Nazizeit und kurz danach. Die Menschen, ihre Schicksale glaubhaft. Was interessiert Sie daran? Susanne pariert. Dann aus dem Hintergrund die Frage, die sie beinahe zu Fall bringt: Und gehen Sie auch mal tanzen? Susanne pariert wieder, wird mit einem Gelächter belohnt und nicht weiter befragt. Die eingereichten Erzählungen geben den Ausschlag, sie für das in diesem einen Jahr eingerichtete Fach Szenaristik, Drehbuchschreiben, anzunehmen. Es wird von ihr die Sage gehen als vom Wunderkind. Jedes neue Studienjahr belebt sich die Sage von einem Wunderkind, von der rührenden Hoffnung der Dozenten und Studenten genährt, ein Genie möchte unter ihnen sein. Der Stern erlischt spätestens, tritt im nächsten Jahr ein neues Wunderkind in Erscheinung. Die drei Prüflinge sind wieder draußen. Die Schnittmeisterin sagt böse zu Susanne: Na, Ihnen kann man ja gratulieren! Susanne fährt nach Gersdorf zurück. Am 17. Mai, das Datum vergisst sie nie, erhält sie ein Telegramm von ihrer Mutter: "Herzlichen Glückwunsch! Bist angenommen!" Oh, dann gehen Sie