Beate Morgenstern

Villa am Griebnitzsee


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sie nicht. Noch trägt sie ihren dicken Pferdeschwanz. Es gab noch keinen, für den es sich lohnte, ihn abzuschneiden. Anders als bei Carmela, die sich in Antonio verguckt hat und ihn nicht mehr in Ruhe lässt. Doch wäre Susanne für den Film zu allem bereit.

       "Ach, geht doch alle zum Teufel!", erwidert Carmela.

      Na ja, ich hab etwas übertrieben, sagt Susanne, schwächt ihr dringendes Anliegen ab. Es ist so, ich interessiere mich sehr für den Film. Ich hab in Babelsberg an der Filmhochschule eine Aufnahmeprüfung gemacht. Der Allgewaltige lacht los. Schön, sagt er. Abgelehnt, was? Durchgefallen? - Nö, nö, so war's nicht ganz! Susanne widerspricht. - Und wer ist dabei gewesen?, will Atze Brauner wissen. Es kann schon sein, dass er in Susanne ein Menschlein sieht, ganz am Anfang, wie er doch sicher auch einmal ganz am Anfang gewesen ist. Es kann auch sein, der Typus kommt ihm bekannt vor. Jedenfalls ist ER nicht abgeneigt. Die Namen, die Susanne nennt, sagen ihm nichts bis auf den des Defa-Regisseurs, der den "Thälmann"-Film gemacht hat. Kurt Maetzig. Ha!, macht er da. Und was treiben Sie?, fragt er. Ich bin in einer Bibliothek, einer wissenschaftlichen. Aber auf dem Absprung zur Wismut. Zum Volk. So sagt sie wörtlich. Damals schon der Hang zum Volk. Zur Kunst und zum Volk. Und ich drehe Amateurfilme und versuche, zum Studium zu kommen. - Na ja, sagt Atze Brauner. Ihr Abitur wird hier nicht anerkannt. Dann will ich dazusetzen, das Abitur macht es auch nicht, formuliert er eigenartig, wählt eine Nummer. Reden Sie mit unserem Chefdramaturgen! Da hat er schon den Chefdramaturgen am Apparat. Ja, hier ist ein Fräulein Burkard!, sagt er. Und wie er Susannes Nachnamen nennt, fällt das weich rollende R besonders auf. Zeigen Sie ihr mal, reden Sie mit ihr, trinken Sie eine Tasse Kaffee auf Kosten des Hauses! Susanne bedankt sich. Na, sagt er, verhalten Sie sich so, dass ich mir den Namen Burkard merken muss! Einschmeichelnd wieder das weich rollende R.

      Selig kehrt Carmela heim in den bergigen Garten ihres Vaters. Antonio hat Arbeit. Er wird einen Omnibus chauffieren. Gerade war am Bahnhof die Einweihungsfeier, der Priester segnete den Bus. Der Vater erfährt, wo Carmela war. "Wenn du geklaut hast, bekommst du eine Ohrfeige, dass du die Engel singen hörst", sagt er. Carmela wendet dem Vater die Wange zu. "Papa, lass sie singen", bittet sie, bekommt eine derbe Ohrfeige, verzieht die Nase, hält sich die Hand an die Nase und fängt im Garten des Vaters herrlich an zu singen.

      Man weist Susanne den Weg zu einer Baracke. Der Chefdramaturg spricht die Sprache der Intellektuellen, weshalb Susanne sich fürchtet. Doch schnell stellt er sich auf Susanne ein. Wie finden Sie denn die Defa-Filme?, fragt er. Ja, sagt Susanne, die Frühen! Nennt Titel. Als ersten "Die Mörder sind unter uns". Den hat Staudte gedreht! Der Chefdramaturg lächelt. Und weiter? "Ehe im Schatten", "Die blauen Schwerter", noch einen Titel. Der Hauptdarsteller ein Westdeutscher!, erwidert der Chefdramaturg. Susanne wird böse. "Vergesst mir meine Traudl nicht", "Die Buntkarierten". Bald weiß sie nicht mehr weiter. Bis zum Mauerbau spielen die Schauspieler wahlweise im Osten und im Westen, danach nur in Ausnahmen.

      Der Chefdramaturg fragt nach internationalen Filmen. Susanne spricht von Produktionen mit Gerard Philipe.

       "Meine erste Hinrichtung, der ich beiwohne! Muss man alles mal erlebt haben. "Rittersporn zeigt sich weniger wissbegierig als sein Freund Fanfan: "Meine arme Frau! Sie hat behauptet, sie stirbt vor mir. Alles Schwindel." - "Wer zuerst drüben ist, wartet auf den anderen!" - "Ja, bis gleich!" Der Ast, vorsorglich angesägt, um ein "Gottesurteil" und damit eine Begnadigung zu ermöglichen, bricht. Die Freunde landen auf dem Boden. Noch begreifen sie nicht. "Hach, schon vorbei?", wundert sich Rittersporn. Fanfan sieht verdutzt auf seinen Freund, glaubte nicht, ihn so schnell im Jenseits wiederzutreffen. "Du auch schon da?"

      Vorfreude hält länger, sagt man, also kann sich Susanne lange freuen, von einer Stelle des Films auf die nächste und immer so weiter, denn viele Male rannte sie, um Gerard Philipe in der Rolle des Fanfans von der Tulpe im Karl-Marx-Städter Kino anzuschauen.

      Susanne nennt Produktionen von Visconti, andere Filme, die in Karl-Marx-Stadt liefen, deren man sich nicht zu schämen brauchte. Na ja, sagt der Chefdramaturg, einverstanden mit Susannes Beurteilung. Sieht nicht übel aus. Und Sie haben sich für Regie beworben? Bei uns würden Sie höchstens als Regieassistentin eingesetzt. Auch bei Ihnen! Und dann müssen Sie wissen, wir arbeiten ganz anders als drüben bei Ihnen oder im sowjetischen Film. Ich bin für die gesamte Produktion von CCC zuständig und habe einen einzigen Mitarbeiter. Außerdem ist der Bereich, in dem sich ein Dramaturg bewegt, sehr schmal. Die eigentliche Beziehung ist die Autor-Produzent. Und wie sieht es mit Ihrem Studium aus?

      Susanne berichtet von den vielen Ablehnungen bei verschiedenen Hochschulen, Universitäten, die sie sich nicht erklären kann. Vielleicht hängen sie mit dem Makel zusammen, der Deportation ihres Vaters. Ein Studium muss sein, sagt der Chefdramaturg. Sie müssten nach Westberlin, als Werkstudentin Theaterwissenschaft, Germanistik studieren. Und wenn Sie den besten Abschluss haben, kommen Sie noch lange nicht beim Film, beim Theater unter. Im Übrigen täuschen Sie sich nicht: Unser Beruf ist trocken. Sie scheinen mir nicht der Typ zu sein! Susanne gibt keinen Ton mehr von sich. Der Chefdramaturg fragt nach ihrer Familie.

       "Ach, hier bist du also?", staunt Carmela, als sie Antonio "zufällig" im Haus seiner Familie trifft." "Ja, und der Papst ist in Rom", antwortet Antonio.

      Aber gutes Kind, Herr Brauner würde Ihnen Arbeit geben! Wenn er Sie in irgendeiner Richtung für begabt hält, gibt er Ihnen eine Chance! Aber ein Studium muss sein, eine Grundlage! Das wird zukünftig in der DDR nicht anders sein! Und Sie sind nicht in der Partei, keine linientreue Genossin! Der Chefdramaturg gibt ihr den Rat, sich an die zuständige Abteilung beim Senator für Kultur zu wenden. Sie können sich gern wieder melden, sagt er zum Abschied. Susannes Beine tragen sie kaum noch. Wie ferngesteuert gelangt sie in die Senatsabteilung, ist in einen Paternoster hinein- und wieder herausgesprungen. Die Vorzimmerdame gibt Susanne einen Begriff von Abstand zwischen westlicher und östlicher Welt. Susanne ist niemand, gar niemand.

       Carmela verzweifelt, bleich, nass die schwarzen Haare. In ihrem Eifer, ihrer Eifersucht hat sie Antonio wieder um eine Arbeit gebracht. "Wie du wieder aussiehst", sagt die Mutter. - "Lass mich sterben. Ich will sterben, ich will an Schwindsucht sterben. Was bist du überhaupt. Bist du noch meine Mutter? Immer, wenn ich ein gutes Wort brauche, hast du nichts weiter zu sagen als setz dich hin, benimm dich anständig!"

      Susanne hat gar nichts zu melden, nichts zu fragen, ist am Ende ihrer Nerven. Sie heult.

      Von den Tränen der fast Gleichaltrigen ergriffen, fragt eine zweite junge Dame: Könnten wir nicht Herrn Sowieso um ein Gespräch bitten? Sie wird von der Vorgesetzten angefahren. Da schreitet jener besagte Herr durch den Raum, elegant vom Scheitel bis zur Sohle, halbe Brille, die an der Kette hängt, ganz unüblich in jenen Zeiten, mit Stockschirm. Schon will er die gepolsterte Tür zu seinem Zimmer öffnen, als er stutzt, sich zur heulenden Susanne wendet: Kommen Sie mal mit! Die junge Dame freut sich, Susanne bemerkt es noch, bemerkt auch, wie sie ihre Freude schnell verbirgt vor jener anderen. Susanne setzt sich, fasst sich. Aha, aha, sagt der Geschniegelte-Gebügelte, da waren Sie beim Herrn Brauner und kommen vom Chefdramaturgen Sowieso. Er wird sehr menschlich und wiederholt das, was schon der Chefdramaturg sagte: Ohne Ausbildung geht es nicht! Hüben und drüben nicht. Auch bei Ihnen wird in Zukunft profundes Wissen verlangt werden! Ich könnte dem Herrn Senator vorschlagen, einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren. Aber ich bin sicher, er wird Ihnen dasselbe sagen. Und dann sagt der Beamte etwas Erstaunliches: Sind Sie überhaupt sicher, ob Sie hierher wollen? Schließlich haben Sie sich an Ihrer Filmhochschule beworben! Die schlechten Zeiten drüben in der Zone können noch schlechter werden, vielleicht müssen Sie dann einfach gehen. Doch jetzt?! Den Sprung einfach so zu machen, ohne gezwungen zu sein, da müssen Sie sich schon fragen, ob Sie das wollen, in welche Welt Sie wirklich wollen! Und überlegen Sie sich, ob Sie gesundheitlich ein Studium als Werkstudentin durchhalten! Susanne ist erschöpft, der Beamte bemerkt es wohl. Es ist kein gutes Zeichen, erschöpft zu sein, gleichgültig, wie lange sie schon auf den Beinen ist. Überlegen Sie es sich wirklich gut!, sagt der Senatsbeamte. Und wenn Sie sich entscheiden, im Osten zu bleiben, rate ich Ihnen, lassen Sie sich nicht oft bei uns sehen!

      Susanne setzt ihre Erkundungen fort. Carmela lächelt wieder, steigt unverdrossen ihrem Antonio nach. In einer Seitenstraße des Ku'damm entdeckt Susanne das Büro von Radio London, ein Schild weist auf die BBC