Beate Morgenstern

Villa am Griebnitzsee


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mehr los, als könnte der helfen: ein schwarzer Lockenkopf, das Gesicht kastenförmig, etwas eingedrückt, Narbe an der Oberlippe, noch trägt er nicht den Bart. Konny Wolf, Sohn des Friedrich Wolf, des Stuttgarter Arztes und Autors von "Zyankali". Konny Wolf lächelt. Na, den kennen Sie wohl?, fragt der Professor. Ja, antwortet Susanne. Aber ich kenne auch andere. Sie nennt viele beim Namen. Warum haben Sie gerade auf Konrad Wolf geschaut?, fragt der Professor. - Na, ich hab grad seinen Film gesehen. - Und wie finden Sie ihn? - Herr Professor Hellberg, soll ich ihn vielleicht gut finden?, erkundigt sich Susanne. Gelächter. Susanne kann gehen, braucht zu den anderen Prüfungen nicht zu erscheinen. Noch sind Sie zu jung, sagte der Professor. Aber ich glaube, für den Kinderfilm wären Sie geeignet.

      Sie geht hinaus auf die Diele der Stalin-Villa, wo die Prüflinge stehen, unschlüssig, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollen. Kommt, Kinder, wir gehen zur "Kurbel", sagt einer der Mitbewerber. Die "Kurbel", ein Panorama-Kino, interessiert Susanne nicht. Drei Gruppen bilden sich. Die einen wollen aus Prinzip nicht nach Westberlin, die anderen gehen zur "Kurbel". Die Dritten zum Potsdamer Platz. Als Susanne mit der Kellerbahn fährt, überkommt sie eine starke Erinnerung an Krieg. Elf Jahre zuvor ertranken die Menschen in den unter Wasser stehenden U-Bahn-Schächten. Die Treppe hinauf, dann hat man es geschafft, erklärt der Junge, der die Gruppe führt, gibt Anweisungen für die Kontrolle. Schauer rinnen Susanne den Rücken entlang, bis sie oben ist.

      Chaplin-Hynkel, Hände auf dem Rücken, kratzt sich den Hintern, spricht zu seinem toumainischen Volk: Das-wiener-schnitzel-mitdielagewerden-und-die sauerkraut - eh - die flutensack-da-fletten- Tomainia-sein-und-schtraff-und-schtraff. Hynkel fängt an zu husten, hustet seine Rede weiter. Dem-traps-mit-dieselben-sack ... schtraffein ... schtraffein ... schtraff.

      Der Potsdamer Platz eine Trümmerlandschaft, freie Fläche. Weniges stehen geblieben. In den Häuserruinen unten einige Geschäfte, vollgestopft die Schaufenster mit Schmuck, Zigaretten. Jauchzet, frohlocket! Im Hof eines großen Hauses zwei Kinos. Wild gemalte Kinotafeln locken. An das Haus schließt sich ein Markt an, die Stände überdacht. Ein Markt für Ostler. Billige Pullover, Flanellhosen, James-Dean-Jacken, Blockschokolade, Pfirsiche, Apfelsinen, Bananen, Weintrauben. Einen Pfirsich will Susanne, eine Schachtel Zigaretten. Der Anführer geht mit den Prüflingen in die Wechselstube der Commerzbank, zurück auf den Markt und dann ins Kino. 25 Pfennige für Ostler. Zwei Filme spielen die zwei Kinos an einem Tag. Vier Filme könnte man sich ansehen! Eine Dame öffnet die Türen. Ein Gestank wie im Zoo. Menschen strömen beglückt heraus. Eine Einlassdame eilt durch den Saal mit einem Zerstäuber, versprüht Duft, süß, chemisch, ein Meer von Blumen, aus Westpaketen bekannt. Damen gehen mit Bauchläden wie in Ufa-Filmen durch die Reihen, bieten Bonbons, Knabberzeug und Eis an. Susanne ist vom Wunderland betrunken, ehe der Film anfängt. Mit dem Film haben sie einen guten Griff getan. "Rififi", ein harter Krimi. Vor Glück schwankend, folgt Susanne den anderen zum Ausgang. Für 25 Pfennige kann ich so was sehen!, denkt sie. Mensch, ich trau mich!, sagt einer. Ich kauf ne Zeitung. Er kauft sich eine Filmzeitschrift. Die nun vier Mark. Westmark. Susanne kann sich nicht beherrschen, tut es ihm nach. Sie probieren, wie sie die Zeitschrift durch die Kontrolle bringen. Susanne steckt sie zwischen Achsel und Hosenbund.

      Eine Polizistin kommt auf sie zu. Was haben Sie hier getan? Im Kino waren wir, will Susanne sagen, wird angestoßen. Der Anführer antwortet. Wir haben uns mal umgeschaut. - Und nichts gekauft?! - Der Junge macht seine Lederoltasche auf, Papierchen, Zettel für die Aufnahmeprüfung. Das interessiert mich doch alles!, sagt der Junge. Ich will doch wissen, wie die hier leben. Die Polizistin schaut böse. Er lenkt ein. Ich komm doch von so nem Kuhkaff. Ich muss doch meinen Leuten erzählen, was das für ein Zeug ist. Doch dann geht der Junge zu weit. Dauernd sind sie in den Schulen auf Exkursionen, besichtigen dieses und jenes, werden wissenschaftlich gebildet. Wir sind nämlich auf ner Exkursion, sagt er. - Die anderen auch? - Ja, von der Schule aus. Wieso?! Von welcher Schule? Eine Schieberin lenkt die Polizistin ab. Der Trupp rast die Treppe hinunter. Im vollen Berufsverkehr sind sie sicher. Susanne steigt Ostbahnhof in ihren Zug, hat eine Fahrt von sechs Stunden nach Karl-Marx-Stadt und weiter nach Euba vor sich. Sitzt auf einer harten Holzbank, will schon die Zeitung herausnehmen, da stößt sie ein Mann an: bloß nicht! Es kommen gleich noch mal Kontrollen. - Jaja, sagt eine Frau gegenüber. Und noch mal in Schönefeld. Die Trapo, die Transportpolizei, macht nur Stichproben, in ihrem Abteil nicht. In Schönefeld steigen viele Menschen zu. Noch mal Kontrollen. Susanne will zur Toilette, um die Zeitschrift in der Tasche zu verstauen. Lange Schlangen vor der Toilette. Und die dann voller Kot, eine Schweinerei, was sie sonst nicht kennt. Sie glättet die Zeitschrift, die kostbare, sieht im fürchterlichen Gestank das Antlitz von Ruth Leuwerick, der Lollo, von Kirk Douglas. Monty Clift, ganzseitig abgebildet.

      Auf einer Landstraße von Nevada steht Monty, telefoniert: Hallo, Mutter. .. es war ein prima Rodeo ... Eigentlich wollte ich dir was Hübsches zum Geburtstag kaufen, aber ich bin aus meinen Stiefeln raus gewachsen ... Nein, nein, Mutter, seitdem wir uns das letzte Mal gesprochen haben, war ich nicht im Krankenhaus. Ich hab mir ein paar Stiefel gekauft ... Stell dir vor, außer dem Geldpreis hab ich noch ne hübsche Schnalle gewonnen ... ein bockendes Pferd ist drauf und mein voller Name ist darunter silbern eingraviert ... Nein, nein, mein Gesicht ist wieder in Ordnung, alles ist abgeheilt. Es ist so gut wie neu ... Ach Mutter, du bist mit dem Mann verheiratet, nicht ich ... Hör zu, hör zu, vielleicht ruf ich dich am Weihnachtsabend an. Okay. Hallo, Hallo ... Gott schütze dich auch!

      In der Nacht kommt Susanne in Euba an. Am Morgen nimmt sie kurz vor sechs den Zug wieder nach Karl-Marx-Stadt. Wenn bloß Abend ist, denkt sie den ganzen Tag. Dann ist es Abend, sie geht ins Bett, schaut und ist von nun an mit Hollywood und der ganzen Filmwelt verbunden. Denn Autogrammadressen sind vermerkt von Marlon Brando, Marlene Dietrich, Grete Weiser, Horst Buchholz.

      Ende August bekommt Susanne eine Absage von der Filmhochschule. Der Professor hat ihr eine Bemerkung an den Rand einer Seite geschrieben: Bewerben Sie sich in einigen Jahren noch einmal, wenn Sie älter geworden sind! Daran hält sich Susanne, während sie in der wissenschaftlichen Bibliothek der Technischen Hochschule von Karl-Marx-Stadt festsitzt. Der Staub lagert sich auf den Büchern ab, sie mutmaßt, auf Dauer von Jahrzenten auch im Gehirn. Zwei gleichförmige Jahre. Susanne im Lesesaal zur Ausleihe oder an der Schreibmaschine, um Karteikarten anzulegen. Für jedes neue Buch soundso viel Karten. Frauen gehen ächzend mit ihren Bücherkarren, die sie von hier nach da schieben. Und nichts geschieht, rein gar nichts. Das Schlimmste, was Susanne im Leben passieren kann. Immerhin macht sie sich die Dienste der Bibliothek zunutze, bestellt über Fernleihe aus den USA Bücher über den Film. Die Bibliothek wundert sich über hohe Portokosten. Susanne bestellt sich das "International Film Annual" von einem englischen Verlag. Es wird ihr geschickt. Sie behält das Buch. Die Rechnung, zwei Pfund, kann sie nicht bezahlen, wie auch! Abends kann sie blättern, sich aus ihrer kleinen Welt entfernen in die große.

      Einmal begibt sich in der Bibliothek ein mittleres Ereignis. Die Mitarbeiter erhalten eine Einladung zu einer Veranstaltung in der alten Mensa. Studenten, die sonst stumm hinter den Büchern hocken, ganz der Wissenschaft hingegeben, sind plötzlich ganz anders, nämlich normal. Ein Lachen, ein Reden. Und dann: Was will der uns erzählen! Gemeint ist Kurt Hager, vom Politbüro des ZK für Kultur zuständig, im Jahre 58 und bis zum Jahre 89, wo er immerhin schneller als andere seiner Alters- und Politbürogenossen die Wende begreift.

       Zum Tanz aufgefordert von der Königstochter von Tahiti, ruckt, zuckt der Kapitän der "Bounty", der hagere, ehrgeizige Mann, wie ein Hampelmann zappelt er mit Armen und Beinen, immer schnel ler, zackiger. Da erscheint sein Gärtner. Die Brotfrucht, deretwegen die "Bounty" nach Tahiti entsendet wurde, ist eingegangen. Christian Fletcher-Brando, Offizier der Bounty, unendlich gelangweilt, dekadent, betrachtet die Pflanze. "Sie sieht ein bisschen deprimiert aus!", meint er. "Sie haben das Menschenmögliche getan, nur bedrückt mich, dass die Admiralität sich meiner Auffassung nicht anschließen wird"

      Herr Hager referiert. Die Studenten machen deutliche Handbewegungen, gähnen sich an. Das Referat endet. Stille. Keine Hand regt sich. Dann steht doch jemand auf, spricht dem Mitglied des Politbüros für die wichtigen und wegweisenden Worte seinen Dank aus. Die Studenten murren.

      In der Oberschulzeit war Susanne noch die sowjetische Wissenschaft bahnbrechend,