Rotraut Mielke

WIndstärke 4 mit leichter Dünung


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konnten sie ja am nächsten Abend die Plätze wechseln, so dass sie auch einmal in den Genuss kam, dem Ballett der Kellner zuzusehen.

      Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum, um wenigstens einen kurzen Blick auf den Raum werfen zu können. Viele Tische waren inzwischen besetzt, Petra hatte durchaus Recht gehabt mir ihrer Eile.

      Da spürte sie eine Bewegung neben sich. Ein Kellner schenkte ihr Weinglas voll, während sich ein zweiter von der anderen Seite näherte. In der Hand hielt er eine Art Handy bereit und wollte offensichtlich ihre Bestellung entgegennehmen. Vor lauter Schauen und Staunen hatte sie noch nichts ausgewählt. Petra diktierte dem Mann, der eifrig auf seinem Handy herumtippte. Dann schaute er Gerlinde fragend an.

      „Für mich dasselbe bitte“, murmelte sie der Einfachheit halber. Wieder markierte er auf seinem Gerät die einzelnen Posten und verschwand dann.

      Sofort hob Petra ihr Glas. „Prost! Auf einen schönen Urlaub!“

      Der Wein war angenehm kühl, nicht zu trocken und gefährlich süffig.

      „Hab ich doch gut gemacht, oder?“ Petra forderte das Lob ein, das ihr sicher auch zustand. Ihr war es schließlich zu verdanken, dass sie hier saßen. Dieses tolle Schiff, die Aussicht auf ein fünfgängiges Abendessen in luxuriöser Umgebung, Gerlinde schüttelte den Kopf. Ach Henry, dachte sie und wusste selbst nicht, ob sie traurig darüber war, dass er das nicht mehr erleben konnte. Oder ob die Freude überwog, weil sie selbst alles genießen konnte, was ihr so überreich geboten wurde.

      Verstohlen warf sie einen Blick auf den Nachbartisch, an dem ein älteres Paar saß. Die Art, wie sie sich anschwiegen, zeugte von einer langen Ehe und großer Vertrautheit. Ein Kloß setzte sich in ihrer Kehle fest, den sie tapfer mit einem weiteren Schluck Wein hinunterspülte. Sentimentalität nützte keinem was, und sie wollte sich doch nicht selbst diesen tollen Abend verderben.

      Aber Moment mal, die Gäste kannte sie doch! Ja genau, die beiden hatte sie beim Einschiffen an der Rezeption gesehen. Das feuerrote Haar der Frau schimmerte im weichen Licht. Auch jetzt war sie wieder sehr extravagant gekleidet. Sie trug ein langes Kleid in changierenden Grüntönen. Über ihren Schultern lag eine dunkelblaue Stola mit langen Fransen. Sehr aufrecht saß sie am Tisch, hob ihr Glas und prostete ihrem Mann zu. Die Blicke, die sie austauschten, waren so intensiv, dass es Gerlinde ganz warm wurde. Verlegen schaute sie weg.

      Der Kellner ordnete das benötigte Besteck entsprechend den von den Damen gewählten Gängen. Und dann ging es los. Wie im Schlaraffenland wurden die Speisen auf den Tisch gebracht, in zügigem Ablauf, aber doch nicht so schnell, dass man sich gehetzt fühlte. Wie schafften es die Kellner bloß, den Überblick zu behalten? Fasziniert beobachtete Gerlinde, dass auch an einem Vierertisch allen Personen gleichzeitig der nächste Gang serviert wurde.

      „Die Küche ist hier unten drunter. Und es gibt eine Rolltreppe für die Kellner, damit es schneller geht“, berichtete Petra. „Hab ich neulich im Fernsehen gesehen, da gab es eine Doku über das Schiff.“

      „Ach komm!“ Gerlinde war nicht sicher, ob ihr die Freundin nicht einen gewaltigen Bären aufbinden wollte. Eine Rolltreppe, das wurde ja immer toller! Sie linste zu einer Tür, die sich automatisch öffnete und schloss, und immer wieder Kellner mit einer neuen Ladung hübsch dekorierter Teller ausspie. Aber es war unmöglich zu sehen, was sich dahinter verbarg.

      „Schnapsi-Taxi!“, tönte es durch den Raum. Ein Servierwagen, der unter der Last der Flaschen und Gläser fast zusammenbrach, wurde von zwei offensichtlich blendend gelaunten Kellnern vorbeigeschoben. Sie lachten und scherzten mit den Gästen, hielten an, um etwas auszuschenken, und fuhren dann weiter zum nächsten Tisch. Als sie bei dem älteren Paar am Nachbartisch angelangt waren, schaute Gerlinde neugierig hinüber. Die zwei waren mit dem Essen fertig und genossen gerade die letzten Schlucke Wein aus ihren Gläsern. Die redseligen Kellner schienen von der außergewöhnlichen Frau völlig fasziniert zu sein.

      „Ein kleiner Cognac für Madam?“, fragte der eine und hielt einladend eine Flasche hoch.

      Die Frau zuckte zusammen, offenbar hatte sie die beiden mit ihrem Wagen vorher nicht bemerkt. Sie schaute hilfesuchend zu ihrem Mann. Der sprang auf und stellte sich zwischen sie und die beiden Kellner, als gelte es, sie mit seinem Leben zu verteidigen. „Nein, wir möchten nichts. Lassen Sie uns in Ruhe!“ Er versuchte, den einen Kellner wegzuschieben.

      Das eben noch lächelnde Gesicht des Asiaten wurde besorgt. „Nein, nein“, wehrte er ab. „Ich wollte doch nur…“ Hilflos brach er ab und zuckte mit den Schultern. Dann sagte er etwas zu seinem Kollegen, und gemeinsam schoben sie ihren Wagen weiter zum Tisch von Gerlinde und Petra. Auch die beiden waren inzwischen mit dem Essen fertig und bei einem Espresso angelangt.

      „Magst du was zur Verdauung?“, fragte Petra.

      Gerlinde schüttelte den Kopf. „Ich platze gleich. Das war viel zu viel. Und dann auch noch abends. Morgen muss ich mir das besser einteilen.“

      Petra zuckte mit den Schultern. „Ich nehm‘ alles mit, was reingeht. Hab das ja schließlich auch bezahlt. Abnehmen kann ich zu Hause. Du kannst dir das ja sowieso leisten, so dünn, wie du bist“, fügte sie mit vorwurfsvollem Unterton hinzu.

      „Dafür kann ich doch nichts“, verteidigte sich Gerlinde, aber Petra war mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Sie zog das Tagesprogramm aus ihrer Tasche und studierte es eingehend. Dann checkte sie ihre Armbanduhr.

      „Wir haben eine halbe Stunde Zeit bis zur Farewellparty. Das reicht zum Frischmachen.“ Sie stand auf und schaute Gerlinde auffordernd an. „Wollen wir?“

      Der Rückweg zur Kabine kam Gerlinde bereits vage bekannt vor, auch wenn sie sich noch nicht zugetraut hätte, sich alleine im Gewirr der Decks und Gänge zurechtzufinden. Nach der Geräuschkulisse im Restaurant war die Ruhe in der Kabine eine Wohltat.

      „Aha, die waren schon da“, bemerkte Petra.

      „Wer?“ Aber gleich darauf entdeckte Gerlinde, dass die Betten aufgedeckt waren. Auf jedem Kopfkissen lag eine hübsch eingewickelte Praline als Betthupferl. „Ach, wie nett!“, sagte sie total überwältigt. Man kam sich hier wirklich vor wie in einem Luxushotel, die vielen Aufmerksamkeiten, die Freundlichkeit des Personals und überhaupt: die tolle Umgebung – nie hätte sie das erwartet.

      Vorsichtig setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes, während Petra im Bad verschwand. „Dauert nur eine Minute!“

      Am Fußende lag ein Blatt Papier, es war das Programm für morgen. Du meine Güte, das ging ja schon morgens um sieben los mit Frühgymnastik. Und davor gab es sogar ein ,Frühstück für Frühaufsteher‘. Sie hatte sich vorgenommen, in aller Ruhe durch das Schiff zu schlendern und alles genau in Augenschein zu nehmen. Aber ihr schwante, dass Petra so viele Programmpunkte wie möglich abarbeiten wollte. Es war aber auch sagenhaft, was so alles geboten wurde. Am Vormittag gab es einen Vortrag über die Kanaren. Gleichzeitig aber auch einen Malkurs. Die Boutiquen hatten geöffnet und boten Sonderangebote an. Um elf Uhr konnte man bei einem Auftritt des bordeigenen Balletts einen Cocktail auf dem Sonnendeck genießen. Und so ging es weiter bis zum späten Abend. Uff, das wird ein Arbeitsurlaub, dachte sie, innerlich seufzend. Und Petra schien einen schier unerschöpflichen Vorrat an Energie zu besitzen. Sehnsüchtig schaute sie auf das Kopfkissen, das einladend weich vor ihr lag. Aber es nützte nichts, Petra schoss schon wieder aus dem Bad heraus. „Zieh dir was Warmes über, auf dem Sonnendeck wird es kühl sein“, riet sie und riss schwungvoll die Tür des Kleiderschranks auf.

      „Ich würde lieber hier bleiben“, wagte Gerlinde einen zaghaften Vorstoß.

      Petra drehte sich zu ihr um. „Du willst doch nicht etwa die Farewellparty verpassen? Das kommt überhaupt nicht infrage.“

      Aber Gerlindes Gesicht zeigte deutliche Spuren von Müdigkeit, die selbst Petra nicht übersehen konnte. „Wir trinken einen Sekt und bleiben eine halbe Stunde, okay?“, schlug sie vor. Gerlinde nickte ergeben.

      Gemeinsam stemmten sie sich gegen die Tür, die zum Außendeck führte, und bekamen sie nur mit viel Mühe auf. Sofort blies ihnen