Rotraut Mielke

WIndstärke 4 mit leichter Dünung


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enttäuscht.

      Sie kam hinterher und schaute sich um. Na, wirklich groß war die Kabine nicht, aber sie würden schon zurechtkommen.

      „Das ist ja winzig. Hier haben wir keinen Platz.“ Daniel hatte sich blitzschnell seine Meinung gebildet und war schon wieder auf dem Rückzug, der allerdings von Felix gestoppt wurde. An Trolley und Klamotten kam selbst ein schmächtiger Junge nicht vorbei.

      „Hiergeblieben. Auf einem Schiff hat man nicht viel Platz, das ist nun mal so.“ Der Mann versuchte, dem Kind die Sachlage mit Vernunft beizubringen.

      „Aber es gibt nur zwei Betten“, stellte Daniel fest, womit er Recht hatte. „Ausziehcouch“, schnaufte Felix, dem allmählich der Geduldsfaden riss. „Und jetzt mach mal Platz, damit ich die Sachen abstellen kann. Meine Arme schleifen schon auf dem Boden.“

      Der Junge lachte bei dieser Vorstellung und warf sich mit Karacho auf das Bett, das näher am Fenster stand. „Das ist meins“, verkündete er.

      Felix ließ den Jackenberg auf das andere Bett fallen und stellte den Trolley in den schmalen Gang dazwischen.

      Endlich hatte auch Ursel eine Chance, ihr Gepäck loszuwerden. Sie reichte Daniel seinen Rucksack. „Was hast du da eigentlich alles mitgenommen? Es ist das reinste Wunder, dass sie uns mit diesem Handgepäck in den Flieger gelassen haben.“

      Der Junge zuckte mit den Schultern. „Meine Sachen. Die brauche ich alle.“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

      „Hübsch“, stellte Ursel nach einem Rundblick fest. „Schöne, große Fenster.“

      Das brachte Daniel gleich auf die nächste Idee. Er sprang auf und suchte nach einem Griff, um ein Fenster zu öffnen. Aber da war nichts. Verwirrt schaute er sich nach seiner Oma um.

      „Hier gibt’s Klimaanlage, die Fenster gehen nicht auf.“ Im Tonfall von Felix lag eine deutliche Warnung, dass sein Geduldsfaden kurz vor dem Reißen war.

      „Wieso haben wir keinen Balkon?“, wollte Daniel wissen.

      „Weil wir sehr spät gebucht haben. Und weil wir da auch noch nicht wussten, dass du mitkommst“, kam es prompt zurück.

      Ursel warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu. Es hatte sie viel Überredungskunst gekostet, bis der Enkel schließlich mitfahren durfte. Mit Job und Haushalt und dazu diesem hyperaktiven Kind war ihre Tochter bis zum Anschlag gefordert, und eine Auszeit während der Ferien wäre eigentlich dringend nötig gewesen. Aber ihr Urlaub war kurzfristig wegen eines dringenden Projekts gestrichen worden. Und so wäre tagsüber niemand da gewesen, der auf das Kind hätte aufpassen können. Dass sich das alles erst im letzten Moment herausgestellt hatte, war natürlich sehr unglücklich.

      Andere Großeltern wären begeistert, wenn sie mit ihren Enkeln verreisen könnten. So zumindest hatte Ursel es ihrem Felix ‚verkauft‘. Und es würde sicherlich der zarten Kinderseele schaden, wenn er erfuhr, dass man für ihn einfach einen Aufbewahrungsort gesucht hatte wie für ein unzustellbares Postpaket.

      Stirnrunzelnd betrachtete sie die Couch, die zu einem Bett ausgezogen werden konnte. Felix würde ganz sicher nicht darauf schlafen wollen, also musste sie wohl in den sauren Apfel beißen. Denn ihr Liebling von Enkel hatte ja bereits seine Wahl getroffen, was die Schlafstätte betraf. Sie ließ sich auf die Couch plumpsen. Schon diese Anreise hatte sie völlig geschafft, und wenn sie ehrlich war, grauste es ihr, zwei ganze Wochen lang Daniel im Schlepptau zu haben. Nicht, dass sie ihn nicht lieb hatte, er war nur so… wie ein Gummiball, der einfach nicht zu bändigen war. Wenn sie an ihre eigene Kindheit dachte, sie wäre froh und glücklich gewesen über solch eine Kreuzfahrt und hätte mit der kleinsten Ecke vorliebgenommen. Nun ja, die Zeiten hatten sich geändert.

      ***

      „Bitte begeben Sie sich zu Ihren Sammelstationen.“

      Die Stimme aus dem Lautsprecher hatte einen beruhigenden Tonfall, als wolle sie jede aufkommende Panik schon im Keim ersticken. Gerlinde und Petra hatten ihre Rettungswesten angelegt und schoben sich nacheinander aus der plötzlich ziemlich engen Kabinentür.

      „Das ist aber auch ein steifes Ding“, beschwerte sich Petra. „Da hätten die sich ruhig was Bequemeres einfallen lassen können.“

      Gerlinde hörte nicht hin, sie hatte mit sich selbst genug zu tun. Seit der Alarmton losgegangen war, befand sie sich im Ausnahmezustand. Es war wie eine Art Tunnel, der sie direkt und unmittelbar zu einem Katastrophenszenario führte. Wie würde es sein, wenn das keine Übung wäre? Wenn tatsächlich das Schiff zu sinken drohte und sie sich jetzt auf den Weg zu ihrem Rettungsboot machten? Ein Schauder überlief sie. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, eine Kreuzfahrt zu machen? Ertrinken war sicher kein schöner Tod. Sie stellte sich vor, wie das salzig-bittere Wasser in ihren Mund schwappte. Ein paarmal würde sie es noch ausspucken, so lange, wie ihre Kräfte das zuließen. Aber irgendwann würde sie unweigerlich in die schwarze, kalte Tiefe hinabgleiten.

      Sie zuckte zusammen, als jemand eine Hand auf ihren Rücken legte. „Bitte gehen Sie weiter, Madam.“

      Das asiatisches Gesicht vor ihr war ernst und konzentriert. Mittlerweile waren sie im Treppenhaus angekommen. Hier stand ein ganzes Spalier von Leuten in orangeroten Warnwesten, die die Passagiere in die richtige Richtung dirigierten. Niemand lächelte. War das tatsächlich nur eine Übung? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Aber dann fiel ihr ein, dass sie ja noch vertäut im Hafen lagen, und sie kam sich sehr dumm vor. Gut, dass Petra nichts von ihrer Hysterie mitbekommen hatte.

      Reihe um Reihe füllte sich das Theater mit grellrot bewesteten Passagieren. Das ganz in Weiß gekleidete Personal stach heraus wie Markklößchen in einer Tomatensuppe. Gerlinde schaute sich um. Du meine Güte, es war unfassbar, dass diese Menschenmassen alle auf dem Schiff wohnten. Und dies hier war ja nur eine Musterstation von mehreren, an denen man sich jetzt zeitgleich versammelte.

      Aufmerksam lauschte sie den Erläuterungen, die von einem Tonband kamen. Frauen und Kinder zuerst, das galt wohl immer noch in der Seefahrt. Aber sie mochte sich nicht vorstellen, wie es im Ernstfall zugehen würde. Wahrscheinlich würde sie von diesem übergewichtigen Typ, der in der Reihe vor ihr saß und fast anderthalb Sitze einnahm, einfach niedergetrampelt werden.

      Petra, die neben ihr saß, seufzte vernehmlich. „Hoffentlich ist das hier bald zu Ende. Ich hatte gehofft, dass wir vor dem Essen noch Zeit für einen Aperitif haben.“

      „Aber wir müssen doch nicht um Punkt achtzehn Uhr im Restaurant sein.“ Gerlinde fand es sehr angenehm, ihre Essenszeit selbst wählen zu können.

      Petra warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Ach du Unschuldslämmchen! Wenn du später kommst, sind die besten Tische weg. Was glaubst du denn? Die Hardcoreleute stehen schon zehn Minuten früher an, nur damit sie ihren Stammplatz ergattern. Das ist wie früher beim Sommerschlussverkauf vor dem Hertie.“

      „Und das jeden Tag?“ Gerlinde war entsetzt. Sie hatte wahrhaftig keine Lust, sich ständig im Kriegszustand zu befinden. Und im Dauerlauf zum Speisesaal zu traben, womöglich noch bei Seegang.

      „Nun hab dich nicht so, das kriegen wir schon.“ Petra schob das Kinn vor, ein untrügliches Zeichen von Missbilligung.

      Ihre Nachbarn erhoben sich, und Gerlinde schaute sich verwirrt um. Was war jetzt wieder los? Vor lauter Schlussverkauf hatte sie nicht auf die Ansage geachtet. Sie ließ sich mitziehen von der Menschenmenge.

      „Legen Sie den rechten Arm auf die linke Schulter Ihres Vordermannes. Bilden Sie eine Reihe und gehen Sie zügig. Den rechten Arm auf die linke Schulter…“ Gebetsmühlenartig wiederholte eine weiß uniformierte Frau am Anfang der Reihe ihre Anweisungen.

      Gerlinde wurde es heiß. Rechts – links, das verwechselte sie schon mal gern. Aber schnell stellte sie fest, dass sie mit dem Problem nicht allein war.

      Man schob und drängte die Stufen hinauf. Das unterschiedliche Lauftempo der Leute schob die Menschenschlange zusammen und auseinander wie eine Ziehharmonika.

      „Bist du noch da?“