Rotraut Mielke

WIndstärke 4 mit leichter Dünung


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erste Eindruck vom Inneren des Schiffes ließ Gerlindes Atem stocken. Schon wieder musste sie den Kopf in den Nacken legen, um bis zur Decke der drei Stockwerke hohen Atriumlobby schauen zu können. Alles war mit blauem Teppichboden ausgelegt. Die Geländer an den Treppen schimmerten in edlem Messing, und die vielen Lampen und Spiegel verliehen dem riesigen Raum ein luxuriöses Ambiente. Das war ja wie in einem Sternehotel! Eingeschüchtert von so viel Pracht kam sie sich unbeholfen und linkisch vor. Ob sie sich hier wohlfühlen konnte? So eine Umgebung war sie nicht gewohnt, womöglich machte sie etwas falsch und brachte sie beide in eine peinliche Situation.

      Petra war neben ihr stehen geblieben und schaute sich ebenfalls um. „Ganz nett“, kommentierte sie trocken.

      Gerlinde verschlug es die Sprache. Na, die konnte wohl gar nichts erschüttern.

      Schnell stellte Gerlinde fest, dass sie nicht als einzige staunend ihre neue Umgebung betrachtete. Um sie herum schlenderten viele Mitreisende durch die Lobby und legten die Köpfe in den Nacken. Die meisten waren ähnlich gekleidet wie sie selbst. Beige Hose, Anorak und festes Schuhwerk, das schien eine Art Einheitslook für Kreuzfahrer zu sein. Nur zwei Leute, die händchenhaltend näher kamen, stachen aus der Menge heraus. Beide mochten schon über siebzig Jahre alt sein. Die Frau hatte leuchtend rotes Haar, das ihr in großen Wellen auf die Schultern fiel. Bei jeder Bewegung ihres Kopfes blitzten lange, mit blauen Steinen besetzte Ohrringe auf. Über ihren schwarzen Stoffmantel hatte sie ein buntes Tuch gelegt, und obwohl sie ziemlich klein war, hatte ihre Haltung etwas Königliches, so dass die Leute ganz automatisch Platz machten. Der Mann war nur wenig größer als sie. Er war in elegantes Grau gekleidet, und ein dunkler Hut verdeckte sein Gesicht. Fürsorglich führte er sie durch das Gewimmel von Menschen und achtete sorgsam darauf, dass niemand sie anrempelte. Langsam und vorsichtig setzten sie ihre Schritte, als würde der Boden jetzt schon schwanken, obwohl das Schiff ja noch im Hafen lag.

      „Komm, Lilli, wir gehen nach oben. Hier ist es zu voll“, hörte Gerlinde den Mann sagen. Die Frau lächelte ihn an, und dann verschwanden die beiden in einem Gang.

      Petra hatte den kleinen Decksplan herausgeholt, den jede beim Einchecken bekommen hatte. „Wir müssen nach Deck Elf“, verkündete sie. „Da ist die Bar. Ich hab fürchterlichen Durst.“

      Eine gute Idee, auch Gerlinde fühlte sich wie ausgedörrt. „Und wie kommen wir da hin?“

      Petra drehte und wendete den Plan und zeigte dann entschlossen in eine Richtung. „Da lang.“ Sie schritt zügig voran. Bald erreichten sie ein Treppenhaus, und hier war auch der Aufzug.

      Eine halbe Stunde später konnte Gerlinde bereits über die Erlebnisse während ihrer chaotische Anreise lächeln. Die Tasche fest zwischen die Füße geklemmt saß sie entspannt vor einem exotisch aussehenden Cocktail und beobachtete das quirlige Treiben auf dem Sonnendeck. Die Tische rundherum waren alle besetzt. Mit Glück und ein wenig Ellenbogeneinsatz war es Petra gelungen, die letzten zwei freien Plätze zu ergattern. In Windeseile hatten sie alle überflüssigen Kleidungsstücke ausgezogen. Die türmten sich jetzt zu einem großen Haufen auf Petras Lacktasche. Ihr war es auch gelungen, die Aufmerksamkeit eines asiatischen Kellners in weißer Jacke auf sich zu ziehen, um ihre Bestellung aufzugeben. Zwei Mai Tai hatte sie geordert, ohne Gerlinde zu fragen. Vielleicht war es üblich, eine Kreuzfahrt mit diesem Getränk zu beginnen. Jedenfalls standen zahlreiche sehr ähnlich dekorierte Gläser auf den anderen Tischen. Gerlinde betrachtete entzückt das Stück frische Ananas und die Cocktailkirsche, die aufgespießt am Rand des Glases hingen.

      „Prost!“ Petra erhob ihr Glas und lächelte sie an. „Auf einen schönen Urlaub!“

      Vorsichtig sog Gerlinde an dem Strohhalm. Die Mischung aus frischen Säften und ein wenig Alkohol schmeckte ausgezeichnet. Auf Petras Geschmack konnte man sich verlassen. „Das ist wirklich gut“, lobte sie und nahm gleich noch einen tiefen Zug aus ihrem Glas.

      Gerlinde knabberte an dem Ananasstück und schaute sich neugierig um. Das Sonnendeck bestand aus einer großen Fläche, in deren Mitte eine Art runde Plattform gebaut war. Auf der einen Seite gab es ein Schwimmbecken, auf der anderen Seite ein flacheres Becken und einen Whirlpool, in dem sich bereits ein paar Leute aalten. Das Schwimmbecken war mit einem Netz abgedeckt, offenbar durfte man es zurzeit nicht benutzen. Die Bar mit den Tischen, an denen sie saßen, war zum Teil überdacht. An den vier Ecken des Decks führten jeweils Treppen hoch zu einem weiteren Deck, auf dem sie Sonnenliegen sehen konnte, die in Reih‘ und Glied aufgestellt waren. Auch hier unten gab es Liegen, die rund um den Swimmingpool verteilt waren. Der Boden war mit Holz belegt. Alles sah gepflegt und sauber aus. Entspannt lehnte sich Gerlinde zurück, sie fühlte sich auf Anhieb wohl hier. Die Luft war warm und seidig, eine kleine Brise wehte vom Land herüber. Es war nur schade, dass sie nichts von Gran Canaria gesehen hatte. Aber es lagen ja noch viele Inseln vor ihnen, und dann würde es genug Zeit geben, die zu erkunden.

      ***

      Einige Tische weiter saßen ein älteres Ehepaar und ein Junge von vielleicht acht Jahren, vermutlich der Enkel. Der Pool mit dem Netz darüber zog den Kleinen magisch an. Er stand auf und schlenderte hinüber. Erst balancierte er am Rand des Beckens entlang, dann versuchte er, auf den dicken Seilen herumzuturnen. Die beiden Älteren reckten die Köpfe.

      „Daniel, komm her. Deine Cola wartet!“, rief der Mann, aber es war ein vergeblicher Versuch, den Jungen vom Pool weg zu locken.

      Der hörte nicht, sondern krabbelte auf allen vieren auf dem Netz herum, das sich unter seinem Gewicht durchbog und nun gefährlich nahe über der Wasseroberfläche hing. Plötzlich rutschte sein Fuß von den groben Maschen ab, und er steckte bis zum Knie im Wasser. Hektisch versuchte er, sich wieder hoch zu schaffen, aber er verhedderte sich nur immer mehr in den Seilen. „Opa!“, rief er panisch, „Hilf mir raus!“

      Der ältere Herr sprang auf, aber er konnte seinen Enkel nicht erreichen und stand ratlos am Beckenrand. Da kam ein Schiffsarbeiter in einem blauen Overall dazu. Er griff nach einer langen Stange, die am Beckenrand lag, und hielt sie dem Jungen hin. Der klammerte sich mit aller Kraft daran fest, und nach einigem Ziehen und Zerren kam er schließlich frei. Der Mann dankte dem Arbeiter, packte seinen Enkel am Ellenbogen und zog ihn schimpfend hinter sich her zurück zum Tisch.

      ***

      „Jungs, kippt ab!“, kam es da laut vom Nachbartisch.

      Gerlinde schrak zusammen. Eine Gruppe von sechs Männern hatte sich dort niedergelassen. Die roten Gesichter und die stattliche Anzahl leerer Biergläser ließen darauf schließen, dass sie schon seit einer ganzen Weile ihren Urlaubsbeginn feierten. Sie lächelte nachsichtig, vermutlich war das ein Kegelclub auf seinem jährlichen Ausflug.

      Petra fand das nicht so amüsant und verzog das Gesicht. „Einfach ekelhaft, wie die sich benehmen“, kommentierte sie keineswegs leise und drehte sich kampflustig zu der Gruppe um.

      Das verstand einer der Zecher wohl falsch. Er zwinkerte ihr zu und hob sein Glas. „Schöne Frau, wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Sie sind genau das, was mir der Arzt verordnet hat.“

      Gerlinde hielt die Luft an, aber Petra wusste diesen plumpen Annäherungsversuch gut zu kontern. „Hättste wohl gern“, krähte sie und drehte ihm den Rücken zu. Sie beugte sich zu Gerlinde. „So ein Prolet! Überhaupt kein Stil“, schimpfte sie und sog aufgebracht an ihrem Strohhalm. In Nullkommanichts war das Glas leer.

      Gerlindes Magen knurrte. Seit dem Frühstück und einem Imbiss im Flugzeug hatte sie nichts mehr gegessen, und das lag nun schon viele Stunden zurück. Sie hatte Hunger. Und sie stellte fest, dass in diesem süffigen Cocktail doch einiges an Alkohol gewesen sein musste. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass ihre Umgebung leicht schwankte, und ihr Blick war seltsam unscharf. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl, aber trotzdem sollte sie möglichst bald etwas essen. Jemand marschierte an ihr vorbei, einen Teller mit einer Currywurst und Pommes Frites in der Hand. Suchend schaute sie sich um und entdeckte eine lange Menschenschlange vor einer Theke, hinter der ein paar Angestellte herumwerkelten. Das wäre jetzt genau das Richtige! Doch während sie noch überlegte, ob sie sich dort anstellen sollte, kam eine Lautsprecherdurchsage.