Monica Davis

Nick aus der Flasche


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blickte Mrs. Warren in den LKW. »Ich hatte nur gehofft …«

      »Was?«

      Sie wirkte verwirrt, doch dann sagte sie plötzlich: »Es ist alles okay.«

      Julie schielte über das verrostete Türchen in den Vorgarten, wo ein Nachbar Mr. Solomon tot vorgefunden hatte. »War er ein Trinker? Ist er deshalb gestürzt?«

      Mrs. Warren lächelte müde. Schatten zeichneten sich unter ihren blassblauen Augen ab. »Nein, er hatte einen Schlaganfall.« Sie öffnete den Karton, damit Julie hineinsehen konnte.

      »Wow, das sind aber schöne Flaschen.« Die unterschiedlich großen Flakons und Phiolen aus Glas und Metall schimmerten in sämtlichen Farben.

      »Diese möchte ich dir schenken.« Mrs. Warren griff hinein und zog eine silberfarbene Flasche heraus, die in der Sonne grün und blau schillerte. Sie besaß einen runden Bauch und einen langen Hals. Verziert war sie mit Schnörkeln, Gravuren und Mustern sowie hellblauen Steinen, die wie Türkise aussahen. Ein tränenförmiger Stöpsel steckte im Hals und eine Kette wand sich vom Verschluss bis zur bauchigen Mitte. Alles in allem wirkte die Flasche sehr orientalisch.

      Dankend nahm Julie sie entgegen. »Die ist ja wundervoll!« Sie schüttelte die Flasche, doch sie schien nicht gefüllt zu sein. Dennoch fühlte sie sich schwer an. Und warm. Wahrscheinlich lag das an der Sonne.

      »Ich glaube, das ist echtes Silber«, sagte Mrs. Warren leise und schaute über ihre Schulter zur offenen Haustür. Geräusche drangen aus dem Gebäude. Jetzt waren wohl die Möbelpacker an der Reihe.

      »Aber das kann ich nicht annehmen, die ist bestimmt wertvoll.« Die Wohltätigkeitsorganisation könnte viel Geld dafür bekommen, um damit armen Leuten zu helfen.

      »Nimm sie, bitte. Ich habe das Gefühl, dass du sie erhalten sollst.« Mrs. Warren nahm ihr die Flasche ab und steckte sie kurzerhand in Julies Rucksack. »Du hast mir in den letzten Jahren so oft geholfen, da ist das das Mindeste. Und es muss ja keiner erfahren.« Schmunzelnd zwinkerte sie ihr zu und schloss den Karton. »Das ist heute ohnehin mein letzter Einsatz. Meine müden Knochen machen das nicht mehr mit.«

      »Fehlt Ihnen etwas?« In den letzten Wochen schien Mrs. Warren abgebaut zu haben. Sie war dünner geworden und humpelte leicht.

      »Ach, Schätzchen, in meinem Alter fehlt einem so ziemlich alles.«

      Julie räusperte sich. Sie wollte nicht zu indiskret werden und fragte schnell: »Mr. Solomon war wohl ein Antiquitätensammler?«

      »Möglich. Du hättest mal sehen sollen, was für kuriose Sachen noch in seinem Haus standen.« Ihr Blick wirkte entrückt, als würde sie erneut mit den Gedanken woanders sein, doch dann lächelte sie und wünschte Julie ein schönes Wochenende.

      ***

      »Wo warst du so lange? Dein Bus ist schon vor fünf Minuten vorbeigefahren«, begrüßte ihre Mutter sie vom Herd aus, als sie die Küche betrat. Mom war meistens hier anzutreffen, denn sie liebte es zu backen und zu kochen, daher klebte auch Mehl in ihrem braunen Haar.

      Lanzelot, der grau-weiß gestreifte Familienkater, strich um Julies Beine und empfing sie mit einem Maunzen, bevor er zu seinem Napf eilte. Das moppelige Vieh war so verfressen, dass es Futter Streicheleinheiten vorzog.

      »Mrs. Warren hat mich aufgehalten. Sie räumt mit ihrem Verein das Haus von Mr. Solomon aus. Er hatte keine Angehörigen und alles geht an die Wohlfahrt.«

      »Tatsächlich?« Hektisch wischte sich Mom die Hände an einem Geschirrtuch ab und klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie zum Fenster eilte. Das war typisch für Mom. Sie war so neugierig! Deshalb wusste sie längst Bescheid, dass Mr. Solomon gestorben war.

      Julie stellte den Rucksack auf einen Stuhl und holte die Flasche heraus, um sie noch einmal zu bewundern. Sie würde sich gut als Dekoration in der Küche machen. Der Raum war hell und modern eingerichtet, mit einer Menge Edelstahl, da würde dieses antike Gefäß toll dazupassen. Vielleicht könnte Julie Öl in die Flasche füllen und Mom damit ein Geschenk machen. Oder nein, lieber behielt sie die Flasche für sich. Immerhin hatte Mrs. Warren sie ihr geschenkt, außerdem standen ohnehin schon zu viele Dinge in der Küche herum. Zum Glück hatten sie ein großes Haus und viel Platz. Das oberste Stockwerk gehörte nur Julie und ihrem Bruder Connor. Sie hatten ein richtig gutes Leben, denn Dad verdiente als Anwalt ausgezeichnet. Deshalb hatte er auch gewollt, dass Julie die Kehrseite der Medaille kennenlernte und sie bei der Wohlfahrt mithelfen lassen.

      Während ihre Mutter aus dem Fenster starrte, schlich sich Julie zu den Töpfen. Hm, es duftete herrlich nach Muffins, und so wie es aussah, gab es heute Kartoffelbrei und Würstchen. Connors Lieblingsessen, aber dem war sie auch nicht abgeneigt. Da Mom deutsche Wurzeln hatte – Grandma war vor vielen Jahrzehnten von München nach New York gezogen –, gab es häufiger bayerische Spezialitäten. Schade, dass Julie ihre Oma nicht mehr kennengelernt hatte.

      Schnell stibitzte sie sich einen warmen Blaubeermuffin und biss hinein, solange ihre Mutter abgelenkt war.

      »Da beneide ich Mrs. Warren nicht. Wenn es drinnen genauso vermüllt ist wie der Garten …« Vom Fenster aus sah Mom das Haus nicht, da es auf ihrer Seite der Straße stand, aber der LKW war zu erkennen. »Mr. Solomon war ein komischer Kauz. Wenn er nicht auf dem Weg zum Postkasten gestorben wäre, hätte wohl niemand bemerkt, dass er tot ist.«

      Ihre Mutter drehte sich zu Julie um, nachdem sie gerade den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte. »Wusste Mrs. Warren, woran er gestorben ist?«

      »Schlaganfall«, erwiderte sie kauend und erntete einen tadelnden Blick. Zum Glück war Mom nicht so streng wie Dad und schimpfte auch weniger. Dabei war Thomas nicht einmal ihr richtiger Dad, sondern Connors leiblicher Vater. Sie waren eine klassische Patchworkfamilie. Julie hatte sich schon öfter gefragt, ob sie Connor überhaupt als Bruder bezeichnen durfte, denn in ihnen floss nicht ein Tropfen desselben Blutes. Doch sie lebten bereits so lange zusammen und zankten sich wie echte Geschwister, dass Con wie ein richtiger Bruder für sie war und ihr Stiefvater ihr Dad.

      »Gibt es sonst was Neues?«, wollte Mom wissen.

      Für ihre Neugier war es wohl ein Segen, nicht mehr in New York zu leben, sondern in Prince’s Bay. In ihrer Straße kannte jeder jeden. Julie gefiel es hier auch besser als in der miefigen Großstadt. Sie war froh, dass sich ihre Eltern vor zehn Jahren auf Staten Island ein Haus gekauft hatten. Dad fuhr täglich nach Brooklyn in die Kanzlei, während Mom zu Hause blieb und über das Internet oder in der Nachbarschaft ihre selbstgemachten Gemüse-Diät-Drinks verkaufte.

      »Mrs. Warren hat mir diese Flasche geschenkt«, sagte Julie und hob sie hoch.

      »Hm«, machte ihre Mutter geistesabwesend, als sie zurück zum Herd schlenderte. »Wirf sie in den Müll.«

      »Mom!« Empört hielt Julie sie ihr vor die Nase. »Sie ist wirklich hübsch und bestimmt wertvoll. Vielleicht benutze ich sie als Blumenvase.« Um nichts auf der Welt würde sie die Flasche hergeben.

      »Dann trenne dich wenigstens mal von ein paar anderen Sachen. Dein Zimmer platzt aus allen Nähten.«

      »Wann kommt Connor denn?« Sie wechselte lieber schnell das Thema, da sie sich von den meisten Dingen nur schwer trennen konnte. Sogar ihr altes Puppenhaus und viele Stofftiere besaß sie noch, obwohl sie seit mindestens vier Jahren nicht mehr damit spielte.

      »Er müsste zum Essen hier sein«, antwortete Mom und begann, die Küche aufzuräumen.

      Connor, der zwei Jahre älter war als sie, besuchte in New York ein College und kam fast jedes Wochenende nach Hause. Er wollte Arzt werden.

      Ihre berufliche Zukunft stand noch in den Sternen. Im Moment interessierte sie sich – außer für Josh – für Bücher, Filme und Musik. Außerdem musste sie sowieso erst einmal die Schule beenden.

      ***

      In ihrem Zimmer warf Julie den Rucksack in eine Ecke und stellte die Flasche auf den Nachttisch. Übers Wochenende musste sie ein Referat über Elektrolyse