Jeannette Kneis

SERUM


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und hingen mehrere Schränke, abschließbar, ein Nasspräparateschrank,ein Organschneidetisch, zwei weitere Zuschneidetische, ein Färbetisch, eine Formalin-Entsorgungsstation und verschiedene andere Arbeitsplätze. Neben dem Ein- und Ausgang des Labors befand sich hinter einer ebenfalls edelstählernen Doppeltür der Kühlraum für die Leichen. Kurioserweise hingen an den verschiedenen freien Flecken der Wände große Landschafts-Fotografien, die dem sterilen, toten Saal ein Hauch von Leben und Frische geben sollten, aber im Grunde nur unglaublich fehl am Platz wirkten. In den angrenzenden Räumlichkeiten auf der gleichen sowie ober- und unterhalb gelegenen Ebenen und einem mehrstöckigen Anbau reihten sich Büros und weitere Labors wie Biopsieabteilung, Zytologieabteilung mit DNA-Zytophotometrie-Labor, Toxikologieabteilung und andere Sektionen aneinander. Außerdem verfügte das angesehene Institut über eine Knochenentfettungsanlage (zur Präparation von Knochen), eine Knochen-Mazerationsanlage (ebenfalls zur Skelettpräparation) und ein Imprägnierungsbad zur Konservierung von Gewebe, einer hochmodernen Kryokonservierungsanlage, mit der zum Beispiel Gewebe, Zellen und Körperflüssigkeiten für lange Zeit unbeschadet eingefroren werden können, sowie einer nicht unerheblichen Anzahl an weiteren, interessanten Gerätschaften zur pathologischen Diagnostik. Einfach alles, was das Herz des Pathologen begehrte. Ein sehr modern eingerichtetes und ungemütlich aussehenden Institut der Rechtsmedizin. Das Beste in Leipzig! Das Beste in Sachsen!

      Der leicht gebeugt stehende Mann in der hellblauen Chirurgenkleidung trug zusätzlich eine weiße, bis zu den Knöcheln reichende, derbe Schutzschürze, helle Latexhandschuhe sowie einen Mund- und Nasenschutz, und einen Gesichtsschutzschirm mit integrierter Leuchte in der Stirnabdeckung. Sein intensiver Blick begutachtete die frei liegenden, inneren Organe einer Toten, die vor ein paar Stunden gebracht wurde, mit dem dringenden Auftrag einer sofortigen Obduktion. Neben dem Mediziner stand ein fahrbarer Wagen mit zwei Ebenen aus geschliffenem Edelstahl. Zuoberst, auf einem grünen Tuch, lag penibel geordnet das Chirurgenbesteck: verschiedene Seziermesser, anatomische Pinzetten und Scheren für Gedärm und Knochen, sowie auch eine alte Suppenkelle aus ziemlich abgenutztem Aluminium, die als Blutschöpflöffel diente. Auf einem zweiten Wagen lag der, mit einem chirurgischen Winkelschleifer, in zwei Hälften geteilte, blutverschmierte Thorax (Brustkorb) und das Sternum (Brustbein). In zwei großen Schalen befanden sich die völlig durchlöcherte Hepar (Leber) sowie der Intestinum crassum (Dickdarm) und der Intestinum tenue (Dünndarm). Ein Teil der Schädelplatte ruhte daneben, wie eine antike Opferschale, die der Priester mit Blut einer Jungfrau befüllt hatte. Auf einem Metalltablett stapelten sich mehrere Dutzend toter und reglos liegender Ameisen von ungefähr 7-8 mm Körpergröße, dessen Hinterleiber dunkelrot schimmerten und offensichtlich prall gefüllt waren mit irgendeiner Substanz. Einige von diesen Exemplaren zuckten noch unkontrolliert mit dem einen oder anderen Beinchen und den Antennen. Ein letztes Aufbäumen. Ein aussichtsloser Kampf ums Überleben. Sie waren allesamt verloren.

      "Ich sag's euch, Leute." Doktor Esser redete, während er begierig und unentwegt die Absurdität an und in dem Leichnam erforschte und gleichzeitig nach kugelsicheren Antworten suchte. "Еtwas derartiges habe ich während meiner gesamten Laufbahn als Gerichtsmediziner und Pathologe noch nicht gesehen. Das ist einfach unglaublich! Mehr als unglaublich! Eine medizinische Anomalie. Einfach faszinierend! Ich weiß nicht, wie ich es sonst in Worte fassen soll." Mit einem Seziermesser mittlerer Größe und einer anatomischen Pinzette bewaffnet, schob, hob, zerrte, drückte und schnitt er an den Organen herum, um diese zu erforschen. Ab und an entfernte er mit der alten Alu-Suppenkelle überflüssiges Blut aus dem frei liegenden Bauch- und Brustraum des Toten, um die Sicht auf die Anatomie der Leiche zu verbessern. Den dunkelroten Lebenssaft ließ der Gerichtsmediziner plätschernd in einem bereitstehenden Edelstahleimer mit Skalierung verschwinden.

      Die Kripo-Beamten standen wie versteinert vor Doktor Esser und seinem Arbeitsplatz voller Blut, totem Menschenfleisch und rot verschmierten, medizinischen Instrumenten. Eigentlich sah es wie auf einer mittelalterlichen Schlachtbank aus. Oder in einem klassischen Horrorkabinett in der Hauptrolle nicht Christopher Lee, sonder Doktor Marius Esser. Der typische Geruch von Fäulnis, Verwesung und chemischen Mitteln lag in der Luft. Vorrangig von Fäulnis und Verwesung. Wie hielt er das nur jeden Tag aus? Quälten ihn deswegen Alpträume oder Gewissensbisse? Wurde ihm denn nicht übel von dem Gestank der eröffneten Leiche? Was veranlasste einen Menschen, einen solch unnormalen Beruf zu ergreifen? Eine echt spannende Frage, die die beiden Polizisten ihrem Freund Doktor Esser merkwürdigerweise noch nie gestellt hatten. Unter dem Begriff Traumberuf stellte man sich normalerweise etwas ganz anderes vor.

      "Was ... was ist denn so faszinierend an der Toten?" fragte Conny und wagte kaum zu atmen.

      "Ihr Zustand", lautete die simple Antwort.

      "Du meinst, dass sie von diesen Viechern, ähm, besetzt ist?"

      "Ja. - Ich glaube, ihr könnt das gar nicht verstehen", fügte er ergänzend hinzu.

      Constanze Müller stöhnte innerlich auf vor Unbehagen, während sie den Kopf schüttelte. "Nee, können wir auch nicht. Unsere Leidenschaft geht andere Wege."

      "Klar, das weiß ich doch."

      "Wo ist denn dein Kollege?" wollte Kommissar Hofer mit argwöhnischem Blick und hochgezogenen Augenbrauen wissen. "Ich dachte, bei einer gerichtsmedizinischen Obduktion muss ein zweiter Arzt anwesend sein?"

      "Er kommt erst Montag Nacht aus dem Urlaub zurück. Malediven." Es klang eher beiläufig, kaum erwähnenswert. Jedoch auf jeden Fall herablassend. "Leute wie er wissen einfach nicht den heimischen Urlaub im Bayerischen Nationalpark oder an der Ostsee zu schätzen." Er schüttelte unmerklich den Kopf.

      "Doktor Helmut Gabriel nehme ich an", schätzte Hofer gezielt.

      "Wer sonst", schnaufte Doktor Esser. "Dieser Mann ist einfach nur eine Qual. Es kostet mich jedes Mal Nerven, mit ihm zusammen zu arbeiten. Zu müssen. Der Herr Besserwisser! Manchmal glaube ich, der hat seine gesamte Ausbildung inklusive seines Doktortitels im Internet absolviert. Er ist einfach nicht mit dem ernsten Engagement bei der Sache, das die Arbeit von ihm verlangt." Er seufzte bedauernd. "Für ihn ist es keine Berufung. Ihm geht es ausschließlich um die gesellschaftliche Stellung." Er schüttelte kurz und heftig den Kopf, wobei er flüchtig die Stirn in Falten legte. "Nun gut, ich will euch nicht die Ohren voll jammern, Freunde. Deswegen seid ihr nicht gekommen."

      "Gibt es denn keinen anderen Arzt, der die Obduktion mit dir durchführen kann? Dazu brauchen die Ärzte doch keine extra Lizenz?"

      "Zu deiner zweiten Frage: Nein. Es ist jedoch ein spezialisierendes Studium notwendig. Zu deiner ersten Frage: Für diese unliebsame Arbeit sind sich doch die meisten Mediziner zu fein. Der andere Teil arbeitet bereits rund um die Uhr. Da muss man nehmen, was übrig bleibt. Ihr wisst doch, wie das heutzutage ist. Überall Personalmangel."

      "Hast du deinen Kollegen telefonisch über die Sektion informiert? Weiß er, dass du bereits begonnen hast?"

      "Nein. Warum sollte ich ihn darüber in Kenntnis setzen? Ich bin doch nicht blöd. Er würde mir streng nach Vorschrift die Leviten lesen, von wegen Störung der Totenruhe ohne Autorisierung durch die Staatsanwaltschaft und so. Darin ist er ein wahrer Meister. Dafür haben wir auch gar keine Zeit."

      "Aber es ist doch eine gerichtliche ...?" Müllers erstaunter Einwand war nun voll berechtigt.

      "Morgen ist Montag", wehrte der Doktor lässig ab. "Dann wird es eine gerichtlich angeordnete Sektion sein. Bis dahin ist es noch inoffiziell und bedarf keines weiteren Arztes."

      "Oh verdammt! Damit bringst du dich in Teufels Küche, mein Lieber!"

      "Macht euch mal keine Sorgen! Das Fax dafür liegt bereits beim Richter. Richter Vogelsang. Den kennt ihr ja. Ihr beiden seid ja seine absoluten Lieblinge. Außerdem wird er mir die Dringlichkeit nicht vorwerfen, mit der ich an dem Leichnam arbeite. Dieser außergewöhnliche Tod musste einfach umgehend obduziert werden. Könnt ihr nachlesen im neuen Entomologischen Seuchengesetz §9, Absatz 2 ."

      "Okay, okay. Wir haben verstanden", wehrte Constanze schnell ab und unterstrich ihre Aussage mit einer entsprechenden Handbewegung. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust, sich komplizierte Paragraphen anzuhören. Michael erging es gewiss ebenso.

      "Schön", meinte der Pathologe und widmete sich weiter seiner