Jeannette Kneis

SERUM


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Michael Hofer betrachteten, die Stirn runzelnd und naserümpfend den Doktor eine ganze Weile bei seiner Tätigkeit. Wie er gleichsam ruhig und fieberhaft an der Entschlüsselung des Rätsels arbeitete, das den ehemals lebendigen Menschen ins Jenseits beförderte. So interessiert, wie ein Kleinkind, dass etwas neues entdeckte oder eine neue Erfahrung gerade machte. Bedenkenlos ein faszinierender Anblick. Marius Esser war mit Leib und Seele Mediziner. Und ein sehr guter Freund. Trotz alledem blieben die Treffen im Revier des Doktors nicht ohne spürbare Folgen. Ein in der Magengegend kribbelndes Unbehagen, sogar Übelkeit überkam sie ab und zu und je nach Zustand und Geruchsentwicklung des Leichnam, wenn sie Doktor Marius Esser, Pathologe der Universitätsklinik und für die Leipziger Kriminalpolizei als Gerichtsmediziner tätig, aufsuchen mussten. Ein totes Opfer am Tatort anzuschauen, es anzufassen und gegebenenfalls geringfügig zu bewegen, um mögliche Infos zu erhalten, das war ihr Job und sie hatten sich daran gewöhnt. Doch einem ehemals lebendigem Menschen in die blutenden Eingeweide des vom Kinn bis zum Schambereich geöffneten Körpers zu schauen, war etwas ganz anderes. Obendrein stocherte und schnitt noch jemand darin herum. Dafür brauchten die beiden eigentlich jedes Mal Nerven aus Stahlseil. Wenn das überhaupt reichte. Die Kripobeamten fragten sich, unabhängig voneinander, warum sie eigentlich noch keine Vegetarier waren. Wie hielt das Doktor Esser nur jeden Tag aus? Sollte man in Bezug auf den Job möglicherweise fetischistisch veranlagt sein? Skrupellos auf jeden Fall. Und Emotionen durfte man auch nicht zulassen. Fehlte nur noch, dass er nebenbei ein belegtes Brötchen, Pralinen oder so was aß. Und der dampfende Kaffee stand direkt neben den unappetitlich, schleimig und blutig aussehenden Eingeweiden der Verstorbenen. Abscheulich! Als Entschädigung erhielten die Beamten jedoch stets wertvolle Informationen zur Lösung des Falles, an dem sie gerade arbeiteten. In den meisten Fällen war so eine Obduktion nach zwei bis drei Stunden erledigt und die Todesursache geklärt. Hier würde es wegen des ungewöhnlich verstümmelten Körpers wohl etwas länger dauern.

      Der Arzt bemerkte, wie die beiden Polizisten die Nasen rümpften. "Wenn euch das bestechende Aroma meines Arbeitsplatzes missfällt, nehmt euch ruhig einen Mundschutz. Ihr wisst ja, wo die Dinger liegen", meinte er unecht schmunzelnd. "Gleich neben dem Sauerstoffanschluss." Schwarzer Humor vom Feinsten.

      "Das hättest du wohl gern, dass wir dir noch vor die Füße fallen. Es ist dieses Mal nicht so schlimm", behauptete Michael tapfer, obwohl er am liebsten die verbleibende Zeit die Luft angehalten hätte.

      "Wirklich, es ist auszuhalten", pflichtete Conny ihrem Kollegen ebenso mutig bei. "Wir waren schon schlimmeren Gerüchen ausgesetzt. Wirklich!" Sie riss schnell ein anderes Thema an. "Hör mal, wenn es dich nicht bei deiner Arbeit stört, wollen wir uns noch etwas mit dir unterhalten. Wir haben da noch ein paar ungeklärte Fragen."

      "Kein Problem. Schieß los, Conny! Möglicherweise bin ich bereits im Besitz der Antworten. Finden wir's heraus!"

      "Gut, dann komme ich noch einmal auf die Ameisen zu sprechen. Als wir den Leichnam von Frau Doktor Kurz fanden, kamen die Viecher aus allen möglichen Körperöffnungen und Wunden gekrochen." Während sie sprach, schüttelte sie angewidert und Unverständnis anzeigend den Kopf, und vergrub die kalt gewordenen Hände in den Jackentaschen.

      "Das ist verständlich" .Der Mediziner schaute kurz hoch. "Es liegt in der Natur der Ameisen, Gänge in ihrem Bau zu graben."

      "In ihrem Bau?" fragte Conny konsterniert. Ihre Augen weiteten sich auf Übergröße. "Wie kannst du das nur so locker dahinsagen!"

      "Ja, diese Ameisenart hat sich, so absonderlich das für uns klingen mag, einen Menschen als Nest ausgesucht."

      "Das ist doch völlig unmöglich!"

      "Natürlich!" erwiderte Doktor Esser ruhig und griff mit der Pinzette nach einer weiteren reglosen Ameise, die am rechten Unterlappen der Lunge klebte. "Wie alle Lebewesen, benötigen auch Insekten Nahrung und vor allem Sauerstoff zum Überleben. Wenn ich richtig geschlussfolgert habe, ist es bei dieser Art genau umgekehrt. Kaum, dass sie längere Zeit Kontakt mit der sauerstoffreichen Umgebung aufgenommen haben, sterben sie innerhalb einer bestimmten Zeit. Normalerweise werden Leichen je nach geographischer Lage, Temperatur, Feuchtigkeit und Sonneneinstrahlung von Schmeißfliegen und anderen Insekten besiedelt. Sozusagen ein spontaner Befall nach dem Ableben des Menschen. Ihr sagtet ja auch, dass es keinen Hinweis auf einen Ameisenbau im Haus gab. Es bleibt nur eine Möglichkeit, die ich jedoch mit Vorsicht in Erwägung ziehe."

      Die beiden Kommissare platzten vor Neugierde.

      Doktor Esser holte tief Luft (soweit ihm das der Mundschutz und die Umgebung zuließ). "Nach meinen ersten Untersuchungen zufolge und allem Anschein nach, hat irgendjemand Frau Doktor Kurz zu Lebzeiten diese ungewöhnliche Art von Ameisen in ihren Körper gepflanzt. Vermutlich, als sie noch nicht aus ihren Eiern geschlüpft und sich verpuppt hatten. Diese Entwicklungen dauern in der Regel und je nach Ameisenart zwei bis sechs Wochen oder länger."

      Die Kommissare blickten den Pathologen sekundenlang entsetzt und atemlos an. Was für eine himmelschreiende und absurde Theorie, doch offensichtlich nicht auszuschließen. Es dauerte eine ganze Weile, bis beide ihre Sprache wiederfanden, denn schließlich mussten sie das Gehörte erst einmal verdauen. Auch wenn es sich um eine Theorie handelte.

      "Dann haben wir es hier möglicherweise mit einem Verbrechen zu tun!" platzte Conny erschrocken heraus. In ihrem Geiste entstand die unangenehme Vorstellung, dass Ameisen kreuz und quer über und durch ihren Körper wuselten. Automatisch fühlte sie an verschiedenen Körperstellen ein unangenehmes Krabbeln. Sie schüttelte sich unmerklich. Abscheulich und irgendwie auch gruselig. Wahrscheinlich würde sie heute Nacht davon träumen. Sie war nun wirklich kein Weichei und Michael eben so wenig, doch manche Dinge, manche Erlebnisse, blieben noch eine Zeit lang an ihnen kleben, wie ein Schatten, der einen Menschen ins emotionale Unglück stürzen wollte.

      "Ich will deine Vermutung noch nicht bestätigen, doch ich denke in etwa in die gleiche Richtung. Irgendjemand oder sogar die Wissenschaftlerin selbst, diese Annahme muss ich trotz allem mit erwähnen, auch wenn dies eine eher abartige Form der Forschung darstellt, sie jedoch hin und wieder praktiziert wird, experimentierte offensichtlich mit Ameisen am lebenden, menschlichen Körper. Ich bedauere ihren Tod sehr. Doktor Madeleine Kurz war eine angesehene Biologin auf unserem Planeten. Ich wünschte, ich hätte sie unter anderen, angenehmeren Umständen kennengelernt. Das ungeheure Wissen, was sie besaß, hätte meines sehr bereichert. Bereits ein Treffen mit ihr, wäre geradezu göttlich gewesen."

      Wow! Es wird Zeit, dass sich unser lieber Doktor nach einer Gefährtin umsieht. Dieser ewige Junggeselle. Er kann doch nicht nur mit seiner Arbeit verheiratet sein. Das ist doch nun auch nicht die Erfüllung. Leichen sind zwar ausgezeichnete Zuhörer, aber zum Schmusen und zur Konversation völlig ungeeignet.

      "Ein äußerst ungewöhnliches Experiment." Michael war von dieser Vorstellung nicht begeistert. Ein kalter Schauer jagte turbogleich über seinen Rücken. Er ließ sich vor den anderen nichts anmerken. Schließlich wollte er keineswegs als Schwächling dastehen.

      "In der Tat. Da die inneren Organe der Frau extrem durchlöchert und angefressen sind, nehme ich an, dass die Ameisen das Gewebe als Nahrung benutzt haben müssen. Mal sehen, ob ich irgendwo noch eine Königin und eventuell eine Brut finde. Das wäre, entschuldigt meinen Anflug von Enthusiasmus, die Krönung dieses außergewöhnlichen Experimentes. Nicht zu verwechseln mit dem Grund, weshalb dies überhaupt geschah."

      "Das ist ja absolut ekelhaft!" keuchte Conny vor Abscheu. Am liebsten wäre sie jetzt doch hinaus gerannt, so schlecht war ihr bereits. Eher nicht wegen der Geruchsbelästigung und der eröffneten Leiche, eher wegen Doktor Essers außergewöhnlichen Theorien. Angewidert verzog sie das Gesicht, verengte die Augen und rümpfte die Nase, blieb jedoch tapfer, mit angespannter Haltung, neben ihrem Kollegen stehen. Nur keine weitere Schwäche zeigen! Nicht vor Doktor Esser. Du hast schon genug erlebt und gesehen. Das hier wirst du auch noch überleben. Sie ballte die Hände in den Jackentasche zu Fäusten.

      "Ich stimme dir voll und ganz zu", bestätigte Michael mit einem kurzen Seitenblick auf seine Kollegin und verzog ebenfalls das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. "Das ist der bisher widerwärtigste Fall, den wir je hatten. Ich frage mich, warum tut jemand so etwas? Was ist nur aus unserer schönen Welt geworden?" Wenn nur noch