Führerschein. Du bekommst es morgen zurück, versprochen. Aber ich brauche es jetzt." Ich greife nach ihrem Autoschlüssel, der auf dem Schreibtisch liegt und gehe zur Tür.
"Halt, Ra - ", höre ich sie noch rufen, aber ich hab die Tür hinter mir schon zugeschmissen.
Ich sprinte schon fast zu Abys Auto und schließe es nach Luft schnappend auf. Die ganze Fahrt über zwinge ich mich, mir nicht die schlimmsten Dinge auszumalen, die passiert sein könnten, das Aiden dazu bringt mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu klingeln und mich zu sich zu beten.
Und wie er klang. So traurig.
Ich parke Abys Auto an den Parkplätzen vor dem Hochhaus, in dem Aiden wohnt und renne in die Lobby. Zum Glück ist hier niemand mehr, denn ich kann mir vorstellen, dass man von außen betrachtet meinen könnte, dass ich ein Mädchen bin, das gerade vor einem Vergewaltiger flüchtet.
Ich steige in den Fahrstuhl und drücke mindestens hundertmal auf die Nummer sieben. Aber dieses doofe Teil regt sich einfach nicht und ich seufze genervt. Kurzerhand gehe ich aus dem Fahrstuhl heraus und renne die Treppen hoch, sieben verdammte Stockwerke. So viel Sport habe ich wahrscheinlich seit der High-School nicht mehr gemacht.
Völlig aus der Puste, aber immer noch voller Enthusiasmus komme ich im siebten Stockwerk an und suche das Zimmer 259.
253,255,257,... Endlich. Vor der Tür schnaufe ich erst mal nach Luft und lehne mich gegen den Türrahmen. Aber ich will keine Zeit verplempern, deshalb klopfe ich zwei Mal leicht gegen die Tür.
Sofort geht die Tür auf und Aiden steht im Türrahmen. Seine Haare sind durcheinander und er sieht aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen. Seine Miene ist traurig, aber er sieht nicht aus, als hätte er geweint. Zum Glück. Ich will ihn nicht weinen sehen.
"Raven", flüstert er, nimmt mich in den Arm und zieht mich in seine Wohnung.
"Aiden", sage ich leise, als er mich fest an sich drückt. "Was ist los?"
Meine größte Angst ist, dass er mir jetzt sagen wird, dass das Krankenhaus angerufen und Tammy für tot erklärt hat.
Er lässt mich los und ich schließe die Tür hinter mir.
"Aiden, rede doch", flehe ich, als er auf die Couch in seinem Wohnzimmer zu trottet.
Aiden lässt sich seufzend auf die Couch fallen und stemmt seinen Kopf in die Hände. "Ich denke, ich habe einfach jemanden hier gebraucht."
Stirnrunzelnd setze ich mich neben ihn. "Wieso? Was ist passiert?"
Aiden sieht auf und fährt sich durch die Haare. "Was passiert ist? Raven, sieh dich doch um. Alles passiert momentan."
Ich sehe ihn verwirrt an.
"Ich habe so lange Angst gehabt vor diesen Tagen. Ich dachte, ich hätte noch so viel Zeit, weißt du? Aber es geht auf einmal alles so schnell... Und das schlimmste ist, ich weiß nicht, wie ich verdammt nochmal damit umgehen soll."
Jetzt wird mir klar, wovon er redet. Er redet von Tammy... Dass sie bald sterben wird und er hilflos zusehen muss. Sofort wächst ein riesiger Kloß in meinem Hals. Aiden ist so zuverlässig und ruhig mit der ganzen Sache umgegangen und jetzt sehe ich ihn, wie er einen Moment hat, in dem er Schwäche zeigt.
Um ihm das Gefühl zu geben, dass ich da bin und ihm zuhöre, lege ich meine Hand auf seinen Arm. Ich weiß, dass ich jetzt besser nicht reden sollte, sonst fließen wieder die Tränen. Ich bin so eine verflixte Heulsuse.
"Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, Raven. All diese Leute die ich sehe, jede Woche,... sie sterben. Woche um Woche sterben sie alle und jetzt, jetzt stirbt sie. Meine größte beschissene Angst erfüllt sich in den nächsten Wochen und ich bin hilflos. Tammy fragt mich so viele Dinge über die Welt, warum das Meer so weit ist, warum der Himmel blau ist... Und ich wünschte, ich müsste es ihr nicht erzählen, denn sie soll all diese Dinge selbst herausfinden, wenn sie alt ist. Aber das wird sie nicht!" Aiden steht aufgebracht auf und läuft von links nach rechts. Er wischt sich durchs Gesicht und erzählt weiter. "Sie wird nie selbst herausfinden, wie weit das verdammte Meer ist und sie wird nie erlesen können, wieso der Himmel blau ist! Und ich, ich halte sie in meinen Armen und sehe ihr beim Verbluten zu! O Gott, Raven, ich kann das nicht. Ich kann ihr nicht beim Sterben zusehen. Nicht schon wieder...."
Schon wieder?
Aiden hält sich die Hand vor den Mund und stützt sich am Kamin ab. Er scheint einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.
Es wundert mich nicht, früher oder später wäre es zu diesem Punkt gekommen.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was ich tun kann, um es zu ändern. Nichts. Nichts kann ich tun. Fuck, nichts kann ich tun", sagt er leise.
Ihn so zu sehen, wie er vor lauter Schmerz keucht und wütend umher redet verletzt mich. Jetzt weiß ich, wie sich Augusts Frau gefühlt haben muss, als seine Schwester gestorben, er ausgeflippt ist und tagelang geweint hat.
Aiden kann nichts tun, um Tammy zu retten und ich kann nichts tun, um Aiden zu retten. Wir sind gezwungen zuzusehen und zu hoffen, dass alles gut wird. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.
Ich stehe auf und gehe auf Aiden zu.
Um ehrlich zu sein bewundere ich es, dass er nicht in Tränen ausbricht. Wenn ich so ausflippen würde wie er, hätte ich schon längst ein Meer aus Tränen hinterlassen.
Ich nehme Aidens Hand und ziehe ihn sanft in Richtung der Treppen.
Aiden sieht mich überrascht und verwirrt an, lässt es aber zu.
Ich ziehe ihn die Treppen hoch in sein Schlafzimmer. Ich bin froh, dass ich das Licht nicht anmachen muss, denn der Mond beleuchtet das Zimmer durch die großen Fenster genügend. Schweigend ziehe ich ihn auf die Bettseite, bei der die Decke umgeklappt ist und setze ihn auf das Bett.
Aiden starrt mich eindringlich an und verfolgt jede meiner Bewegungen.
"Leg dich hin", sage ich leise und sehe ihn betrübt an.
Er gehorcht mir und legt sich unter die Decke.
Ich gehe um das Bett herum und will gerade die Tür schließen.
"Wo gehst du hin?", fragt Aiden von Trauer erfüllt.
"Ich mache nur die Tür zu." Ich gehe auf die andere Bettseite und krabble zu ihm unter die Decke.
Aiden dreht sich zu mir und drückt mich fest an sich.
Ich weiß nicht, was das gerade für ein Gefühl ist, aber es fühlt sich stark und befreiend an. Wenn er mich so an sich drückt, fühle ich mich nicht mal wie mich selbst. Die Raven vor dem College hätte es nicht interessiert, ob jemand ausflippt und sie hätte sich erst recht nicht mit jemandem unter eine Decke gelegt. Ich bin nicht ich selbst, das ist die einzige Erklärung dafür, warum meine Arme um ihn geschlungen sind, um ihn zu trösten, während er bricht.
"Danke", flüstert Aiden nach einer Weile und lässt mich leicht los.
Ich presse mich enger an ihn und lege meinen Kopf auf seine Brust. Es ist beruhigend, sein Herz schlagen zu hören. "Aiden, wenn... du über irgendetwas reden möchtest, dann kannst du das einfach tun. Du musst das nicht alles in dich hineinfressen. Das hast doch am Freitag erst zu mir gesagt, als ich wegen meiner Mutter so traurig war."
Aiden atmet tief ein und streichelt mit seiner Hand über meinen Kopf. "Ich weiß, Raven."
"Dann tu es jetzt."
"Habe ich nicht gerade schon eine ganze Rede gehalten?", lacht er leise. Da ist er wieder, der lockere und lustige Aiden.
"Ja, aber lass uns sachlich über alles reden. Zum Beispiel - hm - wieso hatte Tammy diese Narbe an ihrer Schläfe? Die hab ich beim letzten Mal noch nicht gesehen." O Gott, kann ich bitte noch uneinfühlsamer sein?
Aiden atmet tief ein. "Ich kann es dir nicht genau sagen, weil ich es selbst nicht richtig weiß, aber diese Narbe hatte sie auch, als sie das erste Mal auf der Intensivstation lag. Das sind irgendwelche Tests, die sie mit