realistisch, wie es mir möglich war, mit rosa-schwarzen Brustwarzen. Da Mopsi sehr alt war, hingen die Brüste und Mopsi hechelte, was Möpse eigentlich immer tun, außer wenn sie schlafen. Das Gehechel gab dem Bild eine obszöne Note. Es war aufwändig, mit Aquarellfarben realistisch zu malen, aber ich konnte mir nichts Besseres vorstellen, als zu malen. Ich vergaß Zeit und Raum, wenn ich an einem Bild saß. Mein Glück, denn was hätte ich sonst wohl auch tun sollen?
Fakt war, dass man in Kleinbeken definitiv nichts Vernünftiges machen konnte, außer, wenn man mit allem abgeschlossen hatte und so was wie Gardinen oder Auto waschen als ausreichend sinngebend empfand. In Kleinbeken war bislang noch jede Revolution und jedes Bestreben nach Gerechtigkeit, Freiheit oder Vielfalt im Keim erstickt worden. 1938 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung verjagt, die aus fünf Frauen, fünf Männern und sieben Kindern bestand. Ich verstand noch gerade, dass es hier 1968 keine Studentenproteste gegeben hatte, wir hatten in Kleinbeken ja lediglich eine Grundschule, für die selbst ein Elternbeirat als zu progressiv empfunden wurde. Die Frauenbewegung verebbte als schlüpfriger Witz am Stammtisch, niemand sprühte hier politischen Parolen an die Mauern, und junge Eltern verlangten nicht nach avantgardistischen Krabbelgruppen. Eigentlich waren die Extremkleinbekener meine Eltern. Mein Vater galt als Spinner, weil er einen DAF Variomatic fuhr und uns diese Furzkutsche als Familienwagen zumutete. Dann war er auch noch handwerklich gesehen ein Autist. Und las Gedichte. Da er ein Mann war, wurde er trotzdem respektiert, er war immerhin groß und sah aus wie Gregory Peck. Meine Mutter war schlank, hatte schwarze Haare ohne Dauerwelle und trug immer schwarze Sachen, was nicht so ganz dem hiesigen Hausfrauenstandard entsprach. Sie war entfernt verwandt mit Romy Schneider, das war auf der einen Seite überaus interessant, aber auch skandalös. Warum auch immer, aber die alten Frauen flüsterten immer, wenn sie darüber redeten.
Über mich regte sich keiner im Dorf auf, außer Lissis Mutter. Ich wäre gerne eine Außenseiterin gewesen, eine, die aufrüttelt, polarisiert. Fehlanzeige. Ich konnte rumlaufen, wie ich wollte – sie mochten mich. Ich gehörte dazu, ob mir das nun passte oder nicht, denn ich war hier geboren. Die wohlwollende Billigung meiner Person gründete sich auch dadurch, dass die Männer das Sagen hatten. Sie fanden es lustig, dass ich Apfelkorn vorm Büdchen trank - „Ach ja, das ist doch die Kleine vom Kreuker, die ist ja jetzt auch schon groß“ - sagten sie und wollten einen mit trinken. Meine Kleidung interessierte sie gar nicht, im Dorf wurde sich generell nicht affig angezogen. Alle sahen aus, als bezögen sie ihre Kleidung von der Heilsarmee, außer Arbeitskleidung, die musste anständig sein. Meinen Anti-Atomkraft Aufkleber auf dem Fenster hielten sie für die Vorsehung meiner künstlerischen Zukunft. Wenn ich nackt durchs Dorf gelaufen wäre, hätten sie sich gefreut, dass sie sich am Stammtisch mal was Neues erzählen könnten. Dass ich kein Fleisch aß, verstanden sie. „Ach ja, mir tun die Tiere auch leid. Wenn ich die verlade und die gehen nur auf den Hänger, weil sie mir vertrauen, dann fühle ich mich so mies...“,...„ich ess' ja auch ganz wenig Fleisch...“, „die Herta kann nichts anderes als Fleisch...“, usw. Mama hatte es schwerer, sie war eine Zugezogene und das auch noch aus dem unübersichtlichen Essen. Da waren alle skeptisch.
Die alteingesessenen Frauen hatten schon den einen oder anderen Kritikpunkt, was mich betraf, führten jedoch ein Nischendasein im dörflichen Wertesystem. Ihre Anmerkungen blieben unter ihnen. Tag für Tag, wenn sie den Bürgersteig so sauber gemacht hatten, dass man dort Herztransplantationen hätte durchführen können, standen sie mit Kittelschürze, Kopftuch, die Arme verschränkt und schüchterten mich ein. Frauen, deren Häuser aussahen wie Volksmuseen. Jeden Tag zupften sie die kleinen Halme zwischen den Gehwegplatten heraus und präsentierten dem beeindruckten Beobachter ein Spalier dicker oder verknöcherter Hintern. Eine Woche, bevor die Pfingst-Prozession vorbeizog, schrubbten sie die Häuserwände und pflanzten die Blumen in den Fensterkästen neu, weil sie Angst hatten, der Pfarrer würde sie sonst schief ansehen, aber wenn mal jemand wirklich Hilfe brauchte, dann kam es schon sehr drauf an, aus welcher Familie man kam.
Kackwurst (Kleinbeken, 1967)
Andis Eltern waren immer weg. Oft gab es nichts Richtiges zu Essen bei ihm, nur Dosenmilch für die Babys oder Instant-Kartoffelpüree, das Andi als Pulver aß. Sie tranken Wasser direkt aus der Leitung. Wenn ich zu ihm ging, packte ich meinen kleinen Rucksack immer mit Essen voll. Andi hatte fünf Geschwister, vier Brüder und eine Schwester. Ich wusste nicht, ob ich die beneiden oder bemitleiden sollte. Ich fand es meistens nicht gut, ein Einzelkind zu sein, aber so wie bei Andi war es auch nicht schön, sie stritten oder hauten sich andauernd. Manchmal passierten bei Andi zuhause Sachen, die ich mir nie vorgestellt hätte, also so was, wo man schon als Fünfjährige denkt: „Das geht nicht“. Sein kleiner Bruder kackte noch mit drei Jahren auf den Teppich, trug die Wurst durch die Wohnung und zeigte sie jedem. Ich konnte das gar nicht fassen, als ich das sah.
Wir wohnten im gleichen Haus, er in der ersten und ich in der dritten Etage.
Hinter unserem Haus war ein Sandkasten. Ich spielte dort oft allein. Eines Tages kam Andi und setzte sich schweigend neben mich. Wir spielten immer synchron. Wenn ich Kuchen backte, backte Andi Kuchen, wenn er eine Burg baute, baute ich die Burg mit. Andere Kinder interessierten uns nicht, allerdings interessierten sich die auch nicht für uns. Unsere Sandkastenwelt existierte abgetrennt von unglücklichen Eltern, vollgekackten Wohnungen oder leeren Kühlschränken.
Aalhoden (Kleinbeken, Februar 1979)
Unsere Welt verwahrloste ohne meine Mutter. Das Haus war eine Müllhalde, Papa hatte dreckige Klamotten an und ließ sich einen Bart wachsen. Als es kein sauberes Geschirr mehr gab, nahmen wir die Partyteller und Plastikgabeln aus dem Keller. Als die Gabeln verbraucht waren, aßen wir alles mit Plastikmessern, außer Suppe, die tranken wir aus dem Topf. Es fehlte nur noch das offene Feuer in der Mitte vom Raum.
Papa kam mittags nicht mehr nach Hause, er aß im Volksmuseum oder sonst wo, ich fragte ihn nicht. Ich vermisste Lissi die ganze Zeit. Obwohl sie es war, die alleine in ihrem blöden Innenarchitektenzimmer saß, hatte ich Angst, dass sie nicht mehr meine Freundin sein wollte. Weil ich so alleine war, hatte schon einige Male gedacht, dass ich gerne mit Kathrin was unternehmen würde, aber ich hatte Bedenken, dass sie das so auffassen würde, als wäre sie nur Ersatz für Lissi, was nun auch wieder nicht stimmte. Und Lissi könnte denken, mir wäre es egal, dass sie Hausarrest hätte. Und außerdem bin ich nicht so gut in solchen Dingen. Vor lauter Grübelei wurde ich fast trübsinnig.
Eine Weile nach dem Berlinkonzert fragte Kathrin mich, ob wir nach der Schule was zusammen machen könnten.
„Wir gehen zu mir“, sagte sie. „Meine Mutter ist nicht da.“
Ihre Mutter war eine große, hagere Frau mit einem herben Zug um den Mund, ich hatte sie einmal in der Schule gesehen, auf einem Elternabend. Sie hatte Wind gemacht, weil die Schülerinnen, die im Chor oder im Orchester der Schule waren, immer fünfzehn Punkte in Musik bekamen, egal, was sie sonst so anstellten. Kathrin war nämlich nicht im Chor oder im Orchester und war unmusikalisch, dabei war ihre Mutter Klavierlehrerin, das Talent hatte sich wohl nicht vererbt. Ihre Mutter hatte Mumm an dem Abend, leider keinen Erfolg.
Sie wohnten in einem Mehrfamilienhaus im Norden von Großbeken. Sozialbau, überall waren Sprüche auf die Wände gemalt. „Keine Macht für Niemand“ „ Babas Mutter ist eine F....“
Ich mochte es dort. Keine reichen Säcke, die sich hinter ihren Mercedes verkrochen, sondern junge Typen in Jogginganzügen, die an ihren Karren rumschraubten und tagsüber Bier tranken. Biertrinken tagsüber wirkte unterschiedlich je nach Hintergrund. Am Büdchen in Kleinbeken kam es mir normal vor, hier wirkte es verwegen.
„Nicht so doll hier“, murmelte Kathrin. „Ich bin die Einzige in unserer Klasse, die nicht in einem Einfamilienhaus wohnt.“
„Ich kenne das“, sagte ich. „Du kennst ja Lissis Haus. Dagegen wohnen wir wie in einer Schrebergartenhütte.“
„Euer Haus ist doch toll. Ich finde es viel schöner als Lissis Haus.“
Jetzt tat es mir leid, dass wir überhaupt ein Haus hatten und Kathrin und ihre Mutter nicht.
„Kann