Gudrun Gülden

STÖRFÄLLE


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immer gedacht, dass ich Peter vermisste, weil ich ihn liebte. Aber Lissi fehlte mir, das tat richtig weh. Mir fiel auf, wie selbstverständlich es für mich immer gewesen war, dass Lissi da war. Ich meine, wir haben so viele Sachen zusammen das erste Mal gemacht, so dass ich immer an sie denken musste, wenn ich z.B. Wodka trinke oder so. Wir haben zusammen das erste Mal zusammen gekifft und so wie es aussah, auch das letzte Mal.

      Unsere Drogenkarriere schien vorzeitig beendet. Und wir hatten uns so richtig was auf unsere Kifferei eingebildet. Es ging nicht nur um das Kiffen, sondern um eine Weltanschauung. Lissi und ich hatten uns vom gewöhnlichen Volk abgesetzt und schauten leicht hochnäsig aus der äußersten Raucherecke vom Gymnasium auf die normalen Paffer. Apfelkorn-Idioten. Wir hatten einen Sprung gemacht. Den ersten Schritt weg von Kleinbeken. Wir hatten eigentlich noch gar nicht so richtig mit dem Kiffen angefangen und schon einen Mordsärger am Hals.

      Hippies

      Dadurch, dass ich Lissi nicht mehr treffen konnte, waren meine Nachmittage so interessant, wie die Kleinbekener Bushaltestelle nachts um drei Uhr. Manchmal hing ich mit den Jungs aus der Clique ab. Lissi hatte sie aufgetan, kurz vor ihrer Inhaftierung. Es waren andere Jungs als die aus Kleinbeken, die immer vor der Bushaltestelle rumhingen und auf den Bürgersteig rotzten.

      Es waren Hippies.

      Lissis Mutter nannte sie Gammler, meine Mutter Blumenkinder, Lissis Vater Nichtsnutze, mein Vater Aussteiger.

      Direkt neben unserem Gymnasium hatte die Stadt uns ein Souterrainladenlokal in einem runtergekommenen Haus zur Verfügung gestellt. Wir brachten alte Möbel von zuhause mit und nannten es Teestube, was nicht ganz abwegig war, denn wir durften dort keinen Alkohol trinken und tranken halt Tee, veranstalteten eine Teeparty, bei der es fünfzehn verschieden Teesorten gab und Lissi und ich unserer ersten Teeinrausch hatten. Wir verbrachten dort jede Stunde, die wir blau machten und manchmal hingen wir dort auch nach dem Unterricht ab, wenn wir nicht nach Hause wollten.

      Eines Tages kam eine Gruppe langhaariger, bärtiger Jungs, die wir noch nie gesehen hatten, in die Teestube. Sie hatten lappige Klamotten in undefinierbaren Farben an, alles so in Richtung Rosa, drehten ihre Zigaretten selbst und fuhren in einem VW-Bulli durch die Gegend. Sie kamen uns vor wie Jünger, die ein geheimes höheres Ziel hatten, das so geheim war, dass es niemand kannte.

      Ihr Anführer war Lukas. Auch wenn sie es nicht so sahen – sie hatten keine durchgängig anarchistische Gruppenstruktur und zufällig gehörte der Bulli Lukas und er hatte immer ohne Ende Dope. Er war groß, hatte besonders lange glatte Haare und hellblaue Augen. Als Lissis und sein Blick sich zum ersten Mal trafen, schauten sie sich minutenlang in die Augen und lächelten blödsinnig. Man signalisierte bei diesen Typen durch ewiges Anstarren gesteigertes Interesse. Auf keinen Fall schaute man woanders hin. Man saß total beknackt neben so jemanden, wenn gerade ein Anstarrmarathon lief, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Luft ist nichts dagegen.

      Ein Hippie im nördlichen Ruhrgebiet der späten siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ist schnell beschrieben. Das Wichtigste war, dass man ganz viel kiffte. Äußeres Erkennungszeichen für eine friedliche Gesinnung waren indische Kleidung und ein Peace-Zeichen auf dem Auto, wenn man kein Auto hatte, ging auch ein Lederhalsband mit Peace-Amulett. Lange Haare mit Mittelscheitel, auf jeden Fall ohne Pony, rundeten das Bild ab. Man war gegen den Staat, gegen Mercedes, aber eher so im Allgemeinen, tat keinem was Böses und solange die Eltern oder die Wohngemeinschaft einen mit organisch einwandfreiem Gemüse fütterten, war alles prima. Niemals hätte ein Kiffer eine bürgerliche Karriere im Blickfeld gehabt. Also ehrlich gesagt, waren wir international gesehen reichlich spät dran mit dem Hippiedings, aber in Hinsicht auf die Entwicklungsreife unserer Dorfbevölkerung vollbrachten wir einen Quantensprung. In Kleinbeken gab es noch welche, die hatten irgendwie nicht mitbekommen, dass der 2. Weltkrieg vorbei war.

      Nachdem Lukas und Lissi sich lange genug in die Augen geschaut hatten, waren sie zusammen. Lissi machte Schluss mit Stefan, dem blondgelockten Sohn vom HNO-Arzt in Großbeken, der Tennis spielte. Sie waren drei Jahre zusammen gewesen und Stefan nahm die Trennung schwer und hatte seitdem chronische Mandelentzündung.

      Außer Lukas gehörten noch Matte, Paul und Chrissi zum engeren Kreis. Matte war ein Musikfreak, er kannte jeden Musiker der Welt und kiffte ohne Ende. Er hatte lange braune Haare und war der Einzige in der Clique, der arbeiten ging, auf der Zeche Blumenthal in Recklinghausen. Paul war ein Großcousin von mir. Er hatte die Jungs durch Lissi und mich kennengelernt. Seit kurzem studierte er Tontechnik in Düsseldorf und war außerdem mein Musikdealer. Von ihm bekam ich kilometerlange Tonbänder, Mitschnitte von John Peels1 Sendung, aus der er sich dann die Bands suchte, die er für mich aufnahm. Ein besseres Geschenk gab es nicht. Seit Lissis sechzehntem Geburtstag war er mit Kathrin zusammen, mehr oder weniger.

      Chrissi war wohl der mieseste Jesusimitator, den die Welt gesehen hatte. Er trug bodenlange weiße Kleider und selbstverständlich Jesuslatschen. Sein schwarzes Haar lockte sich bis zum Hintern und er hatte immer Hunger.

      Kathrin hatte ich noch nie in der WG gesehen, ich glaube, ihr war es da zu dreckig.

      Ich fragte mich, ob mein Geschichtsreferendar Peter auch ein Hippie war oder was er war.

      Wir setzten uns zu den Jungs in den Bulli und schnallten, dass es was Anderes als Apfelkorn gab, um sich die Zeit zu vertreiben. Wir kifften, hörten Neil Young, Bob Dylan, Jefferson Starship und fühlten uns überlegen, weil wir für Frieden waren. Als hätten wir persönlich die Roten Khmer vertrieben.

      Lissi und Lukas sahen aus wie Hippiegeschwister, beide lange Haare, blaue Augen, groß und schlank in weiten indischen Klamotten. Lissi, die schnell die Grundsätze des Hippieseins begriffen hatte und sich das rausfischte, was sie schöner aussehen ließ und ihren Talenten entgegenkam, dazu Lukas, der hübsche Kerl mit Bulli, jeder Menge Hasch und einer ruhigen Art, die allerdings auch was mit seinem Haschkonsum zu tun haben konnte. Oft trafen wir uns nach der Schule bei Lukas in der WG. Wenn Lukas nicht da war, bestimmte Lissi, was wir machten, das war ok, weil keiner von uns Bock auf dieses hierarchische Gerangel hatten.

      Ich fand Abhängen und bekifft in der Gegend rumfahren nicht übel. Nach einer Weile häuften sich Zweifel in mir, ob ich so einen Beitrag für eine gerechtere Welt leistete. Und meinem Geschichtsreferendar brachte mich das auch nicht näher.

      Und ich weiß, wir werden die Sonne sehen

      Wir fuhren ohne Lissi zum „Ton, Steine, Scherben“-Konzert, obwohl wir das total blöd für Lissi fanden. Kathrin und Eveline kamen mit, Paul und Chrissi waren auch dabei.

      Lukas wollte uns in Kleinbeken abholen.Um Punkt zehn standen Eveline und ich frierend vor unserem Haus. Etwas Wärme kam von Papas Blicken, die in meinem Rücken brannten. Es schneite dicke Flocken und war so kalt, dass der Schnee verharschte. Das gab es selten im Ruhrgebiet, meistens zerschmolzen die Schneeflocken schon auf dem Flug zur Erde in einen grauen Matsch. Um elf Uhr gingen wir wieder rein, um halb zwölf kam Lukas.

      „Sehr zuverlässig, Eure Freunde“, sagte Papa. „Haben die keine Uhr?“

      Bis zur innerdeutschen Grenze hinter Braunschweig kifften wir ohne Ende. Wegen des Wetters kamen wir schlecht voran. Lukas spielte eine Kassette von den Scherben. Ich hatte noch nicht viel von ihnen gehört. In Lukas‘ WG stand ein Liedtitel von ihnen an der Wand: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Ich verstand den Spruch nicht so richtig, sobald ich länger darüber nachdachte, bekam der Spruch eine abartige Dynamik und ich hatte die Ausrottung aller Menschen vor Augen, besonders, wenn ich bekifft war, kam ich auf düstere Gedanken. Wenn ich besoffen war, hatte ich immer alle sehr lieb und wollte Peter anrufen.

      Chrissi fuhr voll auf die Musik ab. Er wippte seinen Kopf mit geschlossenen Augen nach vorne und sang ein paar Worte mit.

      Auf einmal riss er die Augen auf und bat uns, zuzuhören. „Wenn ich die Musik der Scherben höre, empfinde ich einen so tiefen Schmerz, ich bin verzweifelt und bekomme doch Hoffnung für die Menschen, die vom eintönigen Alltag und den beunruhigenden Botschaften von Mord, Gier und Skrupellosigkeit zermürbt werden“, sagte er.

      Wir