Gudrun Gülden

STÖRFÄLLE


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seit 1949 hatte das Ruhrgebiet schockgefroren. Die Straßen wurden von meterhohem Schnee gesäumt, wir bibberten im Eisregen und bei grausigen Temperaturen.

      „So ein Scheiß aber auch“, sagte Lissi. „Keinen Punkt! Scheiße, wie schmeckt denn der Kakao? Wegen dem Armloch bleibe ich noch sitzen.“

      Ende der siebziger Jahre führte das Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen, oder wer auch immer, eine Feldstudie namens Oberstufenreform durch. Obwohl wir ein altphilologisches Gymnasium besuchten, konnte man Laufächer wie Kunst oder Pädagogik als Leistungskurs wählen. Trotz der laschen Vorgaben hatte meine Freundin Lissi überall sauschlechte Noten. Jedes Mal, wenn mein Vater auf Lissis schulische Leistungen zu sprechen kam, brummelte er was von „Pudding-Abitur“, was auch immer das heißen sollte.

      „Denk dran, dass wir nächsten Samstag auf das Scherbenkonzert fahren“, sagte Lissi in meine Richtung.

      „Könnten Kathrin und ich vielleicht auch mit auf das Scherbenkonzert“, fragte Eveline so verkrampft, als ginge es hier um Geschlechtskrankheiten oder die Erbsünde.

      „Wenn ihr noch Karten bekommt“, sagte Lissi. „Ich hab von Lukas nur zwei, für Dine und mich.“

      „Wo gibt es die denn?“, fragte Eveline.

      „Tut mir leid“, sagte Lissi und schaute zu mir und verdrehte kaum wahrnehmbar ihre Augen. „Ich habe keine Ahnung. Wenn ihr Karten bekommt, könnt ihr gerne mitkommen, Lukas‘ Auto ist groß genug. Das Konzert ist übrigens in Berlin. Mal sehen, ob das Wetter mitspielt.“

      Eveline schaute auf ihre Schuhe. Moonboots mit Fransen.

      „Ich kann uns Karten besorgen“, sagte Kathrin. Sie war seit einem Jahr mit meinem Großcousin Paul zusammen, der an alle Konzertkarten der Welt kam. „Schöner Mantel, Lissi.“

      „Danke“, sagte Lissi. Sie trug einen dunkelroten Samtmantel, mit breitem Kragen. Der Mantel und sie darin sahen toll aus, aber man hätte Lissi auch einen Kohlensack umhängen können und sie wäre immer noch das hübscheste Mädchen der Schule gewesen. Außerdem schaffte sie es, Hippie-Klamotten zu finden, die sauteuer waren, aber nicht teuer aussahen, sondern total hippiemäßig. Man wollte genau solche Klamotten auch haben, aber das ging dann nicht mehr, denn Lissi erschlug Leute, die ihr was nachkauften. Aber man durfte auch nichts kaufen, was ganz anders aussah. Es musste also das Gleiche sein, aber doch etwas anders. Ich hatte keinen Ehrgeiz für Klamotten. Ich kaufte meinen Kram in Gelsenkirchen-Buer beim Indie-Egon, der ein übersichtliches Sortiment hatte. Schuhe kaufte ich im Sportgeschäft im Großbekener Zentrum. Ich zog nur Turnschuhe an.

      „Ej, ich kann mit dir lernen“, sagte ich. „Ich kann's dir nur anbieten.“

      „Das haben unsere Mütter auch schon beschlossen. Du sollst mir Nachhilfe geben“, sagte Lissi.

      „Was geht die das denn an? Wann war das denn?“, fragte ich.

      „Beim letzten Kaffeeklatsch.“

      „Aha“, sagte ich. „Meine Mutter hat mir nichts davon erzählt.“

      „Hat sie wohl vergessen nach der halben Flasche Eckes-Edelkirsch.“

      Ich erinnerte mich an einen Nachmittag, wan dem Mama beschwingt und mit rosa Wangen nach Hause kam und meinte, Lissis Mutter sei gar nicht so doof.

      „Klar können wir lernen, sag mir einfach Bescheid.“

      „Heute Nachmittag?“, fragte Lissi. Jetzt hatte sie es auf einmal eilig mit der Mathenachhilfe. Könnte mit der glatten Sechs zu tun haben, die sie heute für die Mathe-Klausur kassiert hatte.

      „Logo“, sagte ich.

      Ich war sauer über die Einmischerei unserer Mütter. Ich hatte Lissi schon zehn Mal angeboten, mit ihr zu lernen, es hatte sich halt noch nicht ergeben.

      Hauptsache, unsere Mütter hatten auch mal was festgelegt, wahrscheinlich bei zehn Kilo Sahnetorte (und Kirschlikör).

      Nach dem Unterricht krochen wir mit dem Schulbus nach Kleinbeken. Lissi und ich saßen immer in der letzten Reihe. Wie in der Schule.

      Es waren neun Kilometer von Großbeken nach Kleinbeken. Da der Bus ständig anhielt, dauerte die Fahrt eine Stunde. In Kleinbeken Zentrum stiegen wir aus. Das Zentrum bestand aus einem Platz mit zwei Kirchen, drei Kneipen und einem Büdchen, vor dem Andi sich ein Bier in den Hals schüttete.

      Andi

      Andi war jetzt nicht so der Typ modischer und geistiger Hoffnungsträger. Er trug immer Röhrenjeans, Schuhe mit Absätzen, trank ohne Ende Apfelkorn, redete pausenlos und beendete seine Witze immer mit 'der war aber jetzt echt lustig'. Aber als der alte Schröderjupp die Gisela an den Haaren nach Hause gezogen hat, da hat der Andi als Einziger was gemacht. Hat den Schröderjupp am Kragen gepackt und gefragt, ob er mal selber wissen wollte, wie das ist, sich von einem Stärkeren eine zu fangen. Wär' jetzt kein Thema, würd’ er ihm gratis zeigen. Die Anderen haben alle durch ihre sauberen Fenster geschaut und zugesehen, wie der Schröderjupp seine Frau den ganzen Loemühlenweg an den Haaren langgezogen hat und die hat echt laut geschrien. Der Andi ließ keinen hängen. Andi war mein Freund. Ab und zu tranken wir einen am Büdchen zusammen. Ich trank sowieso gerne einen, aber das war nicht der Grund, warum ich mit dem Andi einen trank. Auch wenn uns die Jahre auseinandergetrieben hatten, blieb er immer mein Freund. Unzertrennlich waren Andi und ich bis zum Ende der ersten Klasse in der Grundschule, dann ist er schon sitzen geblieben. Dann blieb er noch Mal backen und kam auf die Sonderschule. Wir zogen ans andere Ende von Kleinbeken. Weit weg für eine Achtjährige.

      Er hat nach der Sonderschule Steinmetz gelernt und ist ein ziemlicher Brummer geworden, was ihm und manch anderem bei Kloppereien zu Gute kam. Wenn man den ganzen Tag Steine hin- und herträgt, kommt man gut gegen die Sesselpupser an.

      Der Andi hat immer geholfen. Ob das jetzt um Frauen ging, die der Ehemann an den Haaren die Straße lang zog, um Tiere, denen jemand in den Bauch trat oder um Menschen, denen man ein Atommülllager vor die Nase setzt.

      Lauwarme Kohlen

      Beim Mittagessen (Frikadellen mit Erbsen & Möhren und Dampfkartoffeln) waren Mama und ich allein, Papa war nicht da. Normalerweise kam er zum Mittagessen nach Hause.

      Ich stocherte in dem Essen 'rum.

      „Jetzt iss bitte“, kauzte Mama.

      „Du isst doch selber nichts. Außerdem mag ich das nicht.“

      „Wieso das denn nicht?“

      „Weil ich keine Tierleichen esse, Dosengemüse hasse und die Kartoffeln bleiben einem ohne Soße im Hals stecken.“

      Der Grund, warum ich keine Kinder wollte, war ich selbst. Sobald ich mit meiner Mutter mehr als drei Worte sprach, hätte ich vor Wut platzen können. Vielleicht waren das verspätete Flegeljahre, keine Ahnung, ich war ungenießbarer als ihr Essen. Ich hätte das an ihrer Stelle nicht ausgehalten, aber Mama verfügte nicht gerade über eine legendäre Empathie.

      „Dann koch dir doch deinen Scheiß selbst“, meinte sie. „Kommt ja keiner zum Essen.“

      „Ich bin doch da“, sagte ich. „Ich zähl' wohl nicht.“

      „Du magst mein Essen nicht.“ Abgang Mama.

      Ich ging in mein Zimmer und stieß mir auf dem Weg dahin zweimal den Kopf.

      Wir wohnten in der Zechensiedlung von Kleinbeken, nördliches Ruhrgebiet. Nachdem die Auguste-Victoria in Großbeken dicht gemacht wurde, boten sie die leerstehenden Zechenhäuschen zum Verkauf an und mein Vater fand, dass das es eine super Idee wäre, in einem Zechenhäuschen zu wohnen. Er kaufte das Haus ohne jemanden von uns zu fragen. Das Haus war verwinkelt und klein, mit niedrigen Decken, was ungünstig war, weil wir eine große Familie waren. Nicht von der Anzahl her, aber von der Körpergröße. Papa war 1,89 m, Mama war 1,74 m, nicht klein für eine Frau ihres Jahrgangs. Ich war 1,78 m, das war für ein fast achtzehnjähriges