Elke Maria Pape

Mörderliebe


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aber auch gar nichts diesem Menschen noch helfen würde.

      Auf dem Hemd des Mannes hatte sich ein großer Blutfleck gebildet. Mit aller Kraft schob sie seinen großen schweren Kopf in eine gerade Position -- und blickte in starre, weit aufgerissene tote Augen.

      Auf diesen Anblick war sie trotz allem nicht vorbereitet gewesen. Irene Müller stolperte zwei Schritte zurück, schnappte hechelnd nach Luft und beugte sich vornüber, bis sie einigermaßen atmen konnte. Ihre Hunde bellten unaufhörlich. Aber sie sah es als ihre Pflicht an, sich in einem Notfall wie diesem zusammen zu reißen. Als sie sich wieder aufrichtete und sich zwang noch einmal hinzuschauen, bemerkte sie, dass in der Windschutzscheibe ein Loch war, von wo aus sich kleine Risse in alle Richtungen der Scheibe verteilten. Vielleicht ein Steinschlag, überlegte sie. Aber mit so gravierenden Folgen? Ich muss Hilfe holen! Sie stolperte zurück zu ihrem Toyota, riss die Tür auf und kramte wild in ihrer Handtasche. Schließlich hatte sie ihr Handy in der Hand. Die Hunde bellten immer noch. „Ruhig!”, herrschte sie ihre Schäferhunde an. „Seit endlich ruhig!” Überrascht über die plötzliche Lautstärke ihres sonst so sanftmütigen Frauchens verstummten die Hunde augenblicklich und legten sich mit reumütigen Blicken auf die Rückbank. Irene Müller wählte mit zittrigen Händen die Notrufnummer.

      „Tja.“, sagte Reinhard Köhler. „Das muss ziemlich heftig für die alte Dame gewesen sein. Sie hat mir gestanden, dass sie trotz ihres hohen Alters noch nie einen Toten gesehen hat.” Karla dachte an gestern Abend zurück, wie sie und Reinhard an diesen Ort mitten im Wald gerufen wurden. Es war schon 19.30 und sie wollten gerade Feierabend machen, als der Anruf kam. Zwei Beamte von der Polizeistreife, die aufgrund des Anrufes von Irene Müller zur Unfallstelle gefahren waren, hatten ziemlich schnell gemerkt, dass es sich eben nicht um einen normalen Unfall handelte. Ihnen waren sofort das Loch in der Scheibe und das seltsame Verletzungsmuster des Mannes aufgefallen und sie hatten die Kriminalpolizei informiert.

      Als Reinhard und Karla in dem Waldgebiet ankamen hatten ihre Kollegen bereits den Rest der Landstraße gesperrt. Einer der Streifenbeamten, ein stattlich wirkender älterer Beamter, den Karla von anderen Einsätzen kannte, kam auf sie zu. Er begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. „Das müsst ihr euch mal anschauen.”, sagte er. „ Das ist kein normaler Unfall. Die Scheibe, die Verletzung des Mannes! Sieht eher wie ein Schuss aus!” „ Okay.” Karla zog sich ein Paar Handschuhe über. „Wir werden sehen. Sie haben hoffentlich nichts angefasst?” „Ich nicht.”, antwortete der Beamte. „Aber die Dame dort drüben.” Er zeigte auf Irene Müller, die in einiger Entfernung noch immer stark zitternd an ihr Auto gelehnt stand. „Na ja, sie hat halt gedacht, dass sie ihm noch helfen konnte. Daher hat sie seinen Kopf bewegt.” „Ja, ja...”, erwiderte Karla. „Wir werden uns die Sache erst mal ansehen.” Zusammen mit Reinhard ging sie zu dem Mercedes herüber.

      Karla schluckte. Es kostete doch immer wieder Überwindung, sich einen Toten genau anzusehen.

      Gott sei Dank kam das nicht zu häufig vor. Schweigend untersuchten sie den Mann. Sein Kopf lag zurückgebeugt im Nacken und es schien, als starrten seine Augen zur Wagendecke. Karla knöpfte vorsichtig die oberen Knöpfe von seinem Hemd auf. Durch das viele, bereits geronnene Blut fühlte sich das Hemd an, als wäre es aus Pappe und würde jeden Augenblick zerbrechen.

      „Unser Kollege hat Recht. Informiere bitte den Rechtsmediziner.“ Karla wandte sich Reinhard zu, der die Scheibe untersuchte. Er nickte: „ Ja, dies hier ist eindeutig ein Einschussloch!”

      Kurze Zeit später waren bereits die angeforderte Spurensicherung und der zuständiger Kollege von der Gerichtsmedizin eingetroffen. Karla und Reinhard überließen ihnen das Feld und gingen auf Irene Müller zu, um sie noch einmal genau zu den Geschehnissen zu befragen. Viel bekamen sie nicht aus ihr heraus. Eine junge Polizeibeamtin mit einem langen blonden Zopf, der geflochten unter ihrer Polizeikappe hervorlugte stand ihr zur Seite und tätschelte beruhigend den Arm der Frau. Behutsam sprach sie auf die alte Dame ein, die noch immer unter Schock stand. Da sie nicht mehr in der Lage war, ihr Auto zu fahren, wurde ein Kollege damit beauftragt, sie und ihre beiden Hunde nach Hause zu bringen, wo sie von ihrem Mann bereits erwartet wurde. Mehr konnte man im Moment nicht tun.

      Reinhard und Karla wandten sich wieder den Kollegen der Kriminaltechnik zu. Einer der vermummten Männer in den weißen Schutzanzügen kam auf sie zu. In der Hand hielt er den Führerschein des Toten, den er im Handschuhfach gefunden hatte. Karla sah ihn sich genau an. „Hier.”, sagte sie zu Reinhard Köhler. „Der Mann wohnte hier ganz in der Nähe. Nur ein Dorf weiter. In fünf Minuten wäre er zu Hause gewesen. Er heißt Fritz Olischewski und ist 41 Jahre alt. War 41 Jahre alt.“, verbesserte sie sich.

      „41?” Reinhard wunderte sich. „Ich hätte ihn bedeutend älter geschätzt. Mein, Gott! Ich kann mir jetzt schon denken, was uns gleich erwartet, wenn wir die Adresse aufsuchen. Eine in Tränen aufgelöste Ehefrau und wahrscheinlich noch ein paar kleine Kinder, die auf ihren Papa warten.” Karla nickte. In solchen Momenten hasste auch sie ihren Job.

      Es dämmerte schon, als sie später in Richtung des nächsten Dorfes fuhren, wo Fritz Olischewski gelebt hatte. Die Spurensicherung war abgeschlossen, der Wagen des Mannes zur Untersuchung abgeholt und die Leiche in das nächste Gerichtsmedizinische Institut transportiert worden. Karla merkte, dass Reinhard, wahrscheinlich unbewusst, sehr langsam fuhr, um möglicherweise die Zeit bis zur Überbringung der schrecklichen Nachricht noch ein bisschen hinauszuzögern. In dem kleinen Dorf mit rund fünfhundert Einwohnern war es nicht schwer, die Adresse zu finden, obwohl mittlerweile fast schon die Dunkelheit eingesetzt hatte.

      Bei dem Haus handelte es sich um ein Reihenhaus, welches in der Mitte einer Dreiergruppe stand. Alle drei Häuser hatten kleine, aber pedantisch gepflegte Vorgärten, so als wollten sich die Besitzer gegenseitig übertrumpfen in der Auswahl der Sträucher und Blumen. Bei dem Haus der Olischewskis kamen noch unzählige, etwas kitschig angehauchte Tonfiguren dazu, die überall auf dem Beet und am Treppenabsatz herumstanden. Karla schellte und sah schemenhaft durch das dunkle Glas der Haustür einen Kinderbuggy im Flur stehen. Ihr wurde ganz mulmig ums Herz. Zunächst hörten sie nichts, aber nach nochmaligem Schellen ging im Haus eine Tür auf und man konnte eine zierliche Frauengestalt erkennen, die sich zögerlich Richtung Haustür bewegte.

      „Ja bitte?” Eine Frau, dunkelhaarig, Anfang 30, hatte die Haustür einen Spalt breit geöffnet und schaute erstaunt auf Karla Albrecht und Reinhard Köhler. „Frau Olischewski?”, fragte Karla. Die Frau nickte. „Mein Name ist Karla Albrecht und das ist mein Kollege Reinhard Köhler. Wir sind von der Kriminalpolizei.” Beide zeigten ihre Ausweise, die Frau Olischewski sorgfältig betrachtete. „ Können wir hereinkommen? Wir müssen mit Ihnen reden.” Frau Olischewski gab ihnen die Ausweise zurück, machte jedoch keine Anstalten die Haustür weiter zu öffnen.

      „Mein Mann ist noch nicht da!”, sagte sie. „Muss wahrscheinlich wieder länger arbeiten. Ich weiß nicht, ob ihm das recht wäre, wenn ich Sie hereinlasse.” „Das geht schon in Ordnung.”, sprach Karla in einem sanften Tonfall. „Bitte, wir müssen mit Ihnen reden!” Jetzt öffnete sie die Tür und Karla und Reinhard folgten ihr in das Haus. Frau Olischewski ging voran in Richtung Wohnzimmer. Reinhard blickte sich um. Das Haus war genauso penibel sauber und aufgeräumt wie der Vorgarten. Er fühlte sich in solchen Häusern äußerst unwohl und er hatte außerdem Angst vor der Reaktion der Frau. Ein Blick auf seine Kollegin sagte ihm, dass es ihr genauso ging. Beide hatten schon öfters Todesnachrichten überbracht, und doch war es jedes Mal anders. Manche Angehörigen brachen völlig zusammen, weinten oder schrien hysterisch, andere wurden unnatürlich ruhig und starrten an die Wand, schienen die Nachricht nicht wahrnehmen zu wollen. Es gab sogar welche, die schienen erleichtert zu sein oder im schlimmsten Falle sogar froh.

      Frau Olischewski zeigte keine von diesen Reaktionen. Im Grunde genommen reagierte sie überhaupt nicht. Sie blieb auf ihrem Sofa sitzen, schaute die beiden Kriminalbeamten mit genau demselben neutralen Blick an, den sie schon vorher aufgesetzt hatte, bevor Karla ihr behutsam den Tod ihres Ehemannes mitgeteilt hatte. Die Schusswunde hatten sie erst mal nicht erwähnt. „Kann ich Ihnen denn etwas zu trinken anbieten, einen Tee vielleicht. Für Kaffee ist es ja schon ein bisschen spät. Ich muss leise sein in der Küche. Unsere Tochter Pia schläft schon, wissen Sie, aber einen Tee kann ich