Imke Borg

Vom Leben verlassen


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kennengelernt, völlig anders als sie es erwartet hatten. Überall sorry, please, thank you, excuse me, fast in jedem Satz. Die englische Höflichkeit ist also keine leere Floskel. Und lustig waren immer wieder die ganz speziellen Rituale, wie beispiels- weise das Schlangestehen. Respektvoll, diszipliniert und geduldig harrten die Briten aus, einer hinter dem anderen, ob beim Bäcker, an der Bushaltestelle, überall herrschte diese besondere Ordnung. Monika und Peter mussten sich da erst mal dran gewöhnen. Gar nicht so leicht wenn man aus einem Land kommt, wo eher Haufenbildung, Hemdsär- meligkeit und Ellbogentechnik angesagt sind. Und bei jedem Smalltalk ging es auf der Insel zuerst einmal ums Wetter. So war es dann auch nicht verwunderlich, dass die Engländer bei jedem Sonnenstrahl in hochsommerlicher Kleidung rumliefen, während Monika und Peter bei gerade mal dreizehn Grad noch ihre Fleecejacken überzogen. Die Briten sind schon ein eigenes Volk, ganz anders als der Rest Europas, irgendwie aus der Zeit gefallen. Und das wusste und äußerte vor Jahren schon ein britischer Premier. „Unsere Geografie hat unsere Psychologie geformt. Wir haben den Charakter einer Inselnation. Wir können unsere britischen Empfindlichkeiten so wenig ändern wie wir den Ärmelkanal entwässern können.“ So sind sie eben die Briten. Sie lieben ihre Traditionen und klammern sich daran fest. Beispielsweise werden die Ge- richtsurteile noch von Männern in Perücken gesprochen und im Unterhaus sitzen die Abgeordneten bei ihren Debat- ten noch so wie im Mittelalter. Auf Festlandseuropäer wirkt alleine schon die Sitzordnung ungewöhnlich und kurios. Da sitzen sich Gentlemen und Ladies auf grünen Bänken gegen- über. Den Komfort eines eigenen Stuhls kennen sie dort nicht. Und im Teppich verläuft beidseitig eine rote Linie, die von keinem der Redner übertreten werden darf. Zwei Säbellängen Abstand müssen schon sein. Und in diesem Ambiente treffen sich die Abgeordneten jeden Mittwoch. Und jeden Mittwoch das gleiche Ritual, sie grölen und fet- zen und schreien sich nieder, mal auf hohem und mal auf weniger hohem Niveau, ganz so wie auf dem Djemaa el fna in Marrakesch. Aber die Briten mögen ihr robustes, lebhaf- tes Parlament. Grabesstille wie im Resteuropa, wo man sogar eine Stecknadel fallen hört, wollen sie nicht. So ist sie eben die feine englische Art. „Wir Deutsche brauchen eigentlich gar nicht weit zu rei- sen, wenn wir was Exotisches erleben wollen. Eines unse- rer Nachbarländer tut`s doch auch“, amüsiert sich Peter beim gemütlichen Absitzen am Abend. „Ja, so extrem hab` ich es mir auch nicht vorgestellt. Die Briten sind schon speziell, irgendwie auch ein bisschen schrullig, aber trotz allem lieb und nett.“ „Stell dir mal vor, uns hätte im Pub niemand gesagt, dass wir hier selber aktiv werden müssen, wenn wir nicht ver- dursten wollen. Wir säßen doch noch heute dort und war- teten auf die Bedienung.“ Und dann ziehen sie bei ihrem spärlichen Abendbrot weiter über die Briten her und ihre lustigen Kuriositäten. Sie erin- nern sich an den Pancake Day, ein Pfannkuchenrennen, das an Fastnachtsdienstag die Fastenzeit einläutet. Butter, Milch und Eier sollen noch vor Beginn der Fastenzeit aufgebraucht werden. Und deshalb rennen die Ladies mit Bratpfanne und ihrem selbstgebackenen Pfannkuchen, der während des Laufs sogar noch gewendet werden muss, um die Wette. Im Südwesten Englands in der Region Gloucestershire gibt es schon seit der Römerzeit einen anderen verrückten Brauch, das Käserollen. Einen steilen Hügel hinunter liefern sich Ladies und Gentlemen ein Wettrennen gegen einen Käselaib, den strohgelben Gloucester, der es nicht selten auf Geschwindigkeiten bis zu 110 Stundenkilometer bringt. Bezwungen soll diesen Käse bisher noch niemand haben.

      Aber als Monika und Peter dann die Abendnachrichten an- schauen, vergeht ihnen schlagartig das Lachen, denn was sie auch jetzt über London erfahren, klingt mal wieder höchst beängstigend. Selbst Ärzte, Schwestern und Pfleger, auch weitere Beschäftigte von Kliniken seien erkrankt, man- che auch verstorben. Und die Krankenhäuser platzten aus allen Nähten. Immer mehr Personen würden eingeliefert, aus allen Bezirken und Lebensbereichen der Hauptstadt kämen die Erkrankten. Auch Ausländer seien darunter. Unter der Bevölkerung steige die Angst. In der Stadt würde es so langsam chaotisch und unübersichtlich. So kennt man das von den Engländern nicht. Ihren exakt geregelten Alltag gibt es nicht mehr. Die Menschen rennten umher, drängel- ten in den Läden, deckten sich mit Lebensmitteln ein. Die höchst beeindruckende Ordnung gehört längst der Ver- gangenheit an. „Wer weiß was da noch auf uns zukommt? Also jetzt mache ich mir richtig Sorgen, vielleicht ist es ja doch Ebola oder vielleicht auch ein Anschlag, und wieso weiß man noch immer nichts darüber, nun sag doch auch mal was, Peter.“ Und so redet Monika noch einige Minuten weiter ohne Punkt und Komma, ohne Luft zu holen. So passiert es immer dann, wenn sie extrem aufgeregt ist. Aber sie ist ja auch zutiefst besorgt und diesmal nicht ohne Grund.

      Sobald die Nacht morgen dem Tag weicht, wollen Peter und Monika aufbrechen zu ihrer letzten Etappe bis nach Hause. In der Boulangerie am Ort kaufen sie noch ein paar fluffige Schokocroissants für unterwegs. So gut wie in Frankreich sind die in Deutschland nicht. Sie wissen schon, gesund sind die auch nicht unbedingt aber besonders lecker. In aller Frühe schmeißen sie den Riemen auf die Orgel und schrubben durch bis nach Hause. Die Sommer- monate verbringen sie gerne in Deutschland. Da passt das mit dem Wetter noch. Im Garten gibt es immer was zu tun und der nahe Wald lädt zu ausgedehnten Spaziergängen mit den Vierbeinern ein. Das muss auch sein, denn nach dem stundenlangen Rumsitzen und Rumlungern im Wohnmobil sehnen sich die Zwei nach Bewegung. Peter ist, obwohl schon Mitte sechzig - aber so alt fühlt er sich nicht - noch recht fit und aktiv, und so soll es auch bleiben. Auch Monikas Lebensgefühl gaukelt ihr ein anderes als ihr tatsächliches Alter vor. Dass sie sich den sechzig nähert, sieht man ihr jedenfalls nicht an. Sie ist acht Jahre jünger als Peter und steht dem, was die körperliche Fitness angeht, in nichts nach. Zweimal die Woche wird eine halbe Stunde gejoggt. Die beiden Hunde dürfen da selbstverständlich mit.

      John Bancroft, England, Anfang August 2022

      Jeden Morgen fährt John Bancroft von seiner Heimatstadt St. Albans, einer Stadt mit zirka 140 000 Einwohnern, ins 35 Kilometer entfernte London, ins dortige Bankenviertel, den größten Finanzhandelsplatz der Welt, in die City of London. Die gilt als exterritoriales Gebiet und gehört nicht zu Groß- britannien. Selbst die Queen kommt um eine Anmeldung wie bei einem Staatsbesuch nicht herum, wenn sie diese Square Mile betreten möchte. Dort gelten auch völlig ande- re Gesetze. Die meisten britischen greifen dort nicht. Die City of London Corporation hat ihre eigene Staatlichkeit und überwacht sich selbst. Ihre Manager handeln mit Wertpa- pieren und Devisen über alle Grenzen hinweg. Und einer der Fondsmanager ist John Bancroft, ein großer, schlanker, unauffälliger, normaler Mann mittleren Alters. Nicht selten sorgte er für beträchtliche Umsätze und Gewinne. Entspre- chend gut ist auch sein Verdienst, er steht aber auch stän- dig unter Strom. Wie oft schon stieß er an seine Grenzen. Ganz spurlos geht dieser Dauerstress nicht an einem vorbei. So einen enormen Druck halten nur wenige lange aus. „Noch fünf Jahre, dann ist Schluss“, hat Bancroft für sich beschlossen. Wenn der Job das komplette Familienleben verschluckt, dann muss eine Wende her. Und seit dem Brexit ist sein Job auch nicht gerade einfacher geworden. Mit seinem Maybach fährt er soeben vor bis zur Security. Seinen Ausweis muss er nur noch pro forma hochhalten, man kennt ihn. Auf einen eigens für ihn reservierten Platz lenkt er den Wagen hin. Heute ist der Parkplatz auffallend leer, stellt er nachdenklich fest. Vielleicht sollte er doch auf Doreen, seine Frau, hören und seinen Job vom Home-Office aus erledigen. Eine der Angestellten erzählt ihm im Aufzug soeben besorgt von mehreren Kollegen, die erkrankt seien, es sollen auch bereits zwei verstorben sein. Ihm wird mul- mig. In seinem Büro dann erwartet ihn schon ungeduldig Janet, seine Sekretärin. „Hallo John“. „Hallo Janet, gibt`s schon was Neues?“ „Und ob, soeben hat die Regierung die Bevölkerung über Rundfunk gewarnt.“ „Wie, was heißt gewarnt?“ „Sie hat dazu aufgefordert dass all diejenigen zu Hause blei-ben sollen, die nicht unbedingt in die Stadt müssen.“ Janet ist eine pflichtbewusste aber herzliche Person und mit ihren grauen Glubschaugen in einem etwas zu breit gerate- nen Gesicht wahrhaftig keine Augenweide. Aber durch ihre warmherzige und liebenswerte Art schaut man über solche Äußerlichkeiten hinweg. „Wenn jemand das Herz auf dem rechten Fleck hat, dann Janet“, das hat John so schon häufig über Janet gesagt. „In Anbetracht der Lage bleiben bis auf weiteres alle Schu- len geschlossen und alle öffentlichen Veranstaltungen wer- den abgesagt“, berichtet sie weiter. „Das hört sich gar nicht gut an. Janet, du packst jetzt deine Sachen zusammen und fährst nach Hause. Hier brauche ich dich in nächster Zeit nicht.“ Nach den dramatischen Ereignissen wird es auch John Bancroft langsam mulmig. Und dann, urplötzlich, reißt