Imke Borg

Vom Leben verlassen


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eh keinen Bestand. Doch jetzt steht er da, völlig außer Atem, mit Schweißperlen auf der Stirn. Sein sonst akkurat nach hinten gekämmtes Haar fällt ungezügelt über beide Ohren. Und total nervös knabbert er mit den gebleichten Zähnen auf seiner Unterlippe rum. „Was ist los mit dir Fred, so hab` ich dich ja noch nie erlebt.“ „Das fragst du noch, hörst du denn keine Nachrichten? Und schau dir doch mal die Aktienkurse an, die fallen doch gerade dramatisch. Was soll ich nur tun? Ich weiß nicht mehr weiter.“ Bancrofts Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen gräbt sich tiefer in seine Stirn. „Nur keine Panik, jetzt setz dich erst mal hin und behalte einen kühlen Kopf. Denn im Moment ist es ja erst mal nur ein rein britisches Problem“, versucht er Miller zu beruhi- gen. „Ja, aber was sage ich meinen Leuten? Die sind alle höchst angespannt und zutiefst verunsichert.“ „Das überlasse ich dir und deinen Mitarbeitern ob ihr weiter hier sein oder besser von zu Hause aus agieren wollt. Mehr können wir im Moment nicht tun. Wir müssen erstmal die weitere Entwicklung abwarten. Ich jedenfalls fahre gleich nach Hause, beziehe mein Home Office, und in zwei Stun- den reden wir dann weiter über Skype.“ Aber Miller bereitet nicht nur der Börseneinbruch Kummer; der tangiert ihn nur am Rande. Um seine eigene Gesundheit ist er zutiefst besorgt, zumal er gerade glaubt ein leichtes Kratzen im Hals zu spüren. Ob das nur eine Erkältung oder gar eine Grippe wird oder noch viel schlimmer womöglich schon das erste Anzeichen für diese todbringende Seuche ist? Er versucht seine Panik zu verbergen. Das fällt ihm überhaupt nicht leicht. So ein bisschen was hat er schon vom Hypochonder. In seinem Büro, einem relativ sterilen Raum, stellt er zuerst einen Klappspiegel neben einen seiner Monitore, auf denen Kurven, Zahlen und Grafiken in ständiger Bewegung sind. Dann holt er die Taschenlampe, die er immer mit sich führt, aus dem Aktenkoffer, rückt seine zeitlose Hornbrille zurecht und leuchtet dann in seine Mundhöhle, inspiziert diese gründlichst. Sein besorgter Blick verrät diesmal nichts Gutes. Der weiße Belag auf seiner Zunge gefällt ihm gar nicht. Aber so ist er eben. Von einem leichten Rumoren im Bauch fehlt bei ihm nicht mehr viel bis zum Bauchspeicheldrüsenkrebs und das Kratzen im Hals könnte auch Kehlkopfkrebs sein. So gut es geht, ver- sucht er aber allen Infekten vorzubeugen. Ohne Desinfek- tionsspray und ohne Toilettensitzabdeckungen wagt er sich nie aus seiner Behausung. Auch Fieberthermometer und Blutdruckmessgerät gehören zu seiner täglichen Grundaus- stattung. Regelmäßig wird der Arbeitsplatz mit Hygienetü- chern desinfiziert, inklusive Tastatur. Und in seinem Büro stehen etliche Wasserflaschen aus dem Supermarkt parat für seinen Tee. Der schmecke ihm sowieso damit besser als mit dem Leitungswasser, sagt er. Aber der wahre Grund ist, dass er dem Wasser aus der Themse nicht über den Weg traut, erst recht nicht seit die Londoner Wasserwerke an einen Investor verkauft wurden. Trau schau wem, so sein Credo.

      Janet wartet noch immer, sitzt regungslos da, bis sie sich schließlich doch aufrappelt um ein paar Sachen zusammen- zusuchen. Sie ist schon eine treue Seele. Seit mehr als fünf Jahren arbeitet sie mit Bancroft. Der räumt nur noch seinen eigenen Kram in eine Stofftasche. Die Thermoskanne mit seinem Biotee und sein eingetuppertes Käsebrot wird er wieder unangerührt mit nach Hause nehmen. Er ist halt ein wahrer Gesundheitsfanatiker, so ein Typ Ökotrophologe, Nichtraucher, Alkohol nur selten, am Wochenende eine Stunde walken und kein Gramm zu viel auf den Rippen. Ja, er hat so seine Marotten, besonders was das Essen anbe- langt. Rasch steckt er noch seine restlichen Unterlagen in den Aktenkoffer und nimmt seinen Laptop. Bevor er sich von Janet verabschiedet, wirft er noch einen letzten Blick auf die Aktienkurse. „Gut sieht anders aus“. „Denk dran, dein Satellitentelefon mitzunehmen, man weiß ja nie“, rät Janet. „Gute Idee, dann nimm du das andere aus meinem Schreib- tisch mit.“ „Danke, mach` ich gern. Ich werde übrigens nicht in London bleiben, ich fahre sicherheitshalber zu meiner Tante aufs Land. Das wird mir vielleicht nicht schlecht bekommen. Im Moment fühle ich mich eh etwas schlapp, scheint eine Grippe im Anmarsch zu sein.“ „Dann erhole dich mal ein wenig und lass dich von deiner Tante verwöhnen.“ „Das hätte ich ja beinahe vergessen, in einer Stunde will die Premierministerin sich zur Lage der Nation an die Bevölke- rung wenden.“ „Da bin ich aber mal gespannt drauf. Und du, liebe Janet, genieß das Landleben und die gesunde Luft. Mach es gut, wir hören voneinander.“ Und dann macht er sich auf den Heimweg. Seine Leinen- hose schlottert bei jedem Schritt an seinen dünnen Beinen rum und bedeckt noch nicht mal seine Knöchel. Aber auf solche Äußerlichkeiten legt er keinen Wert.

      John Bancroft arbeitet nun von zu Hause aus, so gut es eben geht. Er lebt mit seiner Frau Doreen und seinen zwei Kin- dern seit vielen Jahren hier in St. Albans in einem Reihen- haus, etwas abseits der Hauptstraße. Den handtuchgroßen Vorgarten zieren drei Hortensienbüsche. Der Garten hinter dem Haus gleicht einem Badetuch und hat gerade mal Platz für einen gepflegten Rasen, der von Staudenbeeten einge- rahmt ist. Im Haus der Bancrofts darf man keine durchge- stylte Wohnung erwarten. Die neuesten Designermöbel braucht Doreen nicht. So wie die meisten Briten liebt sie es eher individuell. Der Trend zum Minimalismus konnte sich auf der Insel nicht durchsetzen. Vereinsamte Möbelstücke sind Doreen ein Graus. Und so zeigen englische Wohnungen keinen bestimmten Lebensstil, englische Wohnungen zei- gen Leben. Mit viel Geschick hat auch Doreen wenige moderne Einrichtungsgegenstände mit ihren Antiquitäten kombiniert. Sie stöbert gern auf Flohmärkten und bei Auktionshäusern, ist immer wieder auf der Suche nach ausgefallenen Lieblingsstücken. Das Haus insgesamt gese- hen hat Doreen mit hochwertigen Materialien ausgestat- tet, Tapeten, Gardinen, Tischdecken, alles nur vom Fein- sten. Goldgerahmte Ölgemälde englischer Landschaften gehören ebenfalls in ihr etwas überdekoriertes Zuhause. Und die schweren Teppiche auf dem Holzfußboden verlei- hen dem gesamten Wohnbereich trotz alledem eine recht behagliche Atmosphäre und fangen zudem noch Geräusche auf. Das Chesterfield Sofa darf da natürlich auch nicht fehlen. Dort genießen John und Doreen an den Wochen- enden ihren Nachmittagstee, mit geradem Rücken, so wie es schon bei den Adligen Sitte war, ganz nach der Maxime „my home is my castle“.

      John Bancrofts Arbeitszimmer liegt in der obersten Etage. Die kleinen Gaubenfenster spenden ihm nur wenig Tages- licht und der Ausblick nach draußen beschränkt sich gerade mal auf ein bisschen Himmel. Bei allem Reichtum hält er es für sich selber relativ bescheiden nach der Devise „klotzen statt protzen“, mit Ausnahme seines Maybachs. Doreen ist voll zufrieden mit ihrem Leben in St. Albans, einer entzückenden mittelalterlichen Stadt, für sie die schönste Stadt der Welt. Immer wenn sie aus einem Urlaub zurückkehrt und schon von weitem die Kathedrale sieht, die ihre Stadt dominiert, dann hat sie dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, sie ist wieder zu Hause angekommen. Die vertraute Umgebung gibt ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Doreen ist in St. Albans geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nur zum Studieren hat sie ihre Stadt verlassen. Und dann hat sie während ihres Studiums im nahen Cambridge John Bancroft kennengelernt, einen Stu- denten der Betriebswirtschaft. Und nur wenige Monate nach ihren Examen haben die Beiden geheiratet und Do- reen hat schon bald innerhalb von drei Jahren zwei Töch- ter zur Welt gebracht. Seitdem findet sie die Erfüllung in einem Leben als englische Hausfrau. Aus einer schlanken jungen Studentin mit rotblonden Haaren hat sich nach neunzehn Jahren mittlerweile eine stattliche selbstbe- wusste Lady entwickelt, mit allem Drum und Dran. Doreen ist etwa 1,70 m groß, nicht mehr ganz so schlank, aber mit allen weiblichen Reizen ausgestattet. Und die zeigt sie gern, vor allem jetzt im Sommer. Wenn ihre sonst blasse Haut sich in eine pinkfarbene verwandelt, kommen die in ihren gut belüfteten Oberteilen erst so richtig zur Geltung. Volu- minöse figurumschmeichelnde Säcke sind nicht so ihr Ding. Und weil ihr die meisten Kleidungsstücke von der Stange viel zu schlicht sind, werden die mit amüsanten Details aufgemischt. Mit Bändern, Federn, Applikationen und Glitzersteinen schmückt sie die langweiligen Sachen aus um ihrem Outfit das gewisse Etwas zu verleihen. Da ist sie sehr einfallsreich. So aufgemotzt trifft sie sich dann mit ihrer Freundin, einer im Gegensatz zu ihr eher hageren Frau, in einem der wunderschönen Parks oder auch mal zum Shopping in ihrer Stadt, so wie auch heute. „Ich suche ein hübsches Sommerkleid, Doreen. Du kennst ja meinen Geschmack und stehst mir sicher mit Rat und Tat zur Seite“, sagt sie. „Aber ja doch, jetzt hoffen wir nur, dass du diesmal auch etwas Passendes findest.“ Weil Doreen jedoch weiß wie die Freundin tickt, weiß sie schon im Voraus, dass die auch diesmal wieder mit leeren Händen nach Hause geht. Sie kennt ihre Freundin durch und durch, und das seit Jahrzehnten. Warum sollte das diesmal anders abgehen als sonst. Helen beschreibt mal wieder präzise ihr angebliches Traumkleid, mit Rüschen und Spitzen überladen. Da weiß Doreen schon jetzt, auch aus eigener Erfahrung, ein solches Kleid mit so vielen Accessoires, wird die liebe Helen natürlich