Jules van der Ley

Pataphysikalische Geheimpapiere


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dem Mann willenlos 30 Euro aus, er gibt mir einen Schlüssel, skizziert mir, wie ich die Pension finde, und schon bin ich auf der Treppe nach unten. Den Teppich schaue ich nicht mehr an, denn wenn ich Ekelherpes möchte, zahle ich nicht auch noch 30 Euro dafür.

      Die Skizze stimmt nicht. An einer Tierbedarfshandlung frage ich eine Frau, die gerade mit ihrer Tochter aus dem Auto gestiegen ist, nach dem Weg. Wir sind uns sogleich sympathisch, und sie hilft mir nach Kräften. Garantiert würde sie mich bei sich lesen lassen. Aber ich habe leider schon die Pension bezahlt und den Schlüssel in der Tasche. Ja, so ist das, wer mit Vorurteilen in eine Stadt fährt, hat die bitteren Konsequenzen zu tragen.

      Das unansehnliche Haus steht auf der Ecke einer stark befahrenen Straße. Inzwischen hat es heftig zu regnen begonnen. Die schmutzige Haustür, das vernachlässigte Treppenhaus, das alles ist mir egal. Ich will nur noch ins Trockene und ein Bett. Die Zimmer sind auf der ersten Etage. Man kann sich nicht verlaufen, denn der Treppenabsatz der zweiten Etage hat eine Barriere aus stark riechenden Schuhen. Hinter einer Tür tut sich eine große, fensterlose Diele auf, die eine Küche und einen Wohnbereich beherbergt. Mein Zimmer liegt zur Straße hin. Es ist ziemlich geräumig, weshalb ich in den Keller gehe und mein Fahrrad hoch hole. Ich will es lieber bei mir haben. Im Keller läuft eine Waschmaschine, und vor ihr auf dem Boden … was ist das? Sind es nasse Lumpen? Ein Toter, der sich festgetreten hat? Zweifellos bin ich auf einer pataphysikalischen Forschungsreise, aber das zu erforschen, dazu bin ich einfach zu schwach. Beim erneuten Aufschließen der Tür habe ich die Klinke in der Hand, und ich beschließe, sie vorerst mit hinein zu nehmen. Einst hatte das Zimmer Wandleuchten, doch davon sind nur noch die Kabel da. Es gibt aber in die Decke eingelassene Spots, scheinbar wahllos angeordnet. Erst am späten Abend erkenne ich darin das Sternbild des großen Wagens. Ob seine Hinterachse aber genau zum Polarstern zeigt, kann ich nicht überprüfen, der Regenwolken wegen.

      Das Bett steht unterm Fenster, und so wiegen mich prasselnder Regen, zischende Reifen und der brausende Verkehr in den Schlaf. Als ich erwache, tönt RTL 2 durch die Diele, und raue Worte werden gewechselt. Ich gehe hinaus, um zu sehen, wer meine Nachbarn sind. Da steht einer in Unterwäsche, kämmt sich die frisch gewaschenen Haare und redet durch die offene Tür mit einem Zweiten. Man fühlt sich offenbar wie zu Hause, ist wohl schon länger in diesem Etablissement. Es gibt übrigens drei Duschen. In der größten hat der Unterhosenmann seine Utensilien ausgebreitet. Die angrenzende Dusche liegt voller Schutt. Die dritte ist so eng, dass man für die erforderlichen Bewegungen einen Plan machen muss. In allen Duschen sind Fliesen heraus geklopft, so dass man einen guten Eindruck von der Beschaffenheit und Anordnung der Rohrleitungen bekommt. Wenn jemand zufällig einen Film über eine Räuberhöhle drehen will, ich wüsste eine passende Lokation.

      In der Not wächst das Rettende auch. Unweit der Pension finde ich die restaurierten Ziegelgebäude einer alten Weberei. Darin ist ein Kulturzentrum untergebracht sowie ein großes Lokal mit mächtigen Belüftungsrohren an der Decke, einer Theke im Loungestil und tätowierten Kellnerinnen. Durch eines der großen Fenster sehe ich im Schein einer Hoflampe den Regen gülden aufleuchten. Ich esse eine leckere Pizza, trinke das eine oder andere Pils und schreibe in mein Büchlein. Als mich eine junge blonde Kellnerin mit Pferdeschwanz später fragt, ob alles zu meiner Zufriedenheit wäre, das sage ich aufrichtig ja, nur hätte ich keine Bierschaumphobie, man habe mich bestimmt mit einem verwechselt, als man mir das letzte Pils zapfte. „Oh“, sagt sie, „das war bestimmt ich. Ich bin nämlich neu hier.“ „Gut“, sage ich, „dann werde ich demnächst mal über Sie schreiben, und wenn Sie mir Ihren Namen sagen, dann werde ich andere Pilstrinker vor Ihnen warnen.“ Sie heißt Yvonne. Und das schlecht gezapfte Pils hatte Yvonne mir gar nicht gebracht, sondern eine Kollegin. Aber wer so bereitwillig einen Fehler auf sich nimmt, verdient es, lobend genannt zu werden.

      Die Weberei kann ich dem Reisenden empfehlen. Sie versöhnt mit Gütersloh. Man kann sich da sogar eine verrottete Pension schön saufen. Heiter gehe ich zu Bett, schlafe wie tot unter dem Großen Wagen, und als ich am nächsten Morgen die Dusche aufsuchen will, da steht der Unterhosenmann fertig zum Aufbruch. Er trägt die orangefarbene Warnkleidung eines Straßenarbeiters. Die Küche ist tipptopp aufgeräumt, das Geschirr sauber gespült, da werfe ich mich vor ihm auf die Knie und leiste Abbitte. Solche Straßenarbeiter verdienen Respekt, auch wenn sie in Unterhosen nicht schön sind und nach Feierabend RTL 2 schauen.

      Bald breche ich ebenfalls auf. Vor einer Bäckerei frühstücke ich, bin aber irgendwie durch den Wind, so dass ich unachtsam ein Gesteck umwerfe und das gelbe Zeug verstreue, in dem ein paar künstliche Grashalme stehen. Eine Bäckereifachverkäuferin sitzt am Nebentisch, sagt, das wäre nicht schlimm und räumt alles wieder ein. Sie hat beste Laune, weil sie heute in der Zeitung steht. Ständig kommen Leute vorbei und beglückwünschen Sie. Man hat sie zu Google Street View interviewt. Das aber spielt keine Rolle, alle reden nur von ihrem schönen Foto. Es muss ein guter Fotograf bei ihr gewesen sein. Hey, denke ich, mit Google Street View könnte man auch die Pension sehen, der ich glücklich entkommen bin. Aber der schlaue Hotelier wird sie gewiss verpixeln lassen.

      Ein Polizist lässt mich klettern – Seltsame Gletscher in der Stromberger Schweiz – Wenig Staub in Soest – Rheda – Stromberg

      „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.“ Wer sich diese Kalenderweisheit ausgedacht hat, der trage mal beim Radfahren Tage hintereinander eine Regenjacke, so dass er immer wieder nass von außen wird wie von innen. Und wer wollte behaupten, dass ihm egal ist, ob die Welt lichtdurchflutet ist oder regengetränkt und nebelverhangen? Wenn man bei Regen durch ein Waldstück fährt, droht der Trübsinn, denn es ist einsam und duster unter tropfenden Bäumen. Die Wege sind aufgeweicht, die Reifen schmatzen durch Schlamm oder tauchen in unwägbar tiefe Pützen. Der Rollwiderstand ist höher, vor Kurven muss man abbremsen, dahinter wieder beschleunigen, kurzum, eine Regenfahrt kostet mentale und physische Kraft.

      Aus einem asphaltierten Waldweg kreuzt ein neuer VW-Kleinbus mit Hamburger Nummer, ein Mietwagen, vollbesetzt mit Männern, die mich hohläugig anschauen. Vielleicht eine Drückerkolonne, die auf einem Waldparkplatz übernachtet hat? Sie sind jedenfalls nicht auf Vergnügungsreise. Bis Rheda-Wiedenbrück sehe ich sonst keinen Menschen. Dort weisen die Fahrradwegweiser allesamt zum Schloss Rheda, und da geht es nicht weiter. Ich setzte mich in den Schlosspark. Die Wolkendecke scheint zum Greifen nah, hält aber ihr Wasser noch. Nach langer Zeit sehe ich mal wieder einen Radfahrer mit Gepäck. Er rollt wie ich bis zur Schlossmühle und wieder zurück zu den Wegweisern, wo ich ihn später antreffe, wie er ratlos seine Karte studiert. Es gibt unter den Radfahrern auch ungesellig Typen. Er ist einer, interessiert sich nur für seine Karte. Da habe ich keine Lust, ihm zu helfen, obwohl ich nach wenigen Metern durch die Altstadt den für ihn richtigen Wegweiser finde, er aber in die falsche Richtung strebt. Soll er suchen, bis er schwarz wird.

      Ich sehe eine Polizeistation, gehe mein Sündenregister durch, aber da ich derzeit sauber bin, betrete ich das Gebäude und frage nach einer Radfahrstrecke Richtung Soest. Ein unglaublich zerknautschter Polizist in Zivil ist froh über die Abwechslung, verlässt seinen Schreibtisch und geht mit mir nach draußen. Wo der Amischlitten parke, da solle ich einbiegen, am Kreisverkehr Richtung St.Vit und weiter nach Stromberg fahren. Da geht es steil bergauf. Mein Gepäck will das nicht und macht sich schwer. Ich habe versäumt, die Regenjacke auszuziehen und bin darunter klatschnass, als ich oben in Stromberg ankomme. Hier solle ich noch mal fragen, hat mir der Polizist geraten. Ich spreche einen Mann an, der auf dem Weg in eine Reinigung ist. O ja, er kennt eine schöne Strecke, nämlich durch die Stromberger Schweiz.

      Da fährt er manchmal mit seiner Frau. Da käme ich an einem Bauernhof mit einem eisernen Windrad vorbei, dann links und rechts und links, nein rechts, da gehe es den Berg hinunter, irgendwann käme auf der Ecke eine Autowerkstatt, aber das sei schon außerhalb der Stromberger Schweiz, an deren Anfang der besagte Bauernhof liegt, ich führe rechts dran vorbei, an der nächsten Kreuzung dann wieder links, oder ich könnte da auch rechts fahren und erst später links abbiegen. Während seiner interessanten Wegbeschreibung, bei der wir die Stromberger Schweiz von hinten bis vorne durchstreifen, tropft mir unentwegt der Schweiß von der Stirn. Nach einer Viertelstunde stehe ich in einer Lache. Inzwischen haben wir uns hoffnungslos in der Stromberger Schweiz verfahren, und er ist beinah so durcheinander wie ich, als ich