Jules van der Ley

Pataphysikalische Geheimpapiere


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zu meiner Rechten, dann fahre ich links vorbei, wieder rechts, drehe auch mal eine Ehrenrunde auf dem Hof. Menschen zeigen sich nicht, aber viele Kühe. An einer Wegkreuzung sinke ich orientierungslos auf eine Bank, und die Kuh Nummer 31 gesellt sich zu mir an den Zaun. Solche Gesellschaft ist besser als gar keine. Eine seltsame Farbe und Konsistenz haben die hiesigen Gletscher. Sie sind dunkelgrün, und wenn ich nicht mitten in der Stromberger Schweiz wäre, würde ich denken, es sind Kuhfladen. Die Sonne lugt kurz durch ein Wolkenloch und zeigt mir die Himmelsrichtung. Sofort hebt sich meine Stimmung.

      Auf einer Anhöhe liegt ein großes Gehöft. Vor ihm erstreckt sich den Hang hinab eine Hausweise, groß wie zwei Fußballfelder. Auf dieser Wiese stehen unzählige Gänse. Wäre das eine feindliche Heerschar, die Stromberger Schweiz würde sofort ihre Neutralität erklären. Oben lagern die Gänse dicht an dicht und bilden einen weißen, dräuenden Wall vor dem Haupthaus. Vermutlich können sie St. Martin nicht erwarten oder sehnen Weihnachten herbei. Die Backröhre ist warm, und ihre Daunen haben Aussicht auf ein trockenes Bett. Andere Gänse hängen trotz des trüben Wetters noch am Leben, und so ergießt sich ihre weiße Flut über die Hangwiese bis zum Fahrweg hin. Sogar das angrenzende Maisfeld haben sie okkupiert, stehen da einfach nur rum oder haben sich trotzig in Schlammpfützen gelegt. Als ich in die Landstraße einbiege, fehlt auf der Ecke die Autowerkstatt. Aber ich will nicht in die Stromberger Schweiz zurück, um sie zu suchen. Autowerkstätten findet man auch außerhalb der Schweiz. Nur schade, dass während der ganzen Zeit kein einziger Alpenjodler zu hören war.

      Bald bin ich in Herzfeld. Am Kreisverkehr gegenüber der mächtigen neugotischen Wallfahrtskirche mache ich Pause vor einem Café, sitze für einen Augenblick in der Sonne und bekomme meinen Schlag Remoulade untergejubelt, als ich ins Käsebrötchen beiße. Außer mir ist noch eine dicke Frau draußen. Sie trägt ein T-Shirt, als wäre Sommer befohlen, was aber bekanntlich nur bei der Bundeswehr gilt. Die zivile Welt muss sich mit den Unwägbarkeiten des Wetters herumschlagen. Manche gehen auch bei Sauwetter sommerlich gekleidet. Der Natur auf diese Weise zu trotzen, ist magisches Verhalten, ein kollektives Herbeiwünschen sonniger Tage. Diesen Schlechtwetterverleugnern ist vermutlich zu danken, dass der August 2010 nur der nasseste seit Beginn der Wetteraufzeichnung ist, nicht aber der nasseste August seit der Sintflut.

      Es regnet wieder. Ich beschließe zu warten, aber das ist ein Fehler. Was den Kirchturm dunstig verhüllt, ist nur der Vorgeschmack. Bald bietet auch die große Markise keinen Schutz mehr. Bis Soest sind es nur 10 Kilometer, das tröstet. Ich zahle und fahre los. Wenn ich sage, es regnet dicht an dicht, dann scheint mir das Wörtchen „an“ viel zu breit. Da ist Platz für ein paar Hektoliter zusätzlich. Es ist grad so, als wollten mich die Götter ersäufen. Mir klappern die Zähne, und das liegt nicht allein an der holprigen Strecke und den Zweigen, die abgerissen von Regen und Sturm auf dem Fahrradweg liegen. Ich will Thilo Sarrazin heißen, wenn das nicht der heftigste Guss war, den ich auf meiner pataphysikalischen Reise abbekam.

      Später geht vor mir ein Mann durch die Altstadt von Soest. Wie er einen Bekannten trifft, sagt er: „Es staubt heute nicht so!“ Diese launigen Worte gefallen ihm so gut, dass er sie noch mal von sich gibt, als er ein Café betritt. In Soest hat man Witz, mindesten einen, aber den Bürgern der hübschen kleinen Spießerstadt reicht es allemal. Sie sind sich selbst genug, denn sie wähnen sich im Nabel der Welt. Und der wurde heute gebadet.

      Ein Prost auf Soest – Brillanter Grund für Vandalismus – Sternstunden des Wortspiels – Soest

      In einer kleinen Soester Kneipe sehe ich erstmals auf dieser Reise eine Einrichtung im Gelsenkirchener Barock. Ich setzte mich auf einen Hocker an die Theke. Über dem Flaschenregal hängen Schalker Fanschals, rechts von mir blinkt und blubbert verlockend ein Spielautomat, aus den Lautsprechern schmalzt Wolfgang Petry. „Wolle“ hat zwar im Jahr 2006 seine Karriere beendet, aber seine Ohrwümer werden ihn in solchen Kneipen Jahrzehnte überdauern. Ich mahne mich, wenigstens auf zwei Bier zu bleiben. Immerhin bin ich besser dran als ein Ethnologe im Busch, dem der Dorfälteste fette Maden anbietet. Oder auch nicht. Denn Maden ringeln sich nicht in die Ohren.

      Hinter der Theke steht eine verblühte Blondine. Auf der Rückseite ihrer hellen Jeansjacke ist mit silbernen Pailletten ihr Name aufgestickt. Wir nennen sie Erika, was aber nicht ihr richtiger Name ist. Ein fest gezurrter Gürtel bändigt nur unzureichend ihren Bauch. Die silbrig flitternde Erika hat fünf Gäste. Einer sitzt ganz in der Ecke hinter einer schmiedeeisernen Abtrennung und beobachtet schweigend das Geschehen. Ein zweiter sitzt trinkend hinter mir an einem der zwei Tische und kommentiert gelegentlich Dinge, die sich in seinem Kopf abspielen. Neben mir hat sich ein langer, dünner junger Mann akrobatisch auf den Hocker gefaltet. Ab und zu macht er hektische Bewegungen, holt ein Bein auf den Schoß zurück, das ihm entglitten war oder beugt sich nach seiner Zigarette, die ihm hinter die Fußstange gefallen ist. Er ist guter Dinge, lacht immer wieder vor sich hin wie ein Gott, der das ganze Weltgeschehen überblickt und all die Dinge versteht, die den Menschen verborgen bleiben, etwa: „Du bist noch nicht soweit, Erika, hehe, du bist noch nicht soweit!“

      Das findet Erika auch. Sie pendelt einstweilen die wenigen Schritte zwischen Zapfhahn und Stirnseite der Theke. Dort sitzt ein Mann, der unaufhörlich auf sie einbrabbelt. Angenommen, du machst eine Zeitreise in das Mesozoikum und zertrittst da unachtsam einen Schmetterling. Dann kehrst du zurück in unsere Gegenwart, zurück in die Soester Kneipe, alles scheint wie gehabt, aber die Sprache der Menschen ist kaum noch zu verstehen. Sie artikulieren, du jedoch hast die Zunge quer im Maul und kannst das Deutsche nur lallen. Da sitzt du an der Theke, säufst ein Bier nach dem anderen und quatschst manisch auf Erka ein, die jetzt zwar Erika heißt, aber als einzige dich noch versteht. Ach, hättest du doch nur nicht den Schmätting zertreten.

      Erika zapft mir ungefragt ein zweites Pils, aber das ist die einzige Regung, die sie mir zeigt. Hätte ich mich als Mann in eine Emanzenteestube verirrt, man könnte mich nicht abweisender behandeln. Der Hotelportier empfiehlt mir ersatzweise die Lamäng-Brasserie. Ich gestatte mir von der Homepage zu zitieren:

      „Die Lamäng Brasserie Soest präsentiert sich auf 200 m2 verteilt auf 1 1/2 Ebenen mit einer offenen Atmosphäre, in der edle Hölzer, Messing und wunderschöne Jugendstilglasarbeiten interessante Akzente setzen. In den lichtdurchfluteten Räumlichkeiten, die sich durch ein ausgeklügeltes Beleuchtungssystem der Lichtstimmung draußen anpassen, bietet die Lamäng Brasserie für jeden einen brillanten Grund zum Verweilen.“

      Jugendstilglasarbeiten? Wer hat die denn gemacht? Ein verfluchter Wiedergänger, ein Untoter aus dem Harem von Gustav Klimt? Das ist ein schöner Kitsch. Meine Herren! Da ist ja Gelsenkirchener Barock noch ehrlicher. Und den absolut „brillanten Grund“ wieder zu gehen, gibt mir das Baguette, das ich unvorsichtiger Weise bestellt habe. Ich beiße rein und schmecke den kulinarischen Höhepunkt all meiner Alpträume: Remoulade. Man hat Glück im verregneten Soest, dass Remoulade mich unmittelbar ermatten lässt, sonst würde ich auch „interessante Akzente“ setzen. Dann könnten sie das Baguette von den „wunderschönen Jugendstilglasarbeiten“ putzen, „ausgeklügelt“ illuminiert, versteht sich.

      Ich lege mich in mein Hotelbett und drehe Soest den Rücken zu. Dieses schöne, historische Hanse-Städtchen ist ein kitschiges Geschichtsbuch, in dem Tausende Touristen stumpf herumtappen. Aber sie tun den Soester was an, vermitteln ihnen die trügerische Idee, man müsste ihnen dankbar sein, dass man sein Geld dalassen darf. Die ausländischen Hotel-Betreiber sind die lobenswerte Ausnahme. Das Zimmer, das sie mir gaben, ist klein, aber hübsch, mein Fahrrad steht sicher in einer großen Garage, und das Frühstücksbuffet ist reichhaltig.

      Am Morgen regnet es wieder. Im Schaufenster eines Friseurladens hängt das lebensgroße Bild einer lasziven Frau. Sie ist geschminkt wie eine flippige Prostituierte, reißt den Mund weit auf und schreit: „Ich will, dass du kommst!“ Kurz hinter Soest im Dorf Ampen streckt mir von einem Plakat eine hübsche Frau ein Bügeleisen entgegen und ruft: „Ich will Ihnen an die Wäsche!“ Danke, die Sternstunden des Wortspiels haben die falsche Reihenfolge. Erst Bügeln, dann Kommen, aber nicht gegen Geld. Und außerdem will ich endlich ins Ruhrtal.

      Was Deutschland zusammenhält – Ein Praktikant wird entmachtet – Schwerte