Ulrike Melzer

Filme fahren


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- Kapitel 29

       Runterkommen - Kapitel 30

       Runterkommen - Kapitel 31

       Runterkommen - Epilog

       Impressum neobooks

      Feiern - Prolog

      In letzter Zeit stelle ich mir immer vor, wie es wäre, bei einem Anschlag zu sterben.

      Beim Einkaufen, im Kino, oder während ich, so wie jetzt, im Café sitze und Latte Macchiato trinke, oder Moccacino, oder ein anderes, albernes Getränk, das so tut, als wäre es Kaffee.

      Während ich meine Freundin Rebecca treffe, die ich jede Woche zur gleichen Zeit im immer gleichen Café sehe, mit der ich Floskeln austausche, die sich nicht ändern.

      Jeder Exzess geplant, jede Geste berechnend.

      Ich berichte von meinem spannenden Leben.

      Ein Anschlag, ein Attentat, ein Amoklauf, während ich ihr erzähle, was ich noch so plane und vorhabe und mich frage, ob ich meine unzähligen Kräutertöpfe gegossen habe.

      Ich schwärme ihr vor, von diesem netten Job, bei diesem neuen Magazin.

      Irgendwie Musik, Kunst, Lifestyle.

      Ob es nächstes Jahr noch existieren wird, wissen wir nicht.

      Und dass ich noch meine Anlage für Selbstständige ausfüllen muss, lasse ich weg. Hartz vier ist was für die Assis aus Erfurt Nord, also die aus den ehemaligen Arbeiterintensivhaltungen, der Platte.

      Alle "stocken" auf, die Studenten, die keinen Job gefunden haben, doch sie reden nicht darüber, hier am Anger mit Blick auf den Dom.

      Ich rede von meinem netten Freund Phillip, der irgendwas mit Medien studiert hat, mir ständig von einem neuen Plan erzählt.

      Ich höre nie hin, nicke nur und gebe ihm Bestätigung, das scheint ihm zu genügen. Jedenfalls wird er bald durchstarten, sicher.

      Und ich nehme noch einen Schluck vom Latte, der jetzt lauwarm ist, so wie mein Leben, und weiß, so wie meine Bluse, die so tut, als wäre sie ein Kleid.

      Ich lächele ins Leere und dann explodiert alles.

      Dieses Leben, das ich seit 2003 in dieser mittelgroßen Stadt gelebt habe, hat keine Richtung, keine Aussage.

      Meine Vorstellung von Leben war mal anders.

      Ich weiß nicht, woher meine Begeisterung für Filme kam.

      Schon als Kind stellte ich mir vor, meine Augen wären eine Kamera, mit der ich alles filme.

      Die Pioniernachmittage, den Fahnenappell, die fanatischen Augen von Frau Möller.

      Sogar die eigene Angst davor.

      Sie hatte mich gefragt, ob ich dazugehören möchte, zum Kollektiv.

      Einfach diese Szenen rausschneiden, dachte ich, das wär's gewesen.

      Mit 17 fand ich Milosch, der all das kannte.

      "Rena, das ist dein Film", sagte er. "Da kann dir niemand reinquatschen."

      Er sagte, am Ende müsse ein guter Satz stehen, eine einzige Szene, die so gut ist, dass sie all den Schmerz, der vorher war, erklärt.

      Milosch hat mir eine Facebook-Nachricht geschrieben.

      Ich habe mich nur bei Facebook angemeldet, um von ihnen gefunden zu werden.

      Von Milosch, Karen und all den anderen Gleichgesinnten, die plötzlich alle auf einmal da waren, wo vorher nur Einsamkeit gewesen war.

      Wenn ich diese Geschichten höre, von der ersten Liebe, dann weiß ich nie, was ich sagen soll. Bei mir ging es nicht um eine Person. Es ging um 6 Menschen, und irgendwie auch um Berlin. Es ging um Freunde, eine selbstgewählte Familie.

      Wenn ich diese Geschichten höre, denke ich trotzdem an einen ganz bestimmten Menschen.

      Der, mit dem alles anfing. Ich denke an Niko.

      Er hat Erfurt 1979 verlassen, ich wurde 1979 geboren. An einem Montag ist er losgefahren, hatte sich das Auto seines Bruders Walter geschnappt, den alle nur Wladi nannten.

      Der brauchte es jetzt nicht mehr, denn er war im Stasiknast.

      Wie hatte es so weit kommen können?

      Diese verdammte Neugier war schuld, Neugier auf den echten Vater, einen russischen Offizier. Die Neugier auf das ganze Leben.

      Das konnte man doch hier nicht haben.

      Niko wusste das. Ihm war der russische Vater egal, doch er wollte weg von der Mutter Anna und dem falschen Vater Horst.

      Sein Leben begann in Berlin. Dort redete er mit neuen Freunden. Er betete.

      Niko wollte nicht mehr heimlich Joy Division Platten hören.

      Der Staat eine dunkle Wolke, das Leben ein Traum, zur Passivität verdammt.

      Das lag hinter ihm, das war vorbei, in Berlin begann etwas Neues.

      Walter saß in der Dunkelzelle und Niko wollte wach bleiben für ihn.

      Er hörte seine Mutter. "Kerzen anzünden, was soll das denn bringen?"

      Horst guckt die aktuelle Kamera. Wischt sich den Bierschaum vom Bart.

      Niko wollte nicht mehr zurück, nie mehr.

      In Berlin war er der erste Mensch gewesen, der mir dieses seltsame, vertraute Gefühl gegeben hat, das ich bis dahin nicht kannte. Sein Blick war die Eintrittskarte in eine neue Welt gewesen.

      Und jetzt schreibt er auf eine Facebook-Pinnwand.

      Milosch hat uns eingeladen, zur Abschiedsparty unseres Clubs, dem Palace.

      Wir haben dort gefeiert, Niko hat da gearbeitet.

      Alina wird ein Konzert geben, Nikos Halbschwester.

      "Alina hat es tatsächlich geschafft", schreibt er jetzt, als Antwort auf die Einladung.

      Er schreibt nur als Gast. Leute die bei Facebook sind, sagt Niko, sind Selbstdarsteller.

      Niko ist kein Selbstdarsteller, Niko ist Networker. Niko ist bei Xing.

      Fassungslos ist er nun, dass sie es tatsächlich geschafft hat, seine verrückte Schwester, die zu MTV wollte. Ihre Videos laufen bei VIVA, na immerhin.

      Im Sommer 1996 schien alles möglich, doch wenn man diese Möglichkeiten nicht zu schätzen weiß, verschwinden sie. Ich ging zurück nach Erfurt, Karen kam in die Psychiatrie, Milosch ins Gefängnis. Niko habe ich nicht wiedergesehen.

      Ich war mir so sicher gewesen, sie alle nicht wiederzusehen.

      Jetzt kommt mir alles so leicht vor. Ich müsste mich nur in den Zug setzen.

      Wer sagt, dass ich zurück muss? Zurück zu Phillip, den ich nicht liebe, der mich nicht liebt. Er mochte mich, ich mochte ihn.

      Ich mochte dieses Leben und wie einen zu großen Pullover ziehe ich es einfach aus.

      Ich dachte, wir hätten uns verändert. Die ganze Welt hat sich verändert, doch wir nicht.

      Wir waren nie cool. Wir waren Außenseiter, dabei, doch niemals drin, wir gehörten nicht dazu, wir saßen am Rand.

      Ich könnte einfach gehen, mich in den Zug setzen und mich daran erinnern, wer ich einmal war.

      Feiern - Kapitel 1

      Ich