Ulrike Melzer

Filme fahren


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ich nie mehr zurück. Milosch sah mir nach, an seiner Camel ziehend. Und wieder wurde ein Mensch kleiner.

      Ich lernte, Berlin besteht aus vielen Welten. Und diese Welten sollten nie aufeinandertreffen.

      Feiern - Kapitel 3

      Zuerst merkte ich es nicht, war überzeugt davon, dass Berlin doch eine große Ansammlung von Häusern sein müsste, ein homogenes Etwas. Ich merkte es erst, als ich aus dem Fenster sah. Frauen mit Kopftüchern in schwarz, Punks, Junkies, Alkis.

      Ein Meer von Menschen, eine andere Luft, eine neue Welt.

      Das konnte ich nicht vergleichen, es gab nichts zu vergleichen hier. Kreuzberg schien eine fremde Welt zu sein zu der ich eigentlich keinen Zutritt hatte, doch ich wurde aufgenommen, ich war ja nun einmal da. Alles war mir vertraut, die Gemüseläden, die Cafés.

      Hier war ich nun, auf der Suche nach einem Mann, den ich nicht kannte. Ich blieb kurz stehen. Doch stehenbleiben in der Oranienstraße war keine gute Idee. Ich wurde einfach weitergeschoben.

      Wladi wohnte in der Oranienstraße, doch die war lang. Die Nummer konnte ich nicht finden. Ich ging einfach weiter, so wie gestern. Irgendwann würde ich ankommen. Fast hätte ich dieses kleine, abgefuckte Café übersehen, hätte mich nicht ein Mädchen angesprochen. Sie trug einen Nasenring, eine Patti-Smith Frisur, ein 70er Jahre-Blumenkleid und Doc Martens. „Hey, kann ich dir helfen? Du siehst so suchend aus.“

      „Ja, tatsächlich. Ich suche einen Walter Goretzki. „Wladi? Na klar, da bist du hier richtig, komm rein.“

      Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares gesehen: In diesem Café, genannt „Wohnzimmer“, gab es keine Stühle oder Sessel. Matratzen, niedrige Tische mit Sitzkissen, Tücher, Antiquitäten, Bücherregale, Kerzen, Filmplakate. Die Musik wechselte zwischen orientalischem Techno und Aaliyah zu Chopin und Bach. Der Tee, den mir Judith - so hieß das Pattismithmädchen - anbot, war stark, süß und wurde in kleinen Gläsern serviert.

      Sie sah mich prüfend an. „Ich hab dich hier noch nie gesehen.“

      „Ich war noch nie hier. Ich komm nicht aus Berlin.“

      Sie lachte. „Woher kennst du denn dann Wladi? Der kommt doch nie aus Kreuzberg raus.“

      Jetzt bemerkte ich den kitschigen Perlenvorhang, der den kleinen Verkaufsraum von einem Café trennte. Ein Typ mit langen schwarzen Haaren, Tattoos und Eyeliner kam dahinter hervor. Er war groß, im Gegensatz zu der Frau, die seine Schwester zu sein schien: „Kommst wohl ohne mich nicht klar, Schwesterchen?“ Finster grummelte er: „Wer isn das?“

      „Das ist die Rena und die trinkt jetzt mit uns nen Tee! Und Rena, das ist Felix, mein Bruder."

      Wir tranken Tee, Judith plapperte, Felix schaute mich weiter böse an.

      In dieser Welt verlor man das Zeitgefühl, ich vermutete, dass es schon spät sein musste, ich hatte den halben Tag verschlafen. „Ich kann das nicht lesen“, sagte Judith. Sie versuchte das Gekritzel auf meinem Zettel zu entziffern. „Wer hat das geschrieben?“ „Milosch.“ „Wer?“ „Ein Freund von mir. Milosch Böhm, oder Böhmer glaub ich."

      „Sag deinem Freund, er soll mal ordentlich schreiben. Warum kann er das nicht?“

      Ich grinste. „Hat Wichtigeres zu tun.“

      „Milosch Böhmer, der Name kommt mir doch bekannt vor." Sie starrte in die Luft, überlegte. „Aah, ja! Das war mein Kindheitsfreund! Wir haben zusammen Vampir gespielt! Is ja krass...“

      „Kanntest du seine Eltern?“

      „Ja, klar! Meine Eltern haben gegenüber gewohnt, wir waren jeden Tag da. Die waren Pfarrer in der Gemeinde wo auch Milosch´s Eltern hingegangen sind. Was macht er denn jetzt?“

      „Er schreibt. Gedichte.“

      „Cool! Bring ihn doch mal mit. Ich zeig dir mal, wo Wladi wohnt, das ist echt schwer zu finden. Komm mal mit.“

      Judith ging durch den Perlenvorhang, ich folgte ihr.

      Hinter dem Vorhang begann eine neue Welt: Teppiche, Sitzkissen, niedrige Tische, Kerzen, Tücher. Doch niemand saß dort. „Warum habt ihr keine Gäste?“

      „Keine Ahnung, die kaufen nur was zum Mitnehmen. Aber die richtigen Leute wissen schon Bescheid, keine Sorge.“

      „Und wer sind die Richtigen?“

      „Na, die nicht fragen und sich einfach hinsetzen.“

      Sie öffnete die Tür. Ein Berliner Hinterhof, gegenüber ein altes Haus.

      „Da, ganz oben unterm Dach wohnt Wladi. Auf der Klingel steht nichts, aber is ja die einzige Tür, also ganz easy.“

      Dann war ich ganz allein im alten, modrig riechenden Hausflur.

      Jetzt erst bekam ich Angst vor meinem Mut, das ganze Vorhaben erschien mir jetzt lächerlich, sinnlos. Was sollte ich sagen, was, wenn ich Niko tatsächlich begegnen würde?

      Ich wusste nichts mehr, alles leer im Kopf. Trotzdem ging ich weiter, ich wollte es wissen.

      Ich klingelte. Mein Herz klopfte, ich wollte gehen, dann öffnete sich die Tür so schnell und heftig, dass ich stehen blieb. Vor mir stand ein Riese. Ein dicker Riese. Eine Gestalt mit Vollbart, halblangen schwarzen Strähnen. Er trug eine Sonnenbrille, ein riesiges goldenes Kruzifix, ein schwarzes Iggy Pop-T-Shirt und eine Jeans mit Löchern. Er war barfuß. „Jetzt schicken die schon ihre Kinder los, na gut, her mit dem Wachturm und tschüss.“

      „Ich bin nicht von den Zeugen Jehovas.“

      „Ja, ja.“

      Er ließ die Tür offen und ging in die Wohnung, ich folgte ihm, nicht wissend, ob ich reinkommen durfte. Diese Wohnung ähnelte dem „Wohnzimmer“: Orientteppiche, antike Kerzenleuchter und Bücher lagen kreuz und quer durcheinander. Ein Plattenspieler, eine Kochplatte. Darauf stand ein Topf in dem er ein dunkles Gebräu kochte.

      „Trink nen Çay mit mir.“

      „Was ist Çay?“

      „Türkischer Tee.“

      Er goss den Tee in kleine Gläser wie im „Wohnzimmer“ und sah mich jetzt richtig an, ohne die Sonnenbrille abzunehmen. „Du bist nicht von den Zeugen, oder?“

      „Auch nicht von Scientology. Ich bin Rena, ne Freundin von Milosch.“

      „Miloschowitsch? Hat der Junge jetzt endlich ein Mädchen?“

      „Nee, nur eine gute Freundin.“

      „Ach, ihr Kinder heutzutage. Na schön, jetzt wird die Familie größer.“

      Er legte eine Platte auf: Iggy Pop: The Passenger. „Hör mal hin“, sagte er und schleifte mich zum Fenster.

      „Siehste, er singt von uns, von heute Nacht, er singt davon.“

      Und ich begriff jedes Wort, das Lied war eine Hymne und es schien mir so, als hätte dieser Fremde erkannt, was ich hier wollte, ohne groß Fragen zu stellen.

      „Marvin Gaye!“ Wladi legte „What´s going on” auf.

      „Er ist der Gott.“

      Ich sagte ihm, dass ich das auch kannte, Musik hören nach Stimmung, als Soundtrack, ich sang mit, so wie immer.

      „Was suchst du, du suchst doch was.“

      „Ja, ich suche jemanden, doch ich weiß nichts von ihm.“

      „Denkst du ernsthaft, du lernst jemanden jemals richtig kennen?“

      Er stellt die richtigen Fragen, dachte ich. Nicht das Übliche, wer bist du, was willst du hier, was habe ich damit zu tun, wo kommst du her?

      „Jesus, ich kenne meine Frau immer noch nicht und wir sind schon seit 8 Jahren verheiratet.

      Du liebst also jemanden, den du nicht kennst. Interessant.“ „Na ja, lieben … ist vielleicht zu viel, ich kenn ihn ja nicht.“ „Ach ja, lieben kommt erst nach dem Verlieben, nach dem Kennenlernen und Bewältigen