Helene Hammerer

Virus und Elfe


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sie den Tisch ab. Linus brachte den Krug mit der restlichen Milch in den Keller, wo es immer kühl blieb und wo der Käse und die Vorräte gelagert wurden. Inzwischen holten die Kinder das alte Spielbrett und stellten die Kegel auf. Am Abend wurde auf der Alpe sehr oft gespielt. Da der Ähne die neue Zeitung lesen musste, die sein Sohn ihm vom Tal heraufgebracht hatte, spielten sie mit dem Säle „Mensch ärgere dich nicht“. Nach drei erbitterten „Schlachten“ war es Zeit zum Schlafengehen. Das Säle zwang die Kinder, sich sie Zähne zu putzen und sich in der alten Blechwanne unter der Stiege zu waschen. An einer Stange war ein Vorhang befestigt, damit man vor neugierigen Blicken geschützt war und der Großvater nannte den kleinen Verschlag scherzhaft „Anneles Bad“. Linus wusch sich draußen am Brunnentrog und ging mit den Kindern auf den Heuboden, wo das Säle die alten Matratzen und Kopfkissen bezogen hatte. Zum Zudecken gab es immer noch die schweren Steppdecken. Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, gingen die drei in den Stall und über die steile Holztreppe zu ihrem Lager. Das Plumpsklo befand sich gleich neben der Treppe, was praktisch war, wenn man es in der Nacht benützen musste. Angela wollte zwischen Linus und ihrem Bruder liegen, weil sie sich dort am sichersten fühlte. Unter sich hörten sie die Kühe leise schnauben und ab und zu bimmelte eine Schelle. Das Stalltor war nur unten geschlossen, da die Nacht lau war. So kamen durch die obere Hälfte Luft und Licht in den Stall. Die Kinder waren müde von ihrem langen, ereignisreichen Tag und schliefen schnell ein. Linus hörte die Großeltern noch eine Weile kommen und gehen, dann senkte sich tiefer Friede über die Hütte. Mitten in der Nacht wurde er unsanft gerüttelt. „Linus, wach auf, ein Gespenst!“, flüsterte Thomas. Da der Bub vor Schreck zitterte, stand Linus auf und bot ihm an, nachzuschauen. Thomas hielt die Hand seines unerschrockenen Cousins umklammert und gemeinsam schlichen sie Richtung Treppe. Plötzlich knarrte die Klotür. Thomas erstarrte und auch Linus blieb stehen. Im Schein der Kerze, die sie in der Hand hielt, sahen sie eine weiße Gestalt mit langem blondem Haar. Auf den ersten Blick konnte man sie wirklich für ein Gespenst halten, auf den zweiten Blick erkannte Thomas Elvira. „Der Virus“, zischte er empört. Die junge Frau bemerkte ihre Beobachter nicht und ging zurück ins Wohnhaus. Thomas nahm die Taschenlampe und polterte die Stiege hinunter, während Linus sich bemühte, nicht gar zu laut zu lachen. Bis der Bub zurückkam, hatte er sich gefasst und wünschte ihm eine gute Nacht.

      2

      Am Morgen um fünf Uhr warf der Großvater den Dieselmotor an und Linus wurde jäh aus dem Schlaf gerissen. Er rieb sich die Augen, streifte sich Hemd und Hose über und ging hinunter in die Sennküche, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte und die Hände wusch. Das genügte als Morgentoilette. Aufs Rasieren verzichtete er auf der Alpe auch. Erst, wenn ihm der Bart lästig wurde, musste er wieder weg. Der Großvater hatte sich schon einen Melkschemel und eine Melkmaschine geholt und saß friedlich an die Flanke einer Kuh gelehnt, während die Maschine ihre Arbeit tat. Linus zog eine blaue Stallhose und eine Arbeitsjacke über seine Kleidung, setzte einen alten Filzhut auf und machte es ebenso. Er mochte es, am Morgen zu melken, wenn alles noch ruhig war. Es war eine beschauliche Arbeit. Die Milch wurde wieder gesiebt und kam gleich in den großen Sennkessel. Jeden Vormittag machte der Großvater Käse daraus. Als sie gemolken waren, wurden die Kühe losgebunden und auf die Weide getrieben. Die Großmutter hatte inzwischen das Frühstück zubereitet. „Stopfer“, wie der herzhafte Grießschmarren genannt wurde, dazu heiße Milch und Kaffee. Wobei „Kaffee“ eigentlich nicht die richtige Bezeichnung war für die dunkle Brühe aus Kaffeeersatz. Linus gab immer einen Esslöffel löslichen Bohnenkaffee in seine Tasse und schenkte sich erst dann aus der großen Kanne ein. Die Kinder tranken zu ihrem Stopfer heiße Milch. Sie waren noch verschlafen und friedlich um diese Zeit. Nach dem Frühstück ging Linus seine Runde, um zu sehen, ob die Tiere gut über die Nacht gekommen waren. Normalerweise gab es nach einer so ruhigen, friedlichen Nacht keine unangenehmen Überraschungen aber Nachschauen musste der Hirte auf jeden Fall. „Warte auf mich, Linus!“, rief Angela, als ihr Cousin sich vom Tisch erhob. „Ich geh mit dir.“ „Gut, dann iss in Ruhe fertig. Ich warte draußen auf dich“, versprach er. Wenig später machten sie sich auf den Weg. Beide trugen alte Jeans, Bergschuhe und Hüte, außerdem einen kräftigen Haselstecken, falls man die Kühe treiben mussten. Fröhlich plappernd lief das Mädchen neben dem jungen Mann her, erzählte ihm von ihren Freundinnen und von zu Hause, pflückte nebenbei Blumen für die Großmutter und nannte ihm bei vielen den Namen. „Woher kennst du denn die ganzen Blumen?“, wollte Linus wissen. „Das Säle hat sie mir gezeigt und in der Schule hab ich alle gekannt. Das Fräulein hat gesagt, ich bin echt spitze“, strahlte Angela. Linus nickte anerkennend. „Das ist ein Hornklee“, erklärte sie und hielt ihm eine kleine gelbe Blume unter die Nase. „Stimmt“, bestätigte er. „Also, spielen wir, wer mehr Blumen kennt?“, schlug die Kleine vom Ehrgeiz gepackt vor. „Ich fürchte, gegen dich habe ich keine Chance.“ Das Wissen und der Eifer des Kindes gefielen ihm und natürlich ließ er es gewinnen. Angela durfte sich ein Spiel aussuchen, das er am Nachmittag mit ihr spielen würde. Längere Zeit war nichts zu hören, weil Angela angestrengt überlegte, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf und ihre grünen Augen strahlten. „Ich will, dass du mit mir reitest“, entschied sie. Linus war einverstanden und kurze Zeit später kamen sie zur Hütte zurück. Angela brachte der Großmutter freudestrahlend die Blumen und Linus nützte die Zeit bis zum Mittagessen, um die Halfter und die beiden alten Sättel zu reinigen. Der Großvater hatte schon immer Haflingerstuten gehabt, hauptsächlich zum Fahren. Im Frühling bot er Kutschenfahrten an, im Winter Schlittenfahrten. Manchmal fuhr er auch zu seiner eigenen Freude. Die Pferde waren seine Lieblinge und immer ruhige, gutmütige Tiere. Die Kinder durften darauf reiten, wenn sie wollten. Auch Linus' Schwestern waren ganz versessen darauf gewesen. Die Großmutter rief zum Mittagessen. Es gab Tirolerknödel und Kraut. Hungrig machten sich die Kinder und die Männer über das Essen her, während die Großmutter wieder eine Portion zu Elvira ins Zimmer hinauftrug. Auch diesmal brachte sie das Essen unberührt zurück. Linus schaute in ihr besorgtes Gesicht und stand auf. „So, das reicht jetzt. Ich werde mit der Prinzessin ein ernstes Wörtchen reden. Das ist kein Vier-Sterne-Hotel und du nicht ihre Dienstmagd“. Bei seinen energischen Worten schaute der Großvater auf. „Sie ist unser Gast“, bemerkte er kurz. Das hieß im Klartext, Linus solle höflich sein und ihr nicht zu nahe treten. Dieser nickte unwillig, nahm der Großmutter das Tablett ab und stürmte die Treppe hinauf. Er klopfte kurz an die Zimmertür und trat ein, bereit für eine ordentliche Standpauke. Doch der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn augenblicklich verstummen. Auf dem ordentlich gemachten Bett saß Elvira und schaute aus großen blauen Augen ängstlich zu ihm auf. Sie war blass und hatte tiefe Schatten unter den Augen. Das lange blonde Haar hing ihr offen über den Rücken und in ihrem Schoß lag ein dickes Buch. Linus stellte das Tablett auf den kleinen Tisch vor dem Fenster, auf dem ein Strauß Alpenblumen stand. Die Großmutter hatte Elvira wohl einen Teil von Angelas Blumen abgetreten. „Magst du nicht ein bisschen essen?“, frage er dann freundlich. „Das Säle hat schon Angst, dass du hier oben verhungerst.“ Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen und sie schüttelte den Kopf. Als Linus nur geduldig wartete, schluckte sie schwer und schüttelte abermals den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie leise und schon rannen ihr Tränen über die Wangen, die sie vergeblich mit den Fingern wegwischte. Linus nahm das Tablett und setzte sich neben sie aufs Bett. Er zerteilte den Knödel, spießte ein Stückchen auf und hielt es ihr hin wie einem kleinen Kind. „Ein Löffel für das Säle“, grinste er und Elvira machte brav den Mund auf. Nach einigen Bissen gab er ihr die Gabel in die Hand und sie aß den halben Knödel und ein wenig Kraut. Auch ihre Tränen waren versiegt. „Danke“, sagte sie leise. Plötzlich kam Linus ein Gedanke. „Bist du nicht als Kind immer geritten?“, fragte er. „Angela möchte am Nachmittag reiten, da könntest du uns Gesellschaft leisten.“ Nach kurzem Zögern nickte sie. Mit dem guten Gefühl, einen Anfang gemacht zu haben, ging Linus nach unten. Dem armen Ding ging es wirklich schlecht, das war nicht nur Theater, wie er zuerst gedacht hatte. Damit war auch das Verhalten des Großvaters geklärt. Als junger Mann hatte er ohnmächtig mitansehen müssen, wie seine kleine behinderte Schwester von den Nazis abgeholt worden und dann angeblich an Lungenentzündung gestorben war. Das hatte er nie vergessen und so setzte er sich immer für die Schwachen und Wehrlosen ein. Zu jenen schien Elvira in seinen Augen zu gehören. Die Großmutter war hocherfreut, als Linus den halbleeren Teller zurückbrachte. „Du bist ein Tausendsassa, Linus“, lobte sie ihn.