Sheyla McLane

Die Sonne über Seynako


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seiner Herrschaft vergangen und die, die behaupteten, ihn gesehen zu haben, sind schon lange gestorben. Doch der ritterliche Clan, der sich um Alefes` Burg herum angesiedelt hat, sorgt mit eiserner Härte für die Einhaltung der Gesetze.“

      „Aber…“, unterbrach Alec seinen Vater. „Wenn ihn noch keiner gesehen hat, können die Leute gar nicht wissen, ob es ihn tatsächlich gibt!“

      Darius nickte. „Das mag sein. Aber seine Existenz anzuzweifeln, ist den Bewohnern von Peiramos unter Androhung der Todesstrafe verboten.“

      „Aber das ist doch klar! Dieser Clan hat die Macht an sich gerissen und herrscht jetzt unter dem Namen eines Königs, der schon lange tot ist.“

      „Sol gebe, dass der Tyrann nur ein Gespinst der alten Sagen ist.“, sagte Darius, erfreut über die Anteilnahme seines Sohnes. „Aber was, wenn nicht? Immerhin soll Alefes ein Halbgott sein. Was ist, wenn ihn das wirklich unsterblich macht?“

      „Pah! Vor dem alten Schaf fürchte ich mich nicht! Wenn ich groß bin, werde ich in Peiramos einmarschieren. Und wenn es den König gibt, dann werde ich ihn vom Thron stürzen und den Clan vernichten und die Untertanen befreien und… ich werde ein Held sein!“

      „Sicher wirst du das.“, lächelte Darius. „Aber vergiss nicht, es gehört auch zu den Aufgaben eines Helden, den Frieden zu wahren. Peiramos aus eigener Initiative anzugreifen, widerspricht den Werten, die unser Land verkörpert. Wichtig ist nur, dass wir für alle Fälle vorbereitet sind. Das hat mich mein Vater gelehrt und das sage ich dir heute.“

      „Hast du Angst?“

      Es war nicht Alecs Absicht gewesen, seinen Vater mit dieser Frage zu provozieren. Seine kindliche Neugier wollte wissen, ob ein Held jemanden, den er noch nie gesehen hatte, fürchten solle oder nicht.

      Gereizt schob ihn Darius von sich. „Was? Wie sollte ich Angst haben? Dafür gibt es überhaupt keinen Grund! Seynako hat die tapfersten Krieger und die besten Generäle weit und breit. Im Falle eines Angriffs wären wir selbstverständlich in der Lage, unser Land zu verteidigen! Was verstehst du schon davon, Alec.“ Und er wandte sich ab.

      Kapitel 1

      Dreizehn Jahre später

      Keuchend stellte Azur die Wassereimer ab und lockerte ihre Schultern. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich und verging bereits vor Hitze. Der Bach in der Nähe ihrer Hütte war seit Wochen nahezu ausgetrocknet und so musste die Familie das Wasser aus dem Brunnen in der Stadt holen.

      „Azur!“ Ein Bauer, der einen Korb mit Früchten huckepack trug, blickte sie fragend an. „Du wirst doch nicht die schweren Eimer nach Hause schleppen? Wo ist dein Bruder?“

      Colin, der gewöhnlich das Wasser vom Brunnen holte, half ihrem Vater auf dem Feld. Das Mädchen deutete mit einer ausladenden Geste hinaus auf die, wie jedes Jahr, blühenden und fruchtbaren Felder von Seynako.

      „Feldarbeit, was? Ja, ja, die Ernte wird gut.“

      Azur lächelte und nahm die Wassereimer wieder auf.

      „Aber das schaffst du unmöglich allein. Mein Sohn wird dir helfen, warte kurz, ich rufe ihn.“

      Hilfsbereitschaft war eine Tugend, sagte man. Aber das Mitleid des Mannes ärgerte sie. Tapfer setzte sie ihren Weg mit beiden Eimern fort, während sie sich bemühte, möglichst wenig von deren Inhalt zu verschütten. Der Wind spielte mit ihrem langen, blauen Haar, das in der Sonne schimmerte und ihr außer Bewunderung auch eine Menge Häme eingebracht hatte. Alle, die sie kannte, besaßen einen goldblonden Schopf. Da war es nicht verwunderlich, dass sie auffiel.

      Sie brauchte nur einen Fuß in die Stadt zu setzen, schon war sie von Menschen umringt. Jedermann kannte sie oder hatte wenigstens von ihr gehört. Sie zeigten mit dem Finger auf sie, tuschelten und unterhielten sich ganz ungeniert, ohne dabei das Wort an sie zu richten.

      Das wäre auch überflüssig gewesen, denn Azur war stumm. Nicht seit ihrer Geburt, als kleines Mädchen hatte sie genauso gern mit den anderen im Wirtshaus zusammengesessen, hatte getanzt und geschwatzt, hatte es genossen, dass alle sie sehen und ihr Haar anfassen wollten. Doch mit jedem Wort, jedem lauten Lachen und staunendem „Oh!“ gewahrte sie, dass es zwischen den Menschen etwas gab, woran sie nie würde teilhaben können. Eine Verbindung, die ihr verborgen blieb, weil sie diejenige war, die Sols Segen nicht empfangen hatte. Ihr blaues Haar war wie Eis, das die sonnigen Gemüter abkühlte, statt an ihnen zu schmelzen. Darum hörte sie auf, zu sprechen, zu tanzen und zu lachen. Ihre Stimme war müde geworden und hatte sich schlafen gelegt.

      Wenn man das Wort an sie richtete, lag Azur die Antwort förmlich auf der Zunge, aber ihr Mund blieb verschlossen. Sie brachte keinen Laut mehr heraus. Sie konnte nicken und lächeln oder bedächtig den Kopf wiegen, aber reden konnte sie nicht, wofür die besten Ärzte der Stadt – zumindest diejenigen, für die ihr Vater das Geld hatte aufbringen können – keine Erklärung fanden. Azur wusste, dass es keinen erklärbaren Grund für ihre Stummheit gab. Ihre Stimme war erschöpft, musste sich ausruhen und würde irgendwann wiederkommen. Doch wie hätte sie das jemandem mitteilen sollen?

      Abermals setzte sie die Eimer ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Himmel war wolkenlos und hinderte die Sonne nicht daran, Azur zu blenden. Sie war das Wappenzeichen von Seynako und verkörperte alle Eigenschaften, die das Land sich zum Gesetz gemacht hatte. Wärme, Mitgefühl, Frohsinn und Leichtigkeit.

      „Die Sonne nervt, was?“ Der halbwüchsige Bengel blinzelte spitzbübisch und biss in den Apfel, den er in der Hand hielt. „Blendet und macht Hitze.“, meinte er kauend.

      Azur zuckte die Schultern und nahm die Wassereimer wieder auf.

      „Hey, nicht doch, lass das lieber einen Mann erledigen.“ In hohem Bogen warf er den halb aufgezehrten Apfel von sich und nahm ihr die Eimer aus der Hand. „Wir wollen schließlich nicht, dass du dir deine hübschen Knöchel verstauchst.“

      Es war nicht zu leugnen, dass Azur tatsächlich hübsche Knöchel besaß. Trotzdem hätte er sie nicht in diesem Tonfall darauf hinweisen sollen. Unbehaglich zupfte sie an ihren Röcken, die nicht ganz bis über die Fußgelenke reichten. Azur war gewachsen und ihr Vater konnte es sich nicht leisten, Stoff für ein neues Kleid zu kaufen.

      Glücklicherweise war der Junge den Rest des Weges so mit dem Gewicht der randvollen Wassereimer beschäftigt, dass er vergaß, sich noch mehr großspurige Sprüche auszudenken.

      Die Straße führte sie aus der Stadt hinaus und gabelte sich dann vor ihnen auf. „In welche Richtung?“, schnaufte er und drehte sich nach Azur um, die bis jetzt anständig hinter ihm hergelaufen war. Nun streckte sie die Arme nach den Eimern aus, um ihm zu signalisieren, dass sie sie die letzten Meter allein tragen werde. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und seine Wangen waren gerötet. Anscheinend war es ihm recht, von der Last der Wassereimer befreit zu werden, denn er überreichte sie Azur ohne eine unflätige Bemerkung. Unterwegs hatte er einen beträchtlichen Teil ihres Inhalts verschüttet, weshalb Azur sie nun viel leichter zu tragen vermochte als vorher. Sie knickste höflich, den Blick gesenkt, und schlug dann rasch den Feldweg ein.

      Dies war zwar nicht der Ausdruck von Dankbarkeit, den ihr Helfer sich erhofft hatte, doch er sagte nichts und blickte ihr bewundernd nach, wie ihre zierliche Gestalt behände beide Eimer den unebenen Weg entlang trug. Das Mädchen mit dem blauen Haar war doch ganz anders, als seine Freunde sich im Wirtshaus erzählten.

      Azurs Großmutter saß wie immer am Fenster und starrte angestrengt in die Luft. „Gut, dass du kommst, Kindchen. Dein Vater hat schon nach dir gefragt.“, sagte sie zur Begrüßung, ohne ihre Blickrichtung zu verändern. „Geh ruhig schon hinein, ich muss hierbleiben, um den Himmel zu beobachten.“ Der Himmel war Großmutters zweitgrößtes Anliegen nach ihrer Familie. „Einer muss ihn im Auge behalten, damit er keinen Unfug macht.“, pflegte sie stets zu sagen. „Es ist Sache der Alten, das zu übernehmen. Die wissen am besten, was es mit ihm auf sich hat.“

      Heute war er strahlend blau, wie meistens im Sommer. Abgesehen von ein paar Schäfchenwolken, die sich in der leichten Brise nach kürzester Zeit wieder auflösten, gab es nichts