Sheyla McLane

Die Sonne über Seynako


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Augen des blonden Mädchens umherirrten. Sie wagte weder Azur noch ihre Vorgesetzte anzublicken. Doch schien es ihr ebenso unmöglich, sich auf das blaue Haar zu konzentrieren. Mehrere Male zog sie so ungeschickt an einer Strähne, dass es schmerzhaft ziepte. Sich ihres eigenen Fehlers bewusst, wurde sie immer gespannter und fahriger, weswegen Azur mindestens ebenso erleichtert aufatmete wie sie, als die Prozedur endlich vorüber war.

      Azur musste in weiße Schuhe steigen, die an der Ferse einen Absatz hatten. So etwas Seltsames hatte sie bisher noch nie gesehen. Wie sollte es möglich sein, darin zu laufen?

      „Du wirst ein wenig üben müssen.“, sagte Dame Telda. „Absatzschuhe sind am Hof der letzte Schrei. Du wirst wie ein Edelfräulein aussehen, wenn du erst einmal darin laufen kannst.“

      Und so stakste und stolperte Azur unter Dame Teldas Anleitung im Zimmer auf und ab, bis ihr die Füße wehtaten. Schau geradeaus, nicht auf deine Füße, halt den Rücken gerade, spann die Schultern an, mach kleine Schritte, sachte, die Arme bleiben locker, Hüften aufrecht, du sollst nicht auf die Füße gucken. Wer hatte nur diese schrecklichen Schuhe erfunden? Auf dem Feld wäre sie damit in der Erde stecken geblieben. Und die harten Böden des Schlosses sorgten dafür, dass Zehen und Fußgelenke bei jedem Schritt schmerzten. Wenn man als Edelfräulein andauernd Absätze tragen musste, wollte sie doch lieber ein einfaches Bauernmädchen bleiben, das ungestraft barfuß laufen durfte, wann es ihm passte.

      Auf einmal klopfte es. Dame Telda streckte den Kopf aus der Tür und wechselte ein paar Worte, während Azur dankbar ihre geschundenen Füße massierte. „Es ist so weit.“, verkündete Dame Telda, als sie ihre Unterredung beendet hatte. „König Darius ist nun bereit, dich zu empfangen.“

      Kapitel 3

      Sie führte Azur abermals durch die Gänge zu einer lichtdurchfluteten Halle, deren Türflügel offenstanden und den Blick auf eine Tafel freigaben. Beide Männer, die sich an ihren Enden gegenübersaßen, mussten die Stimme erheben, um sich miteinander zu unterhalten. Azur erkannte König Darius an seiner strahlend polierten goldenen Rüstung. Er wandte sich ihr zu und das Gespräch verstummte.

      „Geh hinein.“, flüsterte Dame Telda „und vergiss nicht, dich so zu verneigen, wie wir es geübt haben.“

      Mit kleinen Schritten und pochendem Herzen durchquerte sie den Saal, der noch größer war als alle Zimmer im Haus ihres Vaters zusammen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich vor der Tafel stand, im Geiste Sol dafür dankend, dass sie noch nicht hingefallen war.

      „Hier bin ich, Mädchen.“, sagte Darius mit fester Stimme und sie passierte die letzten Meter bis zu seinem Thron, oder wie auch immer das Kunstwerk bezeichnet wurde, auf dem er saß. Ihre Augen suchten sich einen festen Punkt zwischen seinen Füßen, an dem sie sich festhalten konnten, damit sie nicht umfiel, während sie einen tiefen Knicks machte. Etliche Sekunden verharrte sie in dieser Haltung und wünschte sich, der König würde ihr erlauben, sich zu erheben. Lange würde sie das Gleichgewicht nicht mehr halten können. Hoffentlich bemerkte er nicht, wie peinlich sie schwankte.

      Doch, er musste es gesehen haben, denn er lachte. Und was für ein Lachen er hatte! Es kam aus den Tiefen seines gewaltigen Bauches hervorgesprudelt, offen und ohne eine Spur von Spott. „Sieh nur, Alec da steht sie. Das Mädchen mit dem blauen Haupte. Leibhaftig und schön.“

      Azur errötete leicht.

      „Erhebe dich und nenne mir deinen Namen.“ Er nahm einen Schluck aus seinem vergoldeten Becher. Überhaupt war alles Mögliche und Unmögliche in diesem Schloss aus Gold, die Verehrung für das Edelmetall, dessen Wert und Farbe die Sonne symbolisierte, kannte keine Grenzen. Vorsichtig richtete Azur sich auf und wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Wohlstand zeichnete sich in seinen runden, gemütlichen Zügen ab. „Warum sagst du nichts? Hast du auf dem Weg hierher deine Stimme verloren?“

      Sie schüttelte leicht den Kopf.

      „Na dann sag mir, wie du heißt und ob du eine gute Reise hattest.“

      Unsicher deutete Azur auf ihren Hals.

      „Was ist damit? Rede endlich oder bist du stumm?“

      Das mochte eine rhetorische Frage gewesen sein, doch Azur war dankbar, dass er sie gestellt hatte. Sie nickte und senkte schuldbewusst den Blick, obwohl es nicht ihr Vergehen war. Auch wenn sie wollte, konnte sie dem König ihren Namen nicht nennen.

      Darius` Miene wurde ernst. „Beim Sonnengott, das hat uns gerade noch gefehlt.“

      „Vater, du solltest ihr gleich von dem Vorfall in Ghabran erzählen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“, meldete sich Prinz Alec, der Sohn des Königs, zu Wort. Azur hatte bereits des Öfteren von ihm gehört. Sämtliche Frauen Seynakos, ungeachtet ihres Alters und gesellschaftlichen Standes, schwärmten für den Prinzen. Zwar hatten nur wenige, die sie kannte, ihn je zu Gesicht bekommen, doch Geschichten verbreiten sich schnell. Erst recht, wenn darin ein gutaussehender Königssohn die Hauptrolle spielte. Vielleicht lagen das lebhafte Interesse und die große Sympathie, die das Volk für Prinz Alec hegte, an dem Umstand, dass er der einzige Nachfahre des Königs war, denn die Königin war früh gestorben.

      Ebenso wie Azurs Mutter.

      „Das hier ist nicht der richtige Ort.“, sagte Darius und grübelte kurz vor sich hin. Schließlich erhob er sich, wobei man das Gewicht seiner Rüstung erahnen konnte. „Ich fürchte, ich muss ohne Umschweife zum unangenehmen Teil unseres Treffens übergehen. Es mag noch nicht viel davon durch die Schlossmauern nach außen gedrungen sein, aber in letzter Zeit wurde mir Besorgniserregendes zugetragen. Meine Lage ist schwierig.“ Er mühte sich, die richtigen Worte zu finden. „Ich bin außerordentlich um die Sicherheit meines Landes besorgt. Sollte die Prophezeiung sich tatsächlich bewahrheiten, so ist es höchste Zeit, dich in die Geschehnisse einzuweihen, die sich kürzlich an der Nordgrenze abgespielt haben. Wenn du uns folgen möchtest.“ Er machte eine Geste, mit der er auch Alec aufforderte, ihm zu folgen.

      Wenn es einen schrecklichen Ort in Seynako gab, dann war es der Kerker des Schlosses Cian. Schon auf der Treppe schlug Azur der abgestandene Geruch von Schweiß, Moder und Exkrementen entgegen.

      Fast alle Zellen standen leer. Die Sonnenanbeter neigten nicht dazu, schwerwiegende Gesetzesbrüche zu begehen. Gab es Delikte, wurden sie, unter Aufsicht der ortsansässigen Priester, zwischen den Familien der jeweiligen Täter und Opfer ausgetragen. Hinrichtungen hatte es seit Jahren nicht mehr gegeben und von der Möglichkeit, einen Menschen auf eine Streckbank zu legen, um der Wahrheit ein wenig nachzuhelfen, hatte man in Seynako noch nie gehört, weshalb Cian weder einen Folterknecht noch einen Henker beschäftigte. Nur einen knochigen, lichtfremden Kerkermeister, der die rostgeplagten Schlüssel verwaltete.

      Hinter einem der schmutzigen Gitter saß eine Frau, die ein ähnlich gesegnetes Alter haben mochte wie Azurs Großmutter. Sie lag auf den Knien, tief gebeugt im Schmutz und betete. Allerdings war es nicht das ruhige, in sich gekehrte Beten einer Gläubigen, sondern ein heftiges, flehendes Wimmern, das sich nur durch die gefalteten Hände als Gebet identifizieren ließ. Darius schlug mehrmals mit der flachen Hand gegen das Metall, um die Aufmerksamkeit der Alten zu erregen.

      Azur wollte näher herantreten, aber Prinz Alec hielt sie zurück. „Besser du hälst Abstand. Es ist gefährlich, sich ihr zu nähern.“, sagte er.

      Die Frau hievte sich auf und kam auf das Gitter zu gehumpelt. „Oh, mein König, Beschützer der Sonne. Wann lasst Ihr mich gehen? Ich muss heim, Majestät, es gibt jede Menge Arbeit auf den Äckern meiner Familie.“

      „Deine Familie ist tot.“

      Weinend sank sie zurück in den Dreck. „Tot, sagt Seine Majestät! Warum sollen meine Lieben tot sein?“

      Alec seufzte, als er Azurs entsetze Miene sah. „Empfinde kein Mitleid für diese Frau. Sie ist wahnsinnig geworden und hat ihre Söhne und deren Kinder ermordet, draußen in Ghabran, an der nördlichen Grenze Seynakos. Ein wahres Blutbad, man fragt sich, warum sie von niemandem aufgehalten werden konnte.“

      Azur starrte auf das zerfurchte, schmutzige Gesicht der Alten. Ihre Augen waren verquollen, als hätte sie viele Tage lang nur geweint