Sheyla McLane

Die Sonne über Seynako


Скачать книгу

Grund ihrer Scham verstehen konnte und sie fühlte, wie er sie sanft in den Arm nehmen wollte. Nein, beim Sonnengott! Der Thronfolger von Seynako wollte sie trösten? Darauf hatte sie genauso wenig Anspruch wie auf den gütigen Abgrund, der sie verschlucken sollte. Beides hatte sie nicht verdient.

      Sie machte sich los und unternahm einen letzten Versuch davon zu laufen. Allan musste sich getäuscht haben. Sie war zu schwach, um ihrem Land zu dienen. Sollte Alec sie verachten wie alle anderen, es war ihr gleich, wenn sie dafür zurück zu ihrer Familie gehen durfte. Nur fort von hier, in die Arme ihrer Brüder. Nie wieder König Darius unter die Augen treten und erst recht nie wieder in den verfluchten Kerker von Schloss Cian. Sie ertrug es nicht länger, die Enttäuschung in ihren Gesichtern zu sehen. Die Zeigefinger, die auf sie gerichtet waren. Sie hielt es nicht aus. Zugegeben, am Anfang hatte die Prophezeiung sie mit Stolz erfüllt. Jetzt wollte sie sich in eine graue Maus verwandeln. Oder blondes Haar bekommen, wie jeder normale Bürger, damit niemand mehr auf die Idee kam, sie um Hilfe zu bitten. Und was ihre Vision anbetraf – ein böser Traum, sonst nichts. Sie hatte selbst daran geglaubt, auserwählt zu sein. Nur so hatte ihr Unterbewusstsein ihr diesen schlimmen Streich spielen können.

      „Was muss ich tun, damit du bleibst?“ Noch während sie sich umdrehte, ärgerte sich Azur über ihre mangelnde Selbstbeherrschung. Der Prinz war ihr nicht länger nachgelaufen, doch seine Augen flehten sie an, zu bleiben. „Dein Land braucht dich, Azur.“

      Sie versuchte, seinen Blick abzuschütteln. Sie taumelte.

      „Bleib sofort stehen, ich befehle es dir! Ach, verflucht…“ Alec warf seine königlichen Manieren über Bord, stapfte auf sie zu, packte Azur am Arm und zog sie mit sich. „Du wirst nicht einfach davonlaufen. Nicht solange Seynako in Gefahr ist.“

      „Ist dies das rechte Benehmen für einen Thronfolger?“ Der junge Mann, der vor Alecs Pferd beiseite hatte springen müssen, stellte sich ihnen mit verschränkten Armen in den Weg, als der Prinz die kaum noch Widerstand leistende Azur durch das Schlosstor zerrte.

      Alec richtete sich zu seiner vollen Größe auf und reckte das Kinn empor. „Wer bist du, dass du es wagst...?“

      Der Kühne zuckte mit den Schultern. „Ein Niemand.“

      „Sei dankbar, dass ich gerade Wichtigeres im Sinn habe, als dich zu betrafen! Hol lieber die Pferde zurück in den Stall, anstatt dein Maul aufzureißen!“, herrschte Alec ihn an und zog Azur an ihm vorbei. Diese blickte Neal über Alecs Schulter hinweg an.

      „Ich hab dir gesagt, unsere Wege würden sich wieder kreuzen!“, rief er, bevor Alec die Tür zwischen ihnen ins Schloss warf.

      „Der Meister wünscht, nicht gestört zu werden.“ Blair bemühte sich, den Gestank des Gargoyles nicht allzu tief einzuatmen.

      „Mein Anliegen ist von größter Wichtigkeit.“, erwiderte er.

      „Trotzdem werdet Ihr warten müssen, bis er diesen Raum verlässt. An mir kommt niemand vorbei.“, knurrte das Biest, das sich, wenn es gerade keine Aufgabe hatte, als eine abstoßende aber gewöhnliche Skulptur aus Stein tarnte. Meister Alefes hielt sich allein hier auf der Burg hunderte davon, die am Tag als Wasserspeier und nachts als aufmerksame Wächter fungierten. Blair hasste sie, aber ihnen zu widersprechen konnte leicht lebensbedrohlich werden.

      „Ein treuer Diener seines Herren.“, heuchelte er deswegen. „Doch sicher wäre der Meister wenig erfreut, wenn er erführe, dass ihm durch dich wichtige Informationen vorenthalten werden.“

      „Ich befolge nur seinen Befehl.“, sagte der Gargoyle und schlug mit seinen drachenähnlichen Flügeln. „Das tue ich schon seit dreihundert Jahren und darum weiß ich, wie ungehalten Meister Alefes werden kann, wenn man seine Befehle missachtet. Ihr solltet jetzt gehen.“

      Drohend kroch die Bestie einen Schritt auf Blair zu, der dem Drang widerstand, sie mit seinem Schwert in die Schranken zu weisen und dadurch sein Leben dem Leichtsinn zu opfern. Zähneknirschend wich er zurück. „Richte dem Meister aus, dass ich ihn dringend sprechen muss. Es ist wirklich wichtig.“

      „Sicher. Und jetzt verschwindet.“

      Auf der anderen Seite der alten, eisenbeschlagenen Tür lag ein Raum, der fast vollkommen in Dunkelheit gehüllt war. Weder eine Kerze noch eine Fackel brannten, doch von einem blau glimmenden Gegenstand ging schwaches Licht aus. Er war flach wie ein Spiegel und schimmerte prächtig und tiefgründig wie eine Galaxie – Alefes’ Tor zu einer Welt, die Normalsterblichen verschlossen blieb. Er kniete auf dem Boden, sein langes, schwarzes Haar fiel ihm über die Schultern, in denen die verborgene Kraft eines Halbgottes schlummerte.

      „Trivia.“ Er nannte die Frau, deren Gesicht vor ihm zwischen den blauen Schwaden auftauchte, nicht Mutter, obgleich sie ihn geboren hatte. Er verehrte sie als die Gründerin des Reiches, über das er herrschte, als Göttin und als Herrscherin, doch niemals als Mutter. Diese Rolle überließ er den irdischen Frauen, die zu ihren Kindern ein enges, menschliches Verhältnis pflegten. „Ich habe das Warten satt. Seit Generationen bin ich nun schon Oberhaupt eines Reiches, das ich nicht regieren kann.“

      Trivias Stimme schien wie aus weiter Ferne zu kommen, als sie antwortete: „Was willst du mehr? Der Clan der Ritter von Donovon ist unter deiner Kontrolle und unser kleines Experiment in Ghabran war erfolgreich. Mit der Technik der Telepathie bist du in der Lage, die Gedanken der Menschen zu manipulieren und sie dir hörig zu machen. Du hälst damit eine Macht in deinen Händen, der König Darius nichts entgegenzusetzen hat.“

      Kapitel 5

      „Die dunkle Macht, er teilt sie gern, drum huldigt unserem neuen Herrn.“, wiederholte Darius fassungslos, was die Alte im Kerker voller Euphorie gesungen hatte, bevor sie verendet war. „Unserem neuen Herrn! Kannst du dir das vorstellen? Das klingt gerade so, als ob er schon hier wäre!“

      „Beruhigt Euch, mein König.“, versuchte Allan, ihn zu beschwichtigen. „Noch ist nichts verloren.“

      Darius empörte sich: „Wie soll ich mich beruhigen, wenn das Einzige, was du mir anbieten kannst, dieses stumme Weib ist? Nur, weil die blaues Haar auf dem Kopf trägt, heißt das lange nicht, dass sie imstande ist, unser Land zu schützen. Ich meine… sowas kann durch Zufall passieren. Manche Kälber sind schneeweiß und haben rote Augen. Äußerlich sind sie missgebildet, deswegen müssen sie aber nicht über besondere Fähigkeiten verfügen.“

      „Aber das sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, Majestät.“, sagte Allan. „Ich habe nicht vorhergesagt, dass ein weißes Kalb kommen wird, um uns zu beschützen, sondern dieses Mädchen und ich habe bis jetzt immer Recht behalten.“ Ein wenig ärgerte ihn der Zweifel des Königs. Er nahm sich vor, ihn bei Gelegenheit daran zu erinnern, wie er vor ein paar Jahren ein hartnäckiges Geschwür an Darius‘ linkem Fuß geheilt hatte. Und den Tod seiner Frau im Wochenbett hatte er auch vorausgesehen – wobei er diese Erinnerung lieber unangetastet ließ. Mit einem beleidigen Grummeln trat er ans Fenster. Er hatte auch gewusst, dass der junge Prinz Azur nicht fliehen lassen würde. Es war dem Mädchen nicht bestimmt, vor seiner Aufgabe davonzurennen.

      Doch all das waren trübe Ahnungen im Vergleich zu der Vorhersehung, die Sol ihm damals vor dreizehn Jahren geschenkt hatte. Seither waren ihm nie mehr die klaren Eingebungen, die von jener unzweifelhaften Gewissheit begleitet waren, zuteil geworden. Von der Euphorie, welche damals in seinen Adern prickelte, war nurmehr die Erinnerung übrig. Jedem anderen hätte er unter diesen Voraussetzungen das Recht abgesprochen, sich Seher nennen zu dürfen. Seine schwächliche Begabung hätte nicht einmal für das Amt einer Priesterin gereicht, so er denn eine Frau gewesen wäre. Dem war sich Allan bewusst, aber er schwieg und schaute noch immer so gewichtig drein, wie er es früher getan hatte, als der Sonnengott ihn noch liebte. Ihm allein war die Ehre zuteil geworden, die Prophezeiung zu empfangen. Es war sein Verdienst gewesen, den ihm nun niemand mehr streitig machen konnte, selbst wenn seine Kräfte nachgelassen hatten.

      „Was geschieht jetzt?“, fragte Darius, der noch immer auf seinem Thron verweilte

      „Uns bleibt nichts übrig, als abzuwarten.“, gab Allan zu, in der Gewissheit, dass seine Antwort dem König missfallen würde. Noch