Prentice Mulford Mulford

Die Kraft von oben


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werden in immer kürzeren Zwischenräumen sich vollziehen, bis sich der Geist allendlich aus den ihn umgebenden Elementen einen stofflichen Körper schaffen wird, dessen er sich am physischen Plan beliebig lange bedienen kann. Dies ist der Zustand, den Paulus ahnte, als er schrieb: „Tod, wo ist dein Stachel? Grab (,Höhle‘, ‚Hölle‘), wo ist dein Sieg?“ Und wenn er weiter verkündigte: „Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod!“ Ich führe Paulus an, weil keiner der alten Lehrer diese Möglichkeiten klarer voraussah, als er, wenngleich sie gewiss auch anderen Persönlichkeiten der geschriebenen und ungeschriebenen Geschichte dieses Planeten bekannt waren.

      Diese Wahrheiten und Möglichkeiten, Verfall, Schmerz und Tod aufzuheben und abzutun, um in einen neuen Körper hineinzuwachsen, ihn zu ergreifen und mit ihm ein neueres, frischeres, kraftvolleres Leben: diese Wahrheiten und Möglichkeiten packen uns heute mit der Notwendigkeit des Lebens selber. Und wir dürfen diese Gegebenheiten nicht als etwas betrachten, das erst in ferner Zukunft einem kommenden Geschlecht Wirklichkeit sein wird. Es sind Möglichkeiten für uns Menschen von heute! Ja, wir haben die Kräfte, die uns neues Leben und neue Körper bringen werden. Freilich, wenn uns nichts von diesen Kräften gesagt wird, können wir uns ihrer auch nicht bedienen. Wir sind wie der Bettler, der nicht weiß, dass im löcherigen Unterfutter seines Rockes eine Tausend-Dollarnote eingenäht ist. Solche Erkenntnis ist für uns aber die „köstliche Perle“, um derentwillen der Kaufmann hinging und alles verkaufte, was er besaß. Diese Perle können wir nicht verkaufen. Wir können sie auch nicht gegen diejenige unseres Nachbars austauschen. Wir können die Kräfte unseres Nachbars nicht anhäufen. Wir können jeder nur allein wachsen und nur unsere Kraft gebrauchen und nur die unsrige.

      Es gibt vielleicht noch Ungläubige, welche fragen: „Ja, ist denn so Wunderbares in unseren nüchternen Tagen möglich?“

      Ich antworte:

      „Unsere Tage sind nicht nüchtern. Sie waren niemals weniger nüchtern. Es sind nur die weniger Geweckten unter uns, denen diese Tage nüchtern erscheinen. Wir leben inmitten der gleichen Elemente und besitzen mehr oder weniger die gleichen Kräfte, die jenen drei jungen Juden ermöglichten, im Feuerofen einen Lobgesang zur Ehre Gottes anzustimmen oder die den Propheten Daniel befähigten, durch Auswirkung höchster Gewalt menschlichen Geistes die Raubtiernatur der Löwen in der Grube auszulöschen; oder die den Paulus das Gift der Schlange abschütteln oder den Mann von Nazareth seine Wundertaten vollbringen ließ“.

      „War das nicht die Kraft Gottes, die sich da offenbarte?“ fragst du.

      Gewiss, es war die Kraft Gottes oder des unendlichen, unbegreiflichen Geistes des Ewig-Guten, der in und durch diese seine Kinder wirkte, wie die gleiche Kraft auch heute in und durch uns wirken kann; und umso gewaltiger wirken kann, je mehr wir nach ihr verlangen, je drängender und beharrlicher wir um sie bitten und je vollkommener unsere vertrauende Hingabe an sie ist. Diese Kraft von oben ist einfach die Herrschaft des höheren Prinzips über das niedere, sie ist das Primat des Unsichtbaren über das Sichtbare.

      Das ernste Gebet oder Verlangen: besser zu werden, an Kraft von oben zu gewinnen und an Adel zuzunehmen, ruft immer feinere Elemente und Kräfte heran: sie sind Geist und Leben. Aber der Beweggrund deines Gebetes oder Verlangens muss der natürliche, innig gefühlte und eifervolle Wunsch sein: alles, was du empfängst, mit anderen zu teilen. Du kannst nicht die Fülle der Kraft erflehen, wenn du nur dir selbst zu leben gedenkst. Sie kann dir bis zu gewissem Grade werden und du kannst durch sie vieles vollbringen. Dein Verlangen kann dir, wenn du nur dir selbst lebst, Häuser, Wohlstand und Ruhm zubringen. Aber jegliches Verlangen, das aus selbstischem Beweggrunde geschah oder geschieht, erfüllt sich zuletzt in Schmerz, Krankheit und Enttäuschung.

      2. MATERIALIST CONTRA SPIRITUALIST

      Jeder Mensch besitzt einen geistig-seelischen Wesensteil, der Zeitalter hindurch gewachsen und geworden ist — und einen stofflichen Wesensteil, den physischen Körper, der sozusagen erst gestern in sichtbare Erscheinung trat.

      Es gibt Materialisten und Spiritualisten, das heißt: stofflich gerichtete Geister und spirituell gerichtete Geister. (Man könnte auch von „Idealisten“ und „Realisten“ sprechen, könnte den Dichter dem Wissenschaftler oder den gläubigen Menschen dem ungläubigen Menschen entgegenstellen, um die hier gemeinten Geistigkeiten zu kennzeichnen.)

      Der Geist ist eine Kraft und ein Geheimnis. Wir wissen von ihm lediglich, dass er da ist und dass er, immer am Werk, alles, was uns in der Körperwelt sichtbar ist, hervorbringt. Und dass er noch weit mehr in jener Welt schafft, die uns unsichtbar ist.

      Was wir von einem Dinge sehen, was uns als Baum, Tier, Mineral oder Mensch erscheint, ist nur ein Teil des Dinges, des Baumes, Tieres oder Menschen. Es gibt eine Kraft, die die Natur und ihre Formenwelt „im Innersten zusammenhält“. Diese Kraft entfaltet die Blume zur höchsten Schönheit — und lässt sie auch wieder welken. Sie verändert unaufhörlich die Formen und Gestalten alles dessen, was wir organisch nennen. Tier, Pflanze oder Mensch haben in diesem Monat oder Jahr nicht die gleiche physische Gestalt, die sie im nächsten Monat oder Jahr haben werden.

      Diese ewig-tätige, ewig-verwandelnde Kraft, die hinter allen Dingen liegt und in gewissem Sinne alle stofflichen Formen schafft, nennen wir Geist.

      Den Dingen des Lebens in der Erkenntnis dieser Kraft nachsinnen, sie so anschauen und beurteilen, bedeutet für mich: spirituell gerichtet sein, spirituellen Geist haben.

      Der spirituelle Geist wird in uns erweckt, wenn wir uns die Frage vorzulegen beginnen: „Warum ist im physischen Leben so viel Schmerz und Qual und Enttäuschung? Warum scheinen wir nur geboren, um zu leiden und zu verfallen?“

      Ja, solche Fragen sind die Erweckungen des spirituellen Geistes. Aber jeder Frage, ernsthaft gestellt, wird zur gegebenen Zeit Antwort, jedem ernsten Verlangen Erfüllung.

      Was ist stofflich gerichteter Geist, „materieller“ Geist?

      Ein Kind sieht den Dampfer fahren und fragt dich um Bescheid über die Bewegung.

      Du sagst ihm: es seien die Räder, deren Kraft das Schiff in Bewegung setzt und in Bewegung erhält. Du sagst ihm nichts vom Dampfe als der motorischen Kraft.

      Wächst das Kind in solcher Unwissenheit heran, so wird es, wenn die Räder einmal stille stehen, die Ursache des Stillstandes nur bei den Rädern suchen. Es weiß ja nichts vom Dampfe.

      So wird stofflich gerichteter Geist gezüchtet.

      Ein Mensch bekennt: „Mein physischer Körper ist alles, was ich besitze. Ich leugne alles Unsichtbare. Ich betrachte den Tod als mein gänzliches Aufhören, als mein Ende ohne Fortsetzung. Es gibt für mich keine Kraft als diejenige, die in meinen Muskeln und Sehnen steckt. Außerhalb meines sichtbaren Körpers gibt es für mich keine Kraft.“

      Es ist das Bekenntnis eines stofflich gerichteten Geistes, eines Materialisten.

      Ein anderer Mensch bekennt: „Mein sichtbarer Körper ist lediglich ein Instrument des Geistes oder jenes meines wirklichen Ichs, das sich ins Fleisch begab. Mein körperlicher Tod ist durchaus nicht mein gänzliches Aufhören, mein Ende ohne Fortsetzung. Was die Menschen Tod nennen, ist lediglich der Abschied des Geistig-Seelischen vom Stofflich-Körperhaften. Ich weiß, dass ich als Geisteswesen weiterlebe, auch wenn ich dem irdischen Auge unsichtbar geworden bin!“

      Es ist das Bekenntnis eines spirituell gerichteten Geistes, eines Spiritualisten.

      Der Materialist, in eine Welt des Todes, der Auflösung und des Verfalls hineingestellt — Tod, Verfall und Auflösung bedeuten ihm Endgültigkeiten: — er mag von Trauer befallen werden, von Schwermut und Wehgefühl der Vergänglichkeit. Und seine Weisheit mag sich zuletzt in der Maxime erschöpfen: „Das Leben ist kurz — also will ich es genießen!“

      Die Frucht der Freude des Unweisen ist hundertfältige Qual und Enttäuschung.

      Der Spiritualist erkennt in der Freude ohne Schuld das große Ziel des Lebens. Er öffnet sich höheren, neueren Lebenskräften und lehrt, dass es ein Gesetz gibt, das den Gebrauch der körperlichen Sinne regeln kann. Wer dieses Gesetz erlernt und ihm folgt: dem