man stets dick angezogen und mit Kopfbedeckung zum Rettungsbootmanöver antanzte. Es war ja bedauerlicherweise so, dass die wenigsten Fahrensleute über die Chancen zum Überleben in Seenot informiert waren. Zweifellos verstand sich der Seefahrer nicht als Überlebensspezialist, so eine Art Pendant zum Würmer fressenden, ledernackigen Dschungelkämpfer. Allerdings wäre es bestimmt gut gewesen, auch als verwöhnter Schiffer der hightech-gläubigen Containerfahrergeneration, von einigen grundsätzlichen Regeln zum Überleben in Seenot Kenntnis zu haben.
Bootsmanöver auf M/S 'Geert Howaldt', 1962
Es gab da in der Reihe ‚up to date – Weiterbildung an Bord‘, die vom Sozialwerk für Seeleute herausgegeben wurde, den Band Nr. 5 von Georg Krieger und Klaus-Ulrich Göllner. Aus diesem informativen Heftchen mit dem Titel ‚Überleben in Seenot‘ möchte ich ein paar Punkte herauspicken:
„Allgemeine Verhaltensregeln für alle Seegebiete.
Bleibe an Bord so lange wie eben möglich.
Nimm bereits vor dem Verlassen des Schiffes ein Mittel gegen die Seekrankheit.
Trinke vor dem Verlassen des Schiffes so viel wie möglich.
Trinke unter keinen Umständen Alkohol während des Seenotfalles und unmittelbar nach der Rettung.
Ziehe dich vor dem Verlassen des Schiffes so warm wie möglich an.
Nimm zusätzlich Trinkwasser, Decken, Schlechtwetterkleidung, dünnes Tauwerk und Proviant in das Boot.
Vermeide den Sprung in das Wasser.
Achte auf guten Sitz und gute Befestigung der Rettungsweste.
Ziehe im Wasser keine Kleidungsstücke aus; durchnässte Kleidung zieht nicht unter Wasser.
Vermeide im Boot oder im Wasser jede unnötige Bewegung.
Trinke nichts in den ersten 24 Stunden nach dem Verlassen des Schiffes.
Trinke unter keinen Umständen Seewasser, auch nicht mit Frischwasser verdünnt.“
Bootsmanöver auf M/S 'Geert Howaldt', 1962
Damals hätte mir der eine oder andere Seemann sein „Na und?“ an den Kopf geworfen und behauptet, dass damit nicht viel Neues gesagt worden sei. Wirklich?
Zu Punkt eins etwa: „...Die Erfahrung zeigt, dass immer wieder Schiffe zu früh aufgegeben wurden. Die Wracks wurden später treibend geborgen und hätten noch ausreichend Schutz vor Wind, Nässe und Kälte geboten. So aber waren die Schiffbrüchigen in den offenen Booten an Erschöpfung zugrunde gegangen.“
„Selbst ein Schiffsbrand von katastrophalen Ausmaßen kann ein Schiff kaum zum Sinken bringen. Muss in einem solchen Falle das Schiff verlassen werden, sollen Maßnahmen getroffen werden, um baldmöglichst wieder an Bord gehen zu können.“
„Mindestens vorne und achtern sollen mehrere Leinen außenbords gehängt werden, um Boote daran festmachen zu können; Lotsenleitern und Knüppelleitern sollen an mehreren Stellen übergehängt werden für den Fall, dass man wieder an Bord gehen kann.“
In 28 Jahren Seefahrtzeit war mir noch nie bei einem Sicherheitsmanöver aufgefallen, dass jemand zum Ausbringen derartiger Leinen und Leitern eingeteilt, geschweige dass diese Maßnahmen überhaupt jemals erörtert worden wären! Doch hier noch einige weitere Ausschnitte:
„Seit alters her schreiben Seefahrer in aller Welt dem Alkohol gerade in Notsituationen positive Wirkung zu; man erhofft sich von einem kräftigen Schluck eine erhebliche Stärkung des körperlichen und seelischen Durchhaltevermögens.“
„Es ist jedoch in jeder Hinsicht grundfalsch ... Bei ungewöhnlicher Kälte schützt sich der Körper vor Auskühlung durch Verengung der Blutgefäße in der Haut und den darunter liegenden Schichten... Alkohol bewirkt nicht nur eine Aufhebung dieses Schutzeffektes, sondern auch eine Umkehrung... Es kommt zu übermäßigem Wärmeverlust. Daraufhin steigert der Körper die Wärmeproduktion, jedoch nur mit dem Effekt, dass die Körperreserven vorzeitig verbraucht werden und die Auskühlung beschleunigt wird... Außerdem werden durch den Alkohol unnötigerweise Wasserreserven aus dem Körper ausgeschwemmt...“
Hand aufs Herz: Wer hätte im Falle eines Falles die kreisende Buddel, in der Überzeugung, dass sie Wärme und Trost spendet, zurückgewiesen?
Es war irgendwie bitter, von kompetenter Seite so brutal auf sein Unwissen aufmerksam gemacht worden zu sein. So erfuhren wir, dass die häufigste Todesursache in Seenotfällen der Kältetod sei. Und zwar auch bei milden Temperaturen kann die Unterkühlung als allgemeines Erfrieren des ganzen Körpers eintreten. Bei Wassertemperaturen über 20 Grad Celsius, so wurden wir belehrt, könne der Körper im Notfall die Wärmeproduktion auf das Fünffache steigern. Doch unter 20 Grad sieht die Sache bedenklicher aus. Und bei sehr kaltem Wasser sind die Überlebensaussichten erschreckend kurz:
„...Die Temperatur im Kern des Körpers sinkt auf 25 Grad und erreicht damit die tödliche Unterkühlungsgrenze:
bei 15 Grad Wassertemperatur nach 12 Stunden
bei 10 Grad Wassertemperatur nach 5 Stunden
bei 5 Grad Wassertemperatur nach einer Stunde.“
Es war faszinierend und erschreckend zugleich, wenn man in dieser Broschüre blätterte. Wie war das noch mit dem Wasser? Der Mensch besteht zu 60 Prozent aus diesem Stoff. Ist ein Prozent davon verbraucht, stellt sich Durst ein. Bei 5 Prozent – etwa 2 Liter bei einem Körpergewicht von 70 Kilogramm – beginnt bereits der körperliche und geistige Zusammenbruch. Man hat keine Lust mehr zu Überleben, und wenn man erst 8 bis 10 Prozent Wasserverlust erreicht hat, stellen sich Halluzinationen ein. Das Ende kommt dann bei 20 Prozent – eine grausige Rechnerei!
Bootsmanöver auf M/S 'Marlene-S',
Niemand hatte uns je erklärt, dass der Wasserhaushalt bewusst reduziert werden kann! Dass der Körper bei akutem Wassermangel seinen Verbrauch auf ein Drittel, rund 0,8 Liter in 24 Stunden, einschränken kann. Deshalb also sollte man in den ersten 24 Stunden nach Verlassen des Schiffes absolut keinen Tropfen trinken. Erst durch das Durstgefühl würde der Körper zur Einschränkung gezwungen, um dann mit 0,8 Litern klar zu kommen. Und dann kam die schlaue Rechnung: durch Stoffwechselvorgänge kann der menschliche Körper selbst 0,3 Liter Wasser erzeugen und deshalb mit einer täglichen Ration von einem halben Liter ohne spätere Körperschäden über längere Zeit überleben.
Mich hatte all das ziemlich nachdenklich gestimmt, und mir war bewusst geworden, dass vieles, was mit Sicherheit zu tun hatte, nur oberflächlich behandelt und pflichtschuldigst abgehakt wurde. Zeitmangel ließ bei der Hektik der Seeschifffahrt Sicherheit zur Nebensächlichkeit verkümmern. Aber auch Allzumenschliches spielte eine Rolle, das musste auch ich reumütig eingestehen, denn – mal ehrlich! – wer prüfte tatsächlich und penibel jeden Tag die Notbatterie oder allwöchentlich den Rettungsbootsender auf Herz und Nieren? Und so waren eben auch die Rettungsboote nicht selten in ihren Davits regelrecht festgemalt, weil ein Schiff, schön gepönt, dem Ersten und dem Alten beim gefürchteten Reeder- oder Inspektor-Besuch bessere Karten einbrachte als ein fettbekleckerter, aber funktionierender Mechanismus.
Bei vielen anderen unfallverhütenden oder lebenserhaltenden Geräten und Einrichtungen verhielt sich der Seemann nicht anders als der Autofahrer, der den Sicherheitsgurt ignoriert. Vom Schutzhelm bis zu den Sicherheitsschuhen, vom Rauchen in der Koje bis hin zur vorschriftsmäßigen Besetzung der Schiffe und Wachen wurde auch bei der christlichen Seefahrt der fromme Spruch ‚Safety first‘ eher platonisch betrachtet.
Auf späteren Schiffen gab es bereits Überlebensanzüge, in denen man gute Chancen gegen den Kältetod hatte. Als Nachteil empfand ich, dass man sich in diesen unförmigen