Wache war man halt 48 Meilen weiter. Ganz logisch, nicht wahr? Nur, ob es stimmte, das war die Frage.
Selbstverständlich ließ sich die Ungewissheit spätestens in Küstennähe ausbügeln. Terrestrische Navigation war ja auch mit dem Radargerät möglich, sobald es einem die markanten Küstenlinien auf den Bildschirm zauberte. Auf hoher See war es allerdings auch gang und gäbe, dass man von anderen Schiffen in zufälliger Sichtweite angefunkt wurde, um unverhohlen nach einer Position zu fragen. Es war schon eigenartig, aber meist waren es Navigatoren mit eher levantinischem Akzent, die man, und jetzt wird's ein bisschen hämisch, als typische Positionsschnorrer bezeichnen möchte. Das spielte sich dann folgendermaßen ab: Auf Kanal 16 des UKW-Seefunkempfängers tönte es ununterbrochen: „Ship on my starboard-side, this is motorship (nennen wir’s halt mal) ‚Katastropholos‘, can you hear me?“ – Das hörte sich natürlich so an: „Schipp on mai starrr-borrrd-said ...känn ju chierrr mi?“
Meldete man sich, dann kam nach freundlichem Woher und Wohin garantiert die Frage: „Känn ju giff mi jorr posischonn – can you give me your position?“
Zugegeben, wir auf den deutschen Schiffen reagierten schon etwas hochmütig auf derlei Anfragen. Die Kollegen auf den Billigflaggen-Linern und den Zossen unter Schattenflagge nahmen es eben lockerer, und waren bestimmt auch schlechter ausgerüstet – oder auch schlechter ausgebildet. Ich erinnere an den abenteuerlichen Tatsachenbericht ‚Die riskierte Katastrophe‘ (Hoffmann und Campe). Darin schildert Christian Jungblut, wie es ihm gelungen ist, mit erschwindeltem Patent als falscher Steuermann sogar auf einem Supertanker anzumustern! Wer konnte wirklich wissen, was für verwegene Pfiffikusse mit gefälschten Papieren sich da von Position zu Position durch die Weltmeere logen?
Während meiner Schlepperfahrtzeit lernte ich, wie schwierig es war, bei wochenlanger Dauerbewölkung die wirkliche Geschwindigkeit des Schleppzuges abzuschätzen, um damit zu gissen. Es gab Schiffe, die pflegten die alte Methode, ein Log hinterher zu ziehen, um mit so einem Instrument die zurückgelegte Strecke durchs Wasser festzustellen. Während einer Schleppreise mit einem anderthalb Kilometer langen Anhang hatte der Alte folgende Idee: Auf Kommando wurde ein leeres Blechfass vom Bug geworfen. Auf dem Radarschirm verfolgte er den kleinen Punkt und stoppte die Zeit bis das Fass den Achtersteven des letzten Anhangs passiert hatte. Und schon ließ sich unsere Geschwindigkeit ausrechnen.
Zunächst waren es Gerüchte. Dann war irgendeiner schon mal auf einem Kahn gefahren, der so einen Wunderkasten hatte. So einen Satellitennavigator, der eigentlich für die elitären Yachtsegler gedacht war. Noch waren die Kisten zu teuer, und oft musste man ewig darauf warten, bis es einem Satelliten da oben genehm war, ein Schiff richtig zu orten. Vielen Nautikern ging es auch gegen den Strich, sich von der alten Kunst der Navigation zu verabschieden und das Erlebnis des sich in der Weite der See Zurechtfindens einem Knopfdruckgedöns zu überlassen.
Auf M/S "Tim-S" gab es natürlich keinen Satellitennavigator. Den sparsamen Liebreiz dieses fettgemachten Kümos habe ich ja schon zur Genüge beschrieben. Der Kahn war allerdings ein Joker für abenteuerlustige Trampfahrer. Im Seekartenschapp des Schiffes lag Navigationsmaterial für die entlegensten Ecken der Erde. Nur, jede neue Reise brachte den Wurstwagen garantiert in ein Gebiet, von dem natürlich kein Kartenmaterial an Bord war. Als ich damals zum ersten Mal auf der "Tim-S" einstieg, hatte ich wenigstens noch eilig besorgte Unterlagen für die Ansteuerung des Amazonas mit an Bord bringen können. Als ich später wieder einmal auf diesem Pott gelandet war und wir an der Dschungelküste Sumatras nachts aus Angst vor Piraten sämtliche Lichter löschten, wurden wir prompt auf die Philippinen umbeordert. Es war ein echter ‚Blindflug‘, den wir dann in die Bucht von Manila riskierten!
Eine andere Reiseorder schickte die "Tim-S" an die Ostküste Kanadas. Sie sollte nach Saint John, New Brunswick. Klar, keine einzige Karte der Bay of Fundy stand zur Verfügung, jener Bucht des Atlantiks, wo die höchsten Gezeiten der Welt gemessen werden. Auf über 16 Meter Höhenunterschied schaffen es dort Ebbe und Flut!
Allerdings haben es Seeleute gelernt, aus Scheiße Bontjes zu machen. Zufälligerweise hatte ich an Bord einen ‚Rand McNally Road Atlas‘ über das Straßennetz der USA, Kanadas und Mexikos liegen lassen. Mit der Seite von den Atlantischen Provinzen Kanadas gelang es den Nautikern dann, sich nach Saint John zu mogeln.
Leider war die Küstenwache misstrauisch geworden. Bei einer Kontrolle an Bord zeigte man den Coast-Guard-Leuten auf die Frage nach der Methode zur Standortbestimmung die Kästen mit den Sextanten. Mit dem Aufschrei: „Was? Wie Kolumbus?“, fielen die Kanadier hierauf entsetzt aus allen Wolken - und die Reederei wurde dazu verurteilt, sofort einen Satellitennavigator einbauen zu lassen.
Klar, dass wieder mal gespart wurde. Also installierte man das Gerät mit billigen Bordmitteln in Eigenregie. Als ich dann im verwegen-wüsten ‚Bombay-Business-und-Schmuggeldienst‘ zwischen Taiwan und den Philippinen landete, sollten wir über Monate mit der Ungenauigkeit dieser Billigkiste kämpfen. Unser junger Kapitän kam jedoch auf den Dreh, dass die Leitungen zur Satellitenantenne so bescheuert verlegt worden waren, dass uns das Display anstelle akkurater Koordinaten nur den sprichwörtlichen Stinkefinger zeigen wollte.
Mittlerweile hat GPS die Welt erobert. Navigationssysteme leiten Autofahrer durch unbekannte Städte und, wenn sie sich blind auf die weibliche Roboterstimme verlassen, auch schon mal heimtückisch ins Wasser. Trucker, einst als Kapitäne der Landstraße Symbolfiguren für Freiheit und Abenteuer, werden genauso von Satelliten überwacht wie die Kommandanten der 4.500-TEU-Schiffe auf ihrer Container-Rennstrecke ‚round the world‘. Big Brother Überwachung als Alltag einer Spaß-Gesellschaft. Jeder Blödmann, und dazu muss ich mich fairerweise inzwischen selber zählen, kann sich mit einer GPS-Armbanduhr in den Busch wagen, um den ultimativen Kick einer gekauften Abenteuerreise zu erleben.
Wir alten Hasen damals mochten ihn nicht, diese Art von Fortschritt! Wo blieb das Rätselhafte? Wo blieb diese prickelnde Bereitschaft zu einem Restrisiko? Wo blieb das Wissen und das Können, wo die Kunstfertigkeit sich zurechtzufinden? Wo das echte Abenteuer, das doch wirklich erst im Kopf – in der ‚Savvy-Box‘ da oben – entsteht? Fortschritt kann auch eine verdammt schmerzhafte Beschneidung der Freiheit sein!
Also, sing weiter, Mark Knopfler, von den Männern, die rätselten und forschten, die noch auf der Suche waren – und sich nicht längst Gefundenes als ultimativen Kick andrehen ließen.
7. BOOTSMANÖVER
Spiegelglatte See seit Tagen. Es war eine günstige Gelegenheit, wieder einmal ein Bootsmanöver durchzuführen. Der zweite Offizier fragte die Besatzungsmitglieder unseres kleinen Containerschiffs, ob sie mit ihrer jeweiligen Bootsrolle vertraut waren. Daraufhin wurde eines der Rettungsboote in den Davits kurz ausgeschwungen. Anschließend stand eine Unterweisung der Leute in der Handhabung des tragbaren Rettungsbootsenders auf dem Programm. Wir übten die Bedienung vorne auf der Back, wo wir das Gerät mit einer langen Teleskopantenne sende- und empfangsklar machten. Der Kapitän beantwortete mit dem Sprechfunksender der Funkstation unsere Testsendungen auf der Notfrequenz 2.182 Kilohertz.
Bootsmanöver, Demonstration und Handhabung der Geräte und Rettungsmittel, aber auch Feuerlöschübungen wurden nicht selten vernachlässigt und von vielen als lästige Pflicht betrachtet. Die vorgeschriebenen Sicherheitsübungen entarteten gerne zu Pro-forma-Manövern fürs Schiffstagebuch. An den Ernstfall mochte keiner denken, schien mir, und so waren diese Wischiwaschi-Prozeduren quer durch die Branche bekannt. Und quer durch die Handelsmarine fand man verantwortungsbewusste Männer, die in derartigen Übungen das sahen, was sie eigentlich hätten sein müssen: ein Griffe Kloppen an den oft nur kläglichen, aber umso wichtigeren Einrichtungen, mit denen im Ernstfall ein Überleben ermöglicht werden sollte.
Ich entsinne mich eines Kapitäns, der ließ bei Feuerlöschübungen auch wirklich Wasser in die Schläuche laufen. – „Einen prallen, schweren Schlauch im Hitzeschutzanzug und mit aufgesetztem Atemschutzgerät beispielsweise in den Maschinenschacht und um zig Ecken zu zerren, ist ein ganz anderes Gefühl als mit einer schlaffen Röhre an den angenommenen Brandherd zu spazieren“, argumentierte er. So ließ er auch mal