Wilhelm Koch-Bode

Verlaufsänderungen


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      Wilhelm Koch-Bode

      Verlaufsänderungen

      dreizehn Erzählungen

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       Verlagslogo

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Lose Enden

       Hinterbliebene

       Kunstgenuss

       Verfolgung

       Patente Frau

       Der Fall

       Neue Wegstrecken

       Vertraulich

       Benachbart

       Nebenan

       Herbstlaub

       Abgehängt

       Heidenangst

       Impressum neobooks

      Lose Enden

      Unwillig sah er von seinem Buch auf. Der leise Rufton hatte Schulte aus tiefer Versunkenheit in die Autobiografie Eric Kandels aufgeschreckt, des Hirnforschers, dem es gelungen ist, persönlich Erlebtes und wissenschaftlich Exploriertes in fesselnder Synthese zusammenzuführen. Die helle, muntere Stimme auf dem Anrufbeantworter schien noch jung: Friederike Freitag hier. Hallo, Herr Schulte. Ich würde gern einmal privat mit Ihnen reden. Meine Mutter hat Sie gekannt. Könnten Sie mich bitte zurückrufen? Meine Telefonnummer ist: … (Eine Ziffernfolge mit Vorwahl für Frankfurt am Main, 069, folgte). Danke. Eigentlich eine ganz schöne Alliteration, dachte Schulte. Friederike Freitag - die Eltern mussten sich etwas dabei gedacht haben. Bestimmt Lehrer oder so. In einer privaten Angelegenheit wollte die Person etwas von ihm? Also keine Studentin. Auch schien es nicht um einen Vortrag, eine Expertise oder so zu gehen. Natürlich fiel ihm Regina Freytag ein, Lehrerin an einem Gymnasium irgendwo im Taunus, Französisch und Geschichte oder so. Sollte die eine Tochter haben? Nein, als er sie kannte, war sie auf jeden Fall kinderlos gewesen. Schon Mitte Vierzig, aus Überzeugung ungebunden, ein Single schlechthin. Regina und eine Tochter? Nein.

      Hatte Schulte eben noch versucht, sich kognitionsneurologische Zusammenhänge wenigstens ansatzweise zu vergegenwärtigen, was ihm, dem Gesellschaftswissenschaftler, trotz der unterhaltsamen Lektüre nicht unbedingt so flüssig gelang, wie er sich das vorgestellt hatte, schweiften seine Gedanken jetzt ab. Weg von der Meeresschnecke - Aplysia - mit den schlichten Hirnstrukturen, die Kandel auf die Spur des Gedächtnisses gebracht hatte. Beim Stichwort ‘Regina‘ ging es auch darum, was sein Langzeitgedächtnis hergab und ob er überhaupt Lust hatte, sich auf ein Stück Erinnerungsreise zu begeben. Aber warum eigentlich nicht? Die Frau war damals okay gewesen. Widerstandslos ließ Schulte die elektromagnetischen Reizströme zu, die durch seinen Cortex schnellten, Reginas Spuren aufnehmend. In tiefen Furchen versenkte uralte Bilder und Bildfragmente wurden angetippt, massenweise mitgerissen - wenngleich viele auch steckenblieben - und zu einem neuen Gefüge zusammengewürfelt. Schultes Vorstellung von ihr war mit den Jahren natürlich verblasst, aber nicht verschwunden; nun nahm sie - wie durch das Autofokus-System einer Kamera - deutlicher werdende Konturen an. Vergessene Details traten zutage: ein Trödelladen zum Beispiel, in dem sie um eine alte Porzellanpuppe feilschte, ihre Silhouette in der Abenddämmerung, ihr trauriger Blick aus dem Taxi, das sie zum Flughafen brachte. Zwar hatte er die Begebenheit mit Regina seinerzeit schnell abgehakt, aber ab und zu waren Erinnerungsspuren aufgeblinkt - bei Reisen durch die Rhein-Main-Gegend, beim Thema ‘Kanarische Inseln‘ in irgendwelchen Medien, immer wenn er irgendwo hessische Mundart aufschnappte, besonders aber bei der Begegnung mit einem bestimmten Frauentyp: selbstsicher, beredt, schlagfertig, anspruchsvoll, etwas streng, mitunter schroff. Kann gut sein, dass der eine oder andere Mitmensch fand, dass die Freytag ‘Haare auf den Zähnen‘ hat. Leute dieser Art schreckten Schulte aber kaum ab. Er war kühl und distanziert genug, sich davon nicht provoziert zu fühlen; zudem konnte er sich ganz gut anpassen und eine akzeptierende Haltung auch gegenüber schwierigen Zeitgenossen aufbringen. So waren Regina und er sich Weihnachten 1984 auf Gran Canaria für ein paar Tage nahegekommen, ohne dass die Zweisamkeit sich danach weiter unter kruden Alltagsbedingungen hätte behaupten müssen - so, wie es ihm damals gerade mit Cordula erging.

      Für die freien Tage an der Uni von Weihnachten bis Neujahr hatte er sich aus Hamburg abgesetzt, weg von Cordula, der Frau, mit der er zusammenlebte. Sein schon länger gehegter Verdacht, sie könnte dem Oberarzt in der kardiologischen Abteilung der Klinik, in der sie als Stationsärztin arbeitete, mehr als nur freundschaftlich-kollegial zugetan sein, hatte sich bestätigt. Ein verheirateter Mann mit drei kleinen Kindern. Mein Gott, wo nahm der die Zeit für eine Affäre her? Und Cordula? Wie konnte die noch Luft für so etwas haben? Na ja, es gab Fortbildungen, Kongresse, ausgedehnte Dienstbesprechungen und so. Nun, die Beziehung sah jedenfalls stark nach Niedergang aus, so wie es sich im Übrigen auch schon länger angedeutet hatte. Schulte brauchte Abstand und hatte keinen Sinn für weihnachtliche Szenarien, womöglich im Verein mit Cordula. Kurzfristig buchte er einen Flug von Hamburg nach Las Palmas de Gran Canaria, 23.12.1984, 07:25 Uhr, und ein Apartment in Maspalomas. Das war, zugegeben, nicht einfallsreich und nicht aufregend, aber er wollte weg, ganz weit weg. Zeit und planerische Energie, sich ein exotischeres, vor allem weniger frequentiertes Ziel vorzunehmen, hatte er nicht. Jedenfalls nicht in dieser trüben Stimmungsphase. Aber für die vier, fünf Halbmarathons im Jahr, an denen er regelmäßig teilnahm, würde er sicherlich gut trainieren können. Womöglich fand sich in irgendeiner Urbanisation sogar eine Truppe von Basketballspielern, denen er sich andienen könnte (er gehörte zur Uni-Mannschaft). So verbrachte er den Abend des 24. Dezembers in gewolltem Alleinsein in seinem kargen Apartment - mit einem Buch von Philip Roth (‘Zuckermans Befreiung‘ … liest sich ganz locker … es geht um Turbulenzen im plötzlichen Erfolgskurs des Protagonisten, der wohl Roths Alter Ego ist), einer Flasche Rotwein, einer Dose Ölsardinen und einer Packung Toastbrot. Kann sein, dass er sogar ein Restaurant gefunden hätte, in dem Lokalkolorit und obendrein weihnachtliches Ambiente geboten wurde, aber als Einzelperson fühlte sich Schulte in Lokalen meist unwohl. Man musste jederzeit vor unvermittelt aufgenötigten Kontakten auf der Hut sein; lieber vermied er von vornherein solche Situationen.

      Ein dezenter Summton ließ ihn aufschrecken. Wer konnte um diese Zeit etwas von ihm wollen? Jemand von der Hausverwaltung. Vielleicht, um irgendwelche Funktionen zu kontrollieren. Oder es gehörte zum Konzept zu fragen, ob alles okay ist, und - wegen Weihnachten - die Urlauber mit einem kleinen Präsent zu erfreuen. Hoffentlich stand da nicht ein als Papá Noël verkleideter Typ vom Service. Oder die Weisen aus dem Morgenland - aber nein, die kamen hier bestimmt auch erst an Dreikönig. Vor seinem inneren Auge raste - wie bei einer hastig durchgeklickten Dia-Schau - eine schnelle Bildfolge vorbei: Posaunenchor fängt an zu schmettern, sobald die Tür aufgeht … religiöser Eiferer verkündet Botschaft … Mönch sammelt Spenden … Obdachloser bittet um Almosen