Wilhelm Koch-Bode

Verlaufsänderungen


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er allerdings nicht ein; weiterhin fuhr er an den Wochenenden zu Mareike - nach Hause. Als er eine Stelle als Proberichter in Hannover erhielt und Mareike die Horrorvorstellung plagte, nach dem Abschluss ihres Vorbereitungsdienstes als Grundschullehrerin wohl nur eine Stelle auf dem Lande zugewiesen zu bekommen und sich dort allein - im Wendland, in der Heide, im Moor oder sonstwo - behaupten zu müssen, sprach sie das Thema Heirat an. Damit wäre sie immerhin ortsgebunden. Ihm war klar, dass diese Dreiecksgeschichte ein Verfallsdatum hatte, das jetzt gekommen war. Der Spagat zwischen den beiden Sphären würde seine Leichtigkeit verlieren - stets müsste er seine Hamburg-Aufenthalte durch vorgeschobene Gründe legitimieren. Wie unwürdig! Er fällte sein Urteil, die Hochzeit wurde abgemacht. Die Heftigkeit, mit der Viviane auf seine beiläufige Erwähnung des bevorstehenden Ereignisses reagierte - ihre Tränen, ihre Wut, mit der sie ihn beschimpfte - überraschte ihn dann doch. War nicht immer klar gewesen, dass seine Hamburger Zeit mit dem Zweiten Staatsexamen beendet sein würde? Hatte er je Anstalten gemacht, nach dem Hinauswurf ihres Ehemannes bei Viviane einzuziehen? Hatte er je seine Beziehung zu Mareike infrage gestellt? Egozentrisches Charakterschwein, gewissenloser Schuft, emotionaler Krüppel - diese Worte hatte sie ihm entgegengeschleudert.

      Nach fünf Jahren war er von Mareike geschieden. Ihre Anhänglichkeit hatte sich bald zur Besessenheit gewandelt, mit der sie jeden seiner Schritte, die ihn aus dem Haus führten, argwöhnisch verfolgte: wohin er wolle, wen er zu welchem Zweck träfe, was er mit dieser oder jener Person zu tun habe, wieso ihm dieser oder jener Kontakt so wichtig sei, warum er immer noch eine Arbeitsbeziehung mit einer bestimmten Kollegin unterhalte und so weiter. Natürlich hatte er sich gegen die Kontrolle gewehrt - zunächst offen, protestierend, sich rechtfertigend; dann zunehmend heimlich, sich abschirmend, sein Tun verschleiernd. Irgendwann war er die Spannungen Leid gewesen.

      Trotz des abrupten Beziehungsendes zwischen ihm und Viviane hatten sie dennoch seit mehr als drei Jahrzehnten lockeren Kontakt gehalten - ab und zu telefoniert, ein Treffen im Café Wirth, wenn ihn der Weg einmal nach Hamburg führte, ein kurzer Atelierbesuch. Über ihre frühere Beziehung und über ihre neuen Partnerschaften sprachen sie dabei wenig - eher über berufliche Erfolge und Neuigkeiten aus der Kunstszene.

      In der Mitte der Wand gegenüber der Tür, durch die der erste der drei hintereinanderliegenden großen Ausstellungsräume betreten wurde, hing ein hochformatiges Bild, das in Lebensgröße eine Ganzfigur zeigte, einen älteren aufrecht stehenden Mann. Die Dreiviertelansicht ließ einen etwas zu runden Rücken erkennen; dadurch schob sich der Hals vor, wirkte vorne verkürzt und ließ den Kopf, das Kinn einzwängend und verdoppelnd, absacken. Mit hartem Stift hatte Viviane den Zustand der Gesichtshaut des Mannes dokumentiert: die rotgeäderte, angeraute Wangenpartie, der schrundige Nasenflügel, die braunen Pigmentflecken auf dem Nasenrücken, zwei Alterswarzen am Kinn. Der Mund bildete einen schmalen Bogen mit sich nach unten, in Kinnfalten verlierenden Winkeln. Die Augen blitzten wässrig zwischen hängenden Oberlidern und halbkreisförmig ausgedehnten Unterlidern hindurch. Eine tiefe, senkrechte Furche über der Nasenwurzel spaltete die durch einen stark zurückgewichenen Haaransatz vergrößerte Stirn. Die eingesunkene Brust hatte zwei hügelige, leicht hängende Verdickungen. Die Flanken waren wulstig nach außen gestülpt, die Leibesmitte war kissenartig aufgepolstert. Die abgeflachte Gesäßhälfte überlappte als dünner Beutel den Übergang zum Bein. Bis auf eine zu große weiße Unterhose aus feingeripptem Baumwollstoff war der Mann unbekleidet. Aus dem zerfaserten Schlitz des Schlüpfers hing welk sein bräunliches, blaugeädertes Glied heraus, das einer länglichen, auf die Haube gekippten Glocke glich. Aus der rot entzündeten Glockenkrone baumelte - wie Befestigungsbänder - der blaue Plastikschlauch eines Blasenkatheters, der sich nach ein paar Zentimetern in zwei Enden teilte und mit gelben Stöpseln verschlossen war. Die bleichen Extremitäten hatten wenig Muskelmasse, aber dichte schwarze Behaarung; an beiden Unterschenkeln traten violettfarbene, knorrige Adern hervor, die Haut dazwischen war von rotem Netzgeflecht durchsetzt. Die Füße waren platt; beide Großzehen wiesen einen überdimensionierten, stark verhornten Ballen auf und standen schief.

      Ein Stau auf der Autobahn hatte ihn aufgehalten, sodass ihm die Eröffnungsrede entgangen war. Die Besucher standen in Gruppen, betrachteten und kommentierten die Bilder, unterhielten sich, nippten an Gläsern; die meisten aber drängten sich vor einem der Werke, das offenbar zum Hauptanziehungspunkt geworden war. Kerzengerade, gertenschlank, in einen eng anliegenden schwarzen Hosenanzug gekleidet, stand Viviane neben dem Bild, beantwortete Fragen, wurde gefilmt und fotografiert. Der Titel des Bildes lautet: Alter Knabe, stehend. Sie hat ihn bemerkt und winkt kurz herüber.

      Die Blicke einiger Besucher streifen ihn, schweifen fort, kehren zurück, bleiben an ihm haften, mustern ihn aufmerksam. Andere stutzen, reißen die Augen auf und wenden sich ab. Ein paar jüngere Leute stecken lachend die Köpfe zusammen, schauen wiederholt zu ihm herüber. Eine Frau starrt ihn an, ihr Mund steht weit offen. Der ältere Mann an ihrer Seite lächelt ihn freundlich an, erhebt sein Glas und prostet ihm zu: zum Wohl, der Herr. Und was ist das? Ein Zucken im Augenlid des ihm unbekannten Galeriebesuchers. Hat die Person ihm etwa gerade zugezwinkert? Wieso ist der Kerl ihm gegenüber so distanzlos? Meint der ihn vielleicht gar nicht? Oder ist das einfach nur eine lockere Bekundung guter Laune?

      Langsam dämmert ihm, dass er in den Mittelpunkt des Publikumsinteresses geraten ist; noch rätselt er, wodurch er diese Beachtung auf sich gezogen hat.

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