Wilhelm Koch-Bode

Verlaufsänderungen


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treffen müsse? Und ach ja … gerade falle ihr das noch ein … die Institutsdirektorin habe das Problem schon als dringlich thematisiert … jemand müsse schnellstens die von Herrn Professor Schulte mit in die Privatwohnung genommenen Uni-Sachen zusammensuchen … Seminararbeiten, Klausuren, Bachelor-Theses, Master-Theses, Dissertationsschriften, Korrekturen, Begutachtungen und so … die Studenten … wissen Sie? … Prüfungsergebnisse und so. Lägen vielleicht noch ausgeliehene Bücher herum? Solle sie einen Kollegen von Professor Schulte ansprechen, ihr dabei behilflich zu sein? Oder wolle sie die Unterlagen freundlicherweise selber sichten und vorbeibringen? Auch Abholung durch einen Boten sei nach Absprache denkbar. Und ach ja … könne sie bei nächster Gelegenheit … also bald einmal … hereinschauen und die persönlichen Gegenstände aus dem Dienstzimmer ihres Herrn Vaters mitnehmen? Vielleicht können wir dann einen Kaffee zusammen trinken? Darf ich mir jetzt noch ihre Kontaktdaten notieren? Besten Dank … und verzeihen Sie, dass wir Ihnen auch noch Mühe machen … machen müssen … aber es muss ja irgendwie geordnet weitergehen … trotz alledem … Herr Schulte hätte Verständnis … war immer so korrekt … und nochmals … mein tiefes Mitgefühl… dann also in etwa einer halben Stunde … wie gesagt … Professorin Wiebke Kuhwirth … wird sich mit Ihnen kurzschließen … am Telefon.

      Friederike atmet tief durch. Sie wird wohl hinfahren müssen, - sich um Dinge wie die professionelle Reinigung des Leichenfundortes, die Wohnungssanierung und die Haushaltsauflösung kümmern. Und die Bestattung? Nun ja, eine Urnenbeisetzung im Freytag’schen Familiengrab im Taunus kommt doch wohl infrage. Damit würden die sterblichen Überreste der Zeugungsgemeinschaft zusammengeführt; die Elternschaft erhielte am Ende doch noch so etwas wie eine Gestalt. Aber hat sie überhaupt Anspruch auf den Leichnam? Gibt es letztwillige Verfügungen? Und wenn nicht - wer kriegt die ganze Schulte’sche Hinterlassenschaft? Der Fiskus? Was ist mit ihr, Friederike? Wie werden außerehelich geborene Nachkommen (oder ist ’unehelich‘ besser? Oder ’illegitim‘? Sogar ’Bastard‘ war ihr auf dem Schulhof hinterhergerufen worden) erbtechnisch - oder wie das heißt - berücksichtigt, wenn die Vaterschaft gerichtlich, notariell, standesamtlich - oder wie das sonst geht - nicht bestätigt ist, sich mit einem einfachen DNA-Test jedoch unschwer belegen ließe? Aber hat sie es überhaupt nötig, sich diesen Wust an Problemen aufzuladen, der sich urplötzlich vor ihr aufgetan hat? Soll sie die Checkliste, die so unvermutet in ihr ruhiges Leben geflattert ist, nicht kurzentschlossen wegwerfen? Einfach sagen: Jaja - wohl bin ich ein leiblicher Abkömmling des Herrn Schulte, aber als solcher nicht anerkannt. Insofern geht mich das Ganze gar nichts an. Auf Wiederhören.

      Am Telefon ist jetzt die Institutsdirektorin: Kuhwirth … Tag auch … allerherzlichste Anteilnahme am schweren Verlust und so weiter … schrecklich alles … Worst case! … Lehrstuhlinhaber tot … Abgang nicht geordnet … Sie sind also Ansprechpartnerin auf Seiten von Schultes Familie … äh … unseres hochverehrten Kollegen Schulte? … gut so … bin in Eile … Vorbereitung des Gedenkaktes der Fakultät … Liste mit Ihrerseits gewünschten Teilnehmern aus dem Verwandtenkreis und außeruniversitären sozialen Umfeld benötigt … welche drunter, die auch Ansprache halten möchten? … wollen exzellentes Programm zusammenzustellen … Einladungen sollen zügig raus … uns möglichst unverzüglich Rückmeldung geben … wär‘ super … und ach ja … wie ja schon mit der Geschäftsstelle … Felicit. …äh … Frau Krusenbusch … besprochen … nicht wahr? … wir kriegen schnellstens die Unterlagen aus Schultes … äh … Herrn Professor Schultes … äh … der Wohnung Ihres Herrn Vaters, ja? … die der Universität gehören, meine ich, ja? … wollen Sie sich bitte baldmöglichst der Sache annehmen, ja? … die Dinge müssen halt ihren Lauf nehmen … trotz alledem … verstehen Sie? … alles Weitere dann bitte über Felic. … äh … Frau Krusenbusch … okay? … seh‘ Sie dann wohl auf dem Festakt … super … bis dann … ciao!

      Ja, sagt Friederike, selbstverständlich nehme ich mich der Sache an. Ciao!

      Hinterbliebene

      Schlaff zwischen zwei stämmigen Gestalten hängend, die ihn grob an den Armen gepackt hielten und mit sich schleppten, kämpfte er gegen das ständige Abknicken seines Kopfes an und mühte sich, den Blick auf den Sarg zu fixieren, der unmittelbar vor ihm von sechs kräftigen Frauen in grellroten Trainingsanzügen getragen wurde. Sein ausgezehrter Körper war in einen zu großen schwarzen Anzug gehüllt; aus dem zu weiten weißen Hemdkragen schob sich der dünne, braune Hals, auf dem der knochige, von fahlgelber Haut überspannte und von klebrigen Strähnen bedeckte Schädel pendelte. Angestrengt versuchte er, seine Augen offen zu halten, die tief in blauschwarzen Höhlen lagen und aus denen es gelblich schimmerte, wenn die Augäpfel nach oben wegrollten.

      Die beiden Männer an seiner Seite, Brüder seiner Frau, wirkten gereizt und ungeduldig in dem Bemühen, ihn, während sie ihn vorwärts schleiften, so zu halten, dass er nicht aus eigener Kraft gehen musste. Seine Füße schwebten in der Luft, berührten nur alle paar Meter den Boden und hinterließen Spuren im trockenen Sand des Gehweges, denen alle nachfolgenden Gäste des Trauerzuges sorgfältig auswichen. Es schien, als hätte sich spontan eine stille Übereinkunft darüber gebildet, diese flüchtigen Zeichen seines Daseins zu erhalten, - wohl ein verlegenes Zeichen kollektiver Achtung der Trauernden vor dem sterbenskranken Hinterbliebenen, der sich durch niemanden davon abhalten lassen hatte, an der Beerdigung seiner Frau teilzunehmen und sie aufrecht bis ans offene Grab zu begleiten. Er hatte eine lebensbedrohlich entzündete Leber, war völlig geschwächt und lag eigentlich auf der Intensivstation des Zentralhospitals. Mit Schrecken hatten Freunde und Klinikpersonal dem Stöhnen, das aus eingesunkener Hülle kam, entnommen, dass er aufstehen und zum Trauerakt gebracht werden wolle. Zunächst widerstrebend, schließlich aber doch in resignativer Anerkennung eines Bedürfnisses, das für den jungen Mann unzweifelhaft von so grundlegender existenzieller Bedeutung war, dass alle Bedenken dahinter verblassten, hatte der Chefarzt dem gewagten Unterfangen zwar nicht zugestimmt, die Krankenbeförderung zum Friedhof aber letztlich stillschweigend geschehen lassen.

      Hilal stammt aus Marokko. Karoline hatte am Strand von Agadir, wo sie - mit üppiger Oberweite, prallem Gesäß, strammen Beinen, sehr weißer Haut und blondiertem, strohigem Kurzhaarschnitt - zweifellos Aufsehen erregt hatte, in ihm den Mann ihres Lebens erkannt, ihn zur Übersiedelung in ihre norddeutsche Heimatstadt bewegt und geheiratet. Die beiden waren ein ungleiches Paar. Hilal: hochgewachsen, schlank, muskulös, scharf konturierte ebenmäßige Gesichtszüge, freundliche dunkle Augen, volles lockiges Haar, hellbraune samtene Haut, tiefe klangvolle Stimme. Zwar ist unklar, was er in Marokko gelernt und gearbeitet hat - es heißt, er habe an der Universität von Rabat irgendetwas Technisches studiert -, aber Hilal scheint gebildet zu sein, ist wissbegierig und kommunikativ, in Gesprächen einfühlsam und im Umgang sehr höflich. Eifrig hat er in kurzer Zeit Deutsch gelernt. Karoline: mittelgroß, trotz gedrungener Figur nicht dickleibig, sondern kraftvoll und wendig - wohl ein Ergebnis ihrer langen Karriere als Leistungssportlerin, später Vereinstrainerin im Handball. Sie hatte ein kantiges Gesicht, blassblaue Augen, eine - nach einem Bruch im Turnier - leicht eingedrückte und schief stehende Nase, einen breiten Mund mit aufgeworfenen Lippen über einer langgezogenen, nach unten in einer vorgewölbten Spitze auslaufenden Kinnpartie. Die in neununddreißig Jahren eingespurten Züge in Karolines Antlitz und die in ihr Körperbild eingeschliffenen Bewegungsmuster ließen bei ihr leicht auf unangenehme Wesenszüge - hart, dominant, aggressiv, unsensibel, geltungsbedürftig zum Beispiel - schließen. Das mochte zwar in dem einen oder anderen Punkt zutreffen, aber sie konnte auch andere Seiten zeigen, für die sie weithin Anerkennung fand: kumpelhafte Freundin, kämpferische Sportlerin, energische Trainerin, durchsetzungsstarke Lehrerin, unternehmungslustiger Typ, großzügige Gastgeberin, einfallsreiche Gespielin, gewerkschaftlich engagierte Kollegin - die Reihe ließe sich unendlich fortsetzen.

      Hilal hatte in Deutschland noch keine feste Arbeit. Handwerklich war er recht geschickt, kannte sich mit Autos und Motorrädern aus, reparierte Gebrauchtfahrzeuge, verkaufte diese wieder und machte dabei wohl den einen oder anderen Gewinn. Die beiden lebten hauptsächlich von Karolines Gehalt als Oberstudienrätin an einer Berufsschule, wo sie Sport und Dinge, die irgendwie mit Ernährung und Hauswirtschaft zu tun hatten, unterrichtete. Ihre Familie - der verwitwete Vater und die Brüder mit ihren Ehefrauen - war über