Wilhelm Koch-Bode

Verlaufsänderungen


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Mit seinem trockenen Humor, seiner ansteckenden Begeisterungsfähigkeit, seiner warmherzigen, mitfühlenden Aufgeschlossenheit für die Belange anderer, seiner verlässlichen Hilfsbereitschaft bei organisatorischen und technischen Problemen, die zunehmend an ihn herangetragen wurden, hatte er sich bald sehr beliebt gemacht. In der Beziehung zu Karoline legte er - entgegen den Befürchtungen einiger Bekannter - keinerlei herrisches, selbstverliebtes oder ichbezogenes Gebaren an den Tag, sondern zeigte sich voller Fürsorge und füllte die Rolle des emsigen Hausgeistes mit lockerer Hand aus. Die einhellige Meinung war, dass Hilal eine glänzende Perle sei, die Karoline am Saum des Atlantiks aufgelesen habe. In ihrer Welt erhob sich zwar die eine oder andere Stimme, teils hinterrücks lästernd, teils offen und wohlwollend hinterfragend, ob sie diesen Traummann möglicherweise etwas zu heftig herumkommandiere, aber er selbst schien dies nicht so zu empfinden. Um es Karoline recht zu machen, war Hilal kein Handschlag zu viel, kein Weg zu weit, keine Mühe zu schwer, kein Dienst zu gering. Die Hingabe, mit der er diese Frau anhimmelte, war schrankenlos.

      Als Karolines Vater, ein wohlhabender Handwerksmeister mit eigenem Betrieb - Heizung und Bäder -, starb, waren die Brüder, die das Familienunternehmen fortführen wollten, gezwungen, ihr aus der Erbmasse 300.000 Euro auszuzahlen. Die Hälfte davon war gleich in den Kauf eines alten Bauernhauses am Stadtrand geflossen, das Karoline und Hilal kurz vor dem Ausbruch seiner Erkrankung bezogen hatten und in dem die beiden begonnen hatten, für sich ein uriges, dabei komfortables und stilvolles Nest zu gestalten. Sie hatten ein paar Antiquitäten, rustikale Eichenschränke und einen Refektoriumstisch, erworben und diese Stücke mit modernen Objekten, zum Beispiel lässigen, mit weißem Nappaleder bezogenen Sitzgruppierungen, zwei, drei innovativen Hightech-Multimedia-Installationen und großformatigen abstrakten Acrylgemälden, auf denen Farbe und Bewegung geradezu explodierten, spannungsreich in Kontrast gebracht.

      Nach der Zeremonie am ausgehobenen Grab, bei der Hilal - immer noch in den von seinen Schwagern gebildeten Schraubstock eingezwängt - wohl nur noch körperlich anwesend war, wurde er von zwei Sanitätern übernommen, die ihn auf einer Bahre davontrugen. Hilals Eskortierung hatten Karolines Brüder nur äußerst widerwillig wahrgenommen; da ihm die Position am Kopf der Trauerprozession allerdings nicht streitig gemacht werden konnte, sie ihrerseits aber den nahen Grad ihrer Verwandtschaft mit der Toten betonen und ebenfalls in vorderster Linie mitgehen wollten, konnten sie diese Aufgabe nicht anderen, ihm freundlicher zugetanen Begleitpersonen überlassen - Lehrerkollegen Karolines etwa oder Spielerinnen ihres Vereins, die dies, wenn es denn schon gegen jede Vernunft so sein sollte, gern und hingebungsvoll übernommen hätten.

      Wieder im Krankenhaus, in den Tagen nach Karolines Grablegung, waren die engsten Freunde bei ihren Besuchen zwar bemüht, ihn vor der Wahrheit über die näheren Umstände ihres Todes abzuschirmen, aber Hilal hatte doch ein Gespür dafür, dass ihm wesentliche Details vorenthalten wurden. Der aufzehrende Überlebenskampf, die körperliche Hinfälligkeit, die verebbenden Seelenregungen und die medikamentöse Benommenheit vermochten den Schock vielleicht etwas zu dämpfen; er sprach nicht viel, murmelte nur leise immer wieder vor sich hin: warum, warum, wieso. Irgendwann aber, nach Wochen, wurde seine Stimme fester und er begann in die Besucher zu dringen, nun endlich mit Einzelheiten über Karolines Tod aufzuwarten. Marion schließlich, ihre anhänglichste Vertraute, fand, dass die Geheimnistuerei nicht länger aufrechterhalten werden könne. Sie klärte Hilal restlos auf.

      Der plötzliche Herztod hatte Karoline in der Duschkabine des Lofts eines Unbekannten in Berlin-Charlottenburg getroffen, eines - wie Marion angedeutet hatte - mutmaßlichen neuen Intimpartners. Diese Person, die einer virtuellen Kontaktbörse entstamme und die Fleischwerdung des Nicknamens Berliner-Bär-XXL darstelle, sei von Karoline übers Wochenende, die unerlässliche Teilnahme an einem Handballturnier vorspiegelnd, besucht worden. Der Typ hatte sogar die Frechheit besessen, zu Karolines Beisetzung anzureisen und einen großen Kranz mit anhängendem Band - Ciao, Linella. In ewiger Liebe und Trauer! Dein Fred - in Auftrag zu geben, der inmitten des prächtigen floralen Arrangements vorgeherrscht und in der Kirche für Aufsehen gesorgt hatte. Noch vor Beginn der Trauerzeremonie war der Störenfried identifiziert und feindselig gemustert worden. Er hatte wohl gehofft, sich in einer der hinteren Reihen bedeckt halten zu können, war aber beobachtet worden war, als er einen Mercedes-Benz der S-Klasse mit dem Kennzeichen der Hauptstadt einparkte: ein Mittfünfziger, dessen dunkelgrauer, seidig glänzender Anzug - zugegebenermaßen - vorteilhaft geschnitten war, denn er lenkte etwas von der Feistigkeit seines Leibes und der Ausdehnung seines Bauches ab. Der Mann hatte ein gerötetes und schweißglänzendes Gesicht, hängende Tränensäcke, ein weiches Doppelkinn, einen gelbgrauen Kinnbart und eine glänzende Halbglatze mit lackschwarzem Resthaar, das pomadisiert zurückgekämmt war und in dünnen Strähnen auf dem von einem allzu engen Hemdkragen eingeschnürten fleischigen Nacken auflag. Auffallend war die Brille in aktueller Nerd-Optik mit extra breiten, dunklen Bügeln. Wellen aufgebrachten, dabei zwanghaft unterdrückten Geraunes waren durch die Reihen gerollt, bis Lothar, der hünenhafte Co-Trainer von Karolines Handballmannschaft, zu einer befreienden Tat ausholte: steht von der Kirchenbank auf, schreitet zum Sarg, senkt den Kopf grüßend in Richtung der Eingebetteten, wendet sich dem Auditorium zu, lässt seinen Blick durch die Reihen schweifen, hebt lässig die linke Hand, spitzt Daumen und Zeigefinger, leckt die Kuppen an, bückt sich, ergreift die Kranzschleife, lüpft sie ganz langsam bis in Kniehöhe an, zieht eine angewiderte Miene, lässt das Band zu Boden gleiten, schüttelt wegwerfend die Hand, wischt sie in Höhe der Gesäßregion seiner grellroten Trainingshose ab, setzt den Handballschuh auf die Schleife, kickt sie unter den Kranz, verbeugt sich vor der Eingesargten, verneigt sich tief vor Hilal, nickt dem Publikum zu, begibt sich zurück auf seinen Platz, reiht sich wieder ein in die Kette der Vereinsmitglieder, die zu Karolines Ehren alle in Sportkleidung erschienen sind. Ein Aufatmen durchfegt das Kircheninnere wie ein heftiger, kurzer Windstoß. Die störende Botschaft: versteckt; die anstößigen Worte: gelöscht; die wahren Hinterbliebenen: unter sich.

      Jetzt, nach der Beerdigung, standen Querelen mit Karolines aufgebrachten Brüdern ins Haus, denen die Vorstellung unerträglich war, dass der arbeitslose, dreist in die rechtschaffene und angesehene Familie eingedrungene Fremde am Ende noch erbberechtigt sein und frech vom väterlichen Lebenswerk profitieren könnte. In den rituellen Einklang, der die Trauernden lose zur Schar zusammengefügt hatte und an den sich nach erfolgter Beisetzung noch deren Bewirtung in einer nahen Gaststätte als würdiger Ausklang anschloss, bei der Hilals Abwesenheit allgemein bedauert und die des Charlottenburgers mit Genugtuung bemerkt wurde, hatten sie sich schicklich als Hauptleidtragende eingefügt, vom Wirtshaus aber, zwecks Beratschlagung, wie denn schnellstens der Zugriff auf die Hinterlassenschaft ihrer Schwester zu bewerkstelligen sei, sogleich eine Rechtsanwaltskanzlei aufgesucht. Inzwischen klagten sie auf Herausgabe des väterlichen Erbteils und Karolines sonstigen Nachlass. Zudem standen noch Auseinandersetzungen um das Bauernhaus bevor, bei dem verborgene Schäden, tiefe Risse im Mauerwerk, Absenkungen des Fundamentes und Hausschwamm, sichtbar geworden waren, über die der Verkäufer - offenbar arglistig - hinweggetäuscht hatte. Die geschickt getarnten Baumängel waren Fred, der als Bauunternehmer einen sensiblen Blick dafür hatte, bei seinem ersten Besuch bei Karoline sofort aufgefallen; noch kurz vor ihrem Tod hatte sie daraufhin gegen den Vorbesitzer Klage auf Rücktritt vom Kaufvertrag und Zahlung der entstandenen Kosten angestrengt.

      Sterbenskrank, betrogen, getäuscht, verwitwet, verklagt - in dieser Situation erwies sich Marion für Hilal als selbstlose, umsichtige und unermüdlich kämpfende Helferin. Die ledige Frau, von kleiner und hagerer Statur, galt als klug und besonnen. Im Umgang mit anderen wirkte sie eher scheu und spröde und in dieser Befangenheit war die Freundschaft mit Karoline für sie wohl so etwas wie ein Tor zu geselligem Tun, zu Fitness- und Beauty-Themen und zum Mithalten in einem Leben auch außerhalb von Arbeit. Seit vielen Jahren war sie in einer großen Sozietät von Rechtsanwälten, Notaren, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern als Steuerfachwirtin tätig und stand kurz vor der Prüfung zur Steuerberaterin. Ihre Abende und Wochenenden verbrachte sie nun an Hilals Krankenbett, umsorgte ihn, unterhielt ihn, regelte lästige Formalitäten und kümmerte sich um seine finanziellen Angelegenheiten. Freunde und Bekannte fühlten sich bei ihren Krankenbesuchen allerdings bald von Marion ausgebremst, zumal sie stets eilfertig bekundete, dass Hilal dringend der Ruhe und Schonung bedürfe. Einige machten sich daraufhin rar, andere gaben die Kontaktversuche ganz auf; lästernde Bemerkungen machten die Runde,