Wilhelm Koch-Bode

Verlaufsänderungen


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mutiert, und so ähnlich ging es weiter.

      Nach seiner Entlassung aus der Klinik nahm sie Hilal bei sich auf, war bei Anwalts- und Gerichtsterminen fest an seiner Seite, erlebte mit ihm seine allmähliche Genesung und Wiedererstarkung, erfreute sich mit ihm der triumphalen Siege nach Abschluss der Prozesse - Hilals Bestätigung als Erbe von Dreivierteln dessen, was Karoline hinterlassen hatte, Rückgewähr des Kaufpreises für die marode Immobilie und Schadensersatz - und kam schließlich in den Genuss der Wiederentfaltung des Charmes, der Hilal eigen ist und der ihn so anziehend macht.

      Nach einem Jahr heirateten Hilal und Marion. Um die Verbindung zu Karoline für immer aufrechtzuerhalten, legten sie die Trauung bewusst auf ihren Todestag. Abgesehen von Leuten wie dem Berliner mit dem unschicklichen Gebaren und Karolines hyänenartigen Brüdern (die - nebenbei bemerkt - den väterlichen Betrieb binnen weniger Monate völlig heruntergewirtschaftet haben, sodass die Rede vom bevorstehenden Bankrott geht) samt natternhaften Ehefrauen, waren die Gäste der Hochzeitsfeier dieselben wie bei der Trauerfeier. Neu anwesend waren nur Marions Eltern, redliche Rentner vom Lande, die von Hilal sehr angetan sind und ihn herzlich in die kleine Familie aufgenommen haben. Kaufmännisch nüchtern denkend, über ein ausgeprägtes Gespür für Marktchancen verfügend, die unternehmerischen Risiken kühl abwägend, unterstützt Marion Hilal beim Aufbau seines eigenen Betriebes - eines kleinen, nobel eingerichteten Motorrad-Centers mit acht Mitarbeitern, das in Kreisen anspruchsvoller Biker inzwischen als Top-Adresse gilt. Es handelt sich um eine kompetent geführte, leistungsfähige Firma, die sich offenbar auf Erfolgskurs befindet. Marion, gerade einundvierzig, erwartet in Kürze ihr erstes Kind.

      Kunstgenuss

      Die Briefsendung kam von einer bekannten Berliner Galerie. Er riss den Umschlag auf und zog eine gefalzte Briefkarte heraus, die sich als Einladung zu Vivianes Vernissage erwies. Als er die Karte aufklappte, sprang ihm ihr Bild entgegen: Das schmale, etwas längliche Gesicht mit den grünen Augen, der proportional fast zu klein geratenen Nase und dem breiten Mund mit den vollen Lippen zeigte einen freundlichen, leicht ironischen Ausdruck. Ihr Haar war schwarzbraun getönt und kurz geschnitten, aber nicht so kurz, dass nicht ein paar lockige Strähnen in die Stirn- und Wangenpartie fielen und die eigentlich harten Züge ein wenig milderten. Neben dem Foto waren Vivianes Vita und ihre Ausstellungsbiografie abgedruckt. Das Geburtsdatum war zwar nicht angegeben, aber er wusste, dass sie 62 war. Kunststudium in München, London und New York. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen. Neben der Auflistung war eines ihrer Werke abgebildet: die realistische Darstellung einer unbekleideten, mageren Greisin mit stark gebeugtem Rücken, schlaffen, schürzenartig herabhängenden Hautpartien an Brust und Bauch, dünnen, zerbrechlich wirkenden Armen und Beinen und einem faltigen Gesicht, die sich mühsam an einem Gitterbett abstützte. Die Mimik der alten Frau drückte tiefe Traurigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aus. Zwar hatte Viviane während des Studiums eine Phase durchgemacht, in der auch sie wilde Abstraktionen produzierte, aber im Grunde war sie immer dem Realismus verpflichtet gewesen. Am liebsten arbeitete sie mit spitzen Farbstiften auf schneeweißem großformatigem Karton. Nach Abschluss des Studiums waren ihre gegenständlichen Darstellungen zunächst stark expressiv gewesen; danach hatte sie sich am Phantastischen Realismus orientiert und verstörende Träume und Halluzinationen verbildlicht, später eine eigene unverkennbare Handschrift im Magischen Realismus entwickelt und sonderbare, beängstigende Scheinwelten geschaffen. Inzwischen hatte sie einen Hyperrealismus ausgeprägt, in dem sie die Wirklichkeit in einer so drastischen Form überspitzte, dass der Betrachter durch die sichtbar gemachten Verwundungen und Schädigungen, Defizite und Leidenssituationen, von denen Menschen und Tiere betroffen sein können, aufgeschreckt und aufgerüttelt wurde. Sie entwarf schockierende Szenarien des Verfalls von Körpern und Orten, des Quälens und des Gequältwerdens von Kreaturen. Im Feuilleton hatte Hövelbrink, der Kritiker, Vivianes Schaffen einmal als schonungslosen Brillenlupenrealismus charakterisiert, in dem der Duktus von mit mikrochirurgischer Präzision gesetzten Farbstiftstrichen an Arbeitsspuren von Skalpell und Pinzette denken lasse.

      Die Galerie war renommiert, die Eröffnungsrednerin prominent, der Termin passend. Unter der angegebenen E-Mailadresse der Galerie sagte er seine Teilnahme zu.

      Er war Jurist, Richter in einer norddeutschen Provinzstadt. Viviane hatte er während seines Referendariats vor fünfunddreißig Jahren in Hamburg kennengelernt. Sie war damals mit einem Staatsanwalt verheiratet, dem er zu Ausbildungszwecken zugeteilt worden war und den sie einmal mit ihrer kleinen Tochter im Büro besucht hatte. Als sie sich ein paar Tage später beim Joggen auf dem Alsterwanderweg begegneten, stoppten beide abrupt und blieben voreinander stehen. Nach kurzem Small-talk, in dem es um das Wetter und bevorzugte Laufstrecken ging, kamen sie auf verbindlichere Themen wie Vivianes Malerei, die Hamburger Kunstszene, aktuelle Ausstellungen und seine Sicht auf die Gegenwartskunst (er hatte ein paar Semester Kunstgeschichte studiert). Die Vorstellung, die Frau nach diesem zufälligen Aufeinandertreffen womöglich niemals mehr wiederzusehen, betrübte ihn. Und so warf er - der eigentlich wortkarg war - immer neue Stichworte in das Gespräch ein, bis sie bemerkte, sie müsse nun unbedingt weiter, aber vielleicht könne man den Austausch ja bald fortsetzen. Sie verabredeten sich für den nächsten Abend auf eine Peperonata beim neuen Italiener in Eppendorf. Vivianes Mann war auf einer Fortbildung, ihre Tochter in der Obhut des französischen Au-pair-Mädchens. Drei Stunden später landeten sie in seinem Apartment; im Zusammensein hatte sich schnell abgezeichnet, dass der soeben gewonnene neue Kontakt auch die enge körperliche Fühlungnahme einschließen würde. Von diesem Abend an trafen sie sich in der Woche mehrmals; das konnte - in Abhängigkeit von Vivianes Möglichkeiten - spätnachmittags oder abends sein. Neben der Tatsache, dass Viviane mit seinem Ausbilder verheiratet war, bestand ein weiteres Problem darin, dass er in einer festen Beziehung mit Mareike lebte. Seitdem er die Stelle als Referendar hatte, reiste er von Freitagnachmittag bis Montagmorgen nach Hannover, um das Wochenende mit ihr zu verbringen.

      Durch den Wechsel zwischen seinen Welten in Hamburg und Hannover fühlte er sich beflügelt. Mit Viviane, die damals 31 war und damit nur ein Jahr jünger als er, verbanden ihn die Begeisterung für Kunst, Architektur, Design und ähnliche intellektuelle Ansprüche. Da er selber zurückhaltend, fast schüchtern war, bewunderte er ihre Forschheit, ihren Elan und ihre Spontaneität. Sie führten anregende Gespräche, in denen sie sich über ihre Beobachtungen und Erfahrungen im Alltag und im Beruf austauschten und die aktuellen Geschehnisse in der Welt kommentierten. Vivianes Faible für Antiquitäten, Psychoanalyse, Philosophie und Yoga steckten ihn an. Im Zusammensein mit anderen Menschen zog sie die Aufmerksamkeit auf sich: durch ihre große, schlanke Gestalt, ihre lebhafte Mimik, ihre Kleidung, in der sie Eleganz und Lässigkeit gekonnt vereinte, ihr souveränes Auftreten, ihre Redegewandtheit und Dominanz in Gesprächen. Ihn beeindruckte ihre häusliche Umgebung, - die minimalistisch eingerichtete, großräumige Jugendstilvilla in bester Lage, das lichtdurchflutete Atelierhaus im Park zeugten von Wohlstand (Viviane war durch Erbschaft stille Teilhaberin an einer Sanitärgroßhandlung und verfügte über beträchtliche finanzielle Ressourcen). Erste Ausstellungserfolge sowie Museums- und Privatankäufe zeichneten sich ab.

      Mareike - mit 23 - war noch unsicher, wenig selbstbewusst, mehr an sozialen als an kulturellen Themen interessiert. Er hatte mit ihr Gemeinsamkeiten im Sport - beide spielten leidenschaftlich gern Tennis, surften und liefen Ski. Sie hatte eine zierliche, gazellenhafte Figur. Wegen der etwas zu starken Nase mit dem sanft gebogenen Rücken konnte sie nicht als hübsch im landläufigen Sinne verstanden werden, bei dem Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge vorausgesetzt wird. Aber mit ihren dunkelbraunen, ausdrucksvollen Augen, den hohen Wangenknochen, dem kräftigen Mund und den naturschwarzen, schulterlangen Haaren verkörperte sie einen Frauentyp, der gemeinhin als apart bezeichnet wird. Er fand Mareike körperlich sehr anziehend, mochte die frische und unverbildete Art, mit der sie durch ihr junges Erwachsenendasein steuerte, sich dabei an ihn gehängt hatte und ihn - wie er zu spüren meinte - auch ein wenig bewunderte für das, was er besser konnte als sie, z. B. malen, schreiben, psychologisieren, politisieren. Den Pendelverkehr zwischen hier wohltuender Schlichtheit und entspannender Unbekümmertheit, dort anregender Inszenierung und beeindruckender Glanzentfaltung fand er prickelnd.

      Viviane wusste von seiner Beziehung zu Mareike, die aber nichts von seiner geteilten Erlebniswelt und der Stellung