Warum ist ein Friedensvertrag nach wie vor Utopie, und wie definiert die Bundesrepublik Deutschland ihren nationalen Beitrag in Europa?
(Eine Frage am Rande: Warum hat die F.D.P. nur drei weibliche Bundestagsabgeordnete ?)
Das soziale Netz, ursprünglich als Auffangnetz für Notfälle geschaffen, entwickelt sich zu einem Fesselungsnetz für die Gesellschaft. Es ist z. B. nicht einsehbar, warum nicht jedem, der einen Versicherungsbeitrag bezahlen kann, um das Kostenbewusstsein zu schärfen, eine Selbstbeteiligung in Höhe wenigstens eines Quartalbeitrages zuzumuten ist, wenn dafür die Monatsbeiträge entsprechend gesenkt werden.
Die Mitbestimmungs- und Mitbeteiligungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in den Betrieben sind immer noch viel zu reglementiert und statisch, zu wenig auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten.
All diese nur beispielhaft und zum Teil provokant formulierten Punkte könnten Ansatzmöglichkeiten für die Liberalen sein. Die sogenannten Volksparteien sind damit überfordert. Die „Entharzung“ der Gesellschaft kann nur von einer kleinen, beweglichen, innovativen Partei des Liberalismus in Angriff genommen werden.
Dass Liberale zugesehen haben, wie die Exekutive ihr heutiges Übergewicht über die Legislative erhalten hat, dass Liberale mitgestimmt haben, als in den 60er und 70er Jahren das große Rathaussterben begann, Schulen und z.B. Polizeidienststellen bürgerfern zusammengelegt wurden, dass sich zwar Liberale überdurchschnittlich in Bürgerinitiativen engagiert, diese aber letztlich doch nicht ernst genug genommen haben, das rächt sich heute. Die Kompromissbereitschaft der F.D.P. kann heute nicht mehr so groß sein, wie in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Konsequenz, Mut (auch zur Wahrheit) und ein gerütteltes Maß an Risikofreudigkeit sind unabdingbar, wenn es um Urliberales geht.
Wir stehen am Beginn eines Zeitalters, in dem aufgrund der technischen Entwicklung unter anderem im Medien- und Datenbereich die Weichen gestellt werden für die künftige Entwicklung der Menschheit. Streben wir einer egalisierten, von computergesteuerten „Sachzwängen" bestimmter Gesellschaft zu oder bleibt die Freiheit des einzelnen im Mittelpunkt der Überlegungen? Die Stimmung in der Bevölkerung spiegelt eindeutig den Wunsch nach mehr Freiheit wieder. Mehr denn je ist die F.D.P. gefordert, diese Stimmung aufzugreifen und glaubwürdig zu vertreten.
Seit Hambach vor 150 Jahren waren die objektiven Bedingungen für die Entwicklung einer liberalen Partei nicht mehr so günstig. Wenn die Liberalen diese Gelegenheit nicht nutzen, können sich Grüne und alternative Gruppierungen weiter ausbreiten, die in der Praxis bisher gezeigt haben, dass sie die Freiheit des Einzelnen weit geringer tolerieren, geschweige fördern, als dies in manch hehren Erklärungen beteuert wird.
Man kennt die Umfragen zur sogenannten Problemlösungskompetenz. Dass die F.D.P. hier weit besser als die Grünen abschneidet, wenn es um Ruhe und Ordnung geht, während die Grünen von der Bevölkerung die höhere Lösungskompetenz beim Umweltschutz zugebilligt wird, überrascht nicht. Es tut jedoch in der Seele weh, dass den Grünen vor der letzten Bundestagswahl bei Emnid eine nahezu doppelt so hohe Lösungskompetenz auch zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen zugetraut wurde.
Wie sagt Dahrendorf: „Die FDP. ist nur dann die liberale Partei in Deutschland, wenn es ihr gelingt, die Gedankenarmut langjährigen Regierens abzustreifen." - Dann wird sich auch wieder das Selbstbewusstsein ausbreiten, ohne das befriedigende Wahlergebnisse nicht möglich sind. „Es ist eine Aufgabe der F.D.P., das Volk fest am Arm zu fassen“ (Reinhold Maier, 1952). Heute heißt das: Der Einzelne darf nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Wer heute von Freiheit spricht, der sollte nicht so sehr die Rechte in den Vordergrund rücken, als vielmehr die Verantwortung betonen: Für uns selbst, für den Mitmenschen, für die Umwelt, für die Entwicklung des Liberalismus.
Letztlich konnte ich mich bei meinem dringenden Appell für mehr Selbstverantwortung auf Vordenker, wie Karl-Hermann Flach oder eben auch Altvordere wie Alexis de Tocqueville berufen:
Alexis de Tocqueville
Stefan Sethe - Neue Bonner Depesche; ca. Mai/Juni 1984
- Ein liberaler Theoretiker des 21. Jahrhunderts? -
Vor wenigen Wochen jährte sich zum 125. Mal der Todestag Tocquevilles. Alexis de Tocqueville (geb. 1805) war der führende liberale Theoretiker des 19. Jahrhunderts - oder sollte man besser sagen: des 21. Jahrhunderts?
Seine eindringliche Analyse der mit dem demokratischen System verbundenen Gefahren für die Freiheit hat an Aktualität nichts verloren. Im Gegenteil: täglich bestätigt sich diese Analyse aufs Neue. Wer heute glaubt, das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Liberalen anzweifeln zu müssen oder gar die Existenzberechtigung einer liberalen Partei in Frage stellen zu können, dem sei dringend eine Lektüre der Werke Tocquevilles anempfohlen.
Als wahrer Liberaler in Theorie und Praxis suchte er unermüdlich nach dem Mittelweg zwischen den Nivellierungs- und Egalisierungstendenzen in den Massendemokratien auf der einen und den Auswüchsen eines zügellosen Individualismus auf der anderen Seite. Was er vor 150 Jahren bereits befürchtete, ist inzwischen eingetreten und im Wachsen begriffen: Die Vereinsamung des Menschen, mangelndes Sozialgefühl, kraftlos machende Versorgungsstaaten, die „den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener“ machen. Das Wahlrecht vermittelt nur eine Augenblicksfreiheit: „Bei dieser Ordnung der Dinge treten die Bürger einen Augenblick aus ihrer Abhängigkeit heraus, um ihren Herrn zu bezeichnen, und kehren wieder in sie zurück.“
Tocqueville sah jedoch durchaus auch Chancen für die Entfaltung der Persönlichkeit, für die Freiheit:
Die Freiheit braucht eine Stärkung des moralischen Verantwortungsgefühls, besonders des Pflichtbewusstseins.
Es muss zur Herausbildung politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Eliten kommen.
Die Freiheit braucht eine weitgehende Dezentralisierung des politischen Lebens, eine starke Selbstverwaltung.
Die Pressefreiheit ist das „demokratische Werkzeug der Freiheit“.
Geschworenengerichte müssen eine am Einzelfall orientierte Rechtsprechung entwickeln.
Die Freiheit benötigt wenig Bürokratie und viel „Vertrauen in den gesunden Menschenverstand“.
Eine strikte Einhaltung der „Formen“ ist erforderlich, um die Ungeduld des demokratischen Zeitalters zu dämpfen.
Letztlich muss allerdings jeder von uns „unaufhörlich bereitstehen, um zu verhindern, dass die Sozialgewalt leichtfertig die Privatrechte einiger Menschen der allgemeinen Ausführung ihrer Pläne opfere.“
Heute sind die schon von Tocqueville angesprochenen Probleme des mangelhaften Ausgleichs zwischen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten immer noch nicht im Sinne der Freiheit gelöst. Das Missverhältnis von Rechtsansprüchen und Pflichtbewusstsein wächst nahezu täglich. Die „ausschließliche Liebe zur Gegenwart“ nimmt zu. „Geben wir uns also jener heilsamen Furcht vor der Zukunft hin, die uns wachen und kämpfen heißt."
Tocqueville bezeichnete sich selbst als einen „Liberalen einer neuen Art“. Es wird Zeit, dass der deutsche Liberalismus endlich konsequent diese „neue Art“ übernimmt.
In seiner aktuellen Brisanz lässt sich Alexis de Tocqueville wohl nur noch mit seinem Antipoden Karl Marx vergleichen. Grund genug für jeden Liberalen, sich intensiver mit diesem faszinierenden Analytiker zu beschäftigen.
Weit banaler, aber nicht minder von Freiheitsgefühlen beeinflusst war dieser kurze Artikel: