Peter G. Kügler

Welt mit kleinen Fehlern günstig abzugeben


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Mal in den Spiegel geschaut? Du bist so fett, du hast eine Figur wie ein Schrank!“, platzte es aus Max heraus.

      Ein kurzer Blitz umhüllte Karin und tauchte sie für einen Moment in kaltes, bläuliches Licht. Die Luft knisterte und das Display wurde auf einen Schlag dunkel.

      „Karin?“ Pause. „Karin? Sag doch was…“

      „Idiot!“, tönte es vereint in seinem Kopf. „Da können wir doch nur hoffen, dass er sich der Schwarzhaarigen gegenüber nicht genauso beschissen benommen hat. Und die Erinnerungsdatenbanken sind immer noch nicht rekonfiguriert. Wie lange dauert das eigentlich noch? Ich befürchte ja jetzt das Schlimmste. Wir haben sie immer noch nicht gesehen. Und das ist ihre Wohnung. Glauben wir jedenfalls. Bestimmt hat unser Dickerchen mit traumwandlerischer Sicherheit was Falsches gesagt und sie ist abgerauscht.“

      „Hoffentlich erst nach dem Sex…“

      „ICH MUSS DOCH SEHR BITTEN! ES SIND NOCH KINDER IM KOPF!“

      „Was macht das für einen Unterschied? Wir können uns eh nicht daran erinnern. Und Erinnerungen sind das Einzige, was wir hier oben haben…“

      Kollektive Betroffenheit herrschte in seinem Kopf.

      ‚Vielleicht sollte ich versuchen, mehr über sie und gestern Abend herauszufinden?’, dachte Max kleinlaut. ‚Und nennt mich gefälligst nicht Dickerchen!’

      „Gute Idee“, kam es dünn zurück. „Jetzt, wo der Herr seinen Hunger gestillt hat, können wir uns vielleicht ja um solche Nebensächlichkeiten kümmern. Aber Hauptsache gut gegessen, gell? Was kümmert uns da, wo wir hier sind und wie wir hier herkommen!“

      ‚Ich hatte halt Hunger!’, versuchte Max sich halbherzig zu verteidigen. ‚Jemand einen Vorschlag, was wir tun könnten?’

      „Vielleicht ein zweites Frühstück?“

      ‚Au fein!’

      „DAS WAR IRONISCH GEMEINT!“, schrie der Ironische.

      ‚Ach so… Also, was tun?’

      „Gehe nicht über Los. Ziehe nicht 4000 ein.“

      ‚Bitte?’

      „Ach… nichts. Vergiss es, du Humorresistenter! Schau dich lieber mal in der Wohnung um. Vielleicht findest du ja Hinweise auf sie. Vielleicht einen Zettel, den sie dir geschrieben hat oder so was.“

      „Du hältst diese Möglichkeit auch nur im Ansatz für wahrscheinlich, nachdem er Karin so behandelt hat?“, zischte es abschätzig durch imaginäre Zähne.

      „Die Hoffnung stirbt zuletzt…“

      ‚Das hab ich gehört!’, dachte Max laut und machte sich daran, die Wohnung näher in Augenschein zu nehmen. Der Kalender in der Küche verriet ihm, dass heute Sonntag war. Zum Glück brauchte er sich dann wenigstens nicht noch eine Ausrede für seinen Chef einfallen zu lassen.

      Falls ihm bis morgen wieder eingefallen sein würde, was und wo er überhaupt arbeitete.

      Im Wohnzimmer fiel sein Blick auf ein einzelnes Foto, das auf einer kleinen Kommode stand. Der Mann, der darauf zu sehen war, lächelte gestellt in die Kamera und seine Augen blickten einen direkt an. Max hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Bestimmt lag das an dessen Brille, die ein dickes Gestell hatte und Max unwillkürlich an diesen Film mit Jerry Lewis denken lies. Lewis spielte darin einen schüchternen Professor, der nur mit Hilfe eines Gebräus zu einem Draufgänger wurde. ‚Alkohol, das kann nur Alkohol gewesen sein’, dachte Max lakonisch. Dieser schüchterne Professor trug auch immer eine solche Brille. Ob der Kerl auf dem Bild wohl mit ihr verwandt war? „Ja klar, und er ist bestimmt der einzige Verwandte, den sie noch hat. Deshalb auch nur ein einziges Bild auf der ganzen Kommode“, sagte der Ironische.

      ‚Die Arme…’, fing Max an zu denken.

      „HAST DU SIE NICHT MEHR ALLE? Ein einziges Bild hier im Wohnzimmer und dann noch von einem Typen! Ist ganz bestimmt der Papa!“

      ‚Meinst du wirkl…?’

      „AAAARGGHHHH“, schrie der Ironische. Es machte ihn fertig, dass nie jemand seine Ironie verstand. Nein, es machte ihn rasend. „Jetzt mal für Deppen: Du hast mit einer wildfremden Frau geschlafen, die ganz offensichtlich einen Typen hat. Vielleicht sind sie sogar verheiratet oder noch schlimmer!“

      „Was gibt es Schlimmeres als verheiratet zu sein?“, sagte ein anderer.

      „VORSICHT!“, mahnte Mutter.

      „Muha, ich find´s lustig. Vögelt ne Verheiratete, wird - wenn er Glück hat - vom Ehemann nur grün und blau geschlagen und kann sich noch nicht einmal an die Nacht mit ihr erinnern!“, sagte der Nächste.

      „Dir ist aber schon klar, dass du in seinem Kopf bist, wenn er die Prügel bezieht?“

      „Oh…“

      „Zurück zum Thema, Jungs! Wir brauchen einen Plan, der auf dem Verstand fußt!“

      „Das kenne ich! Der Satz ist aus… aus… aus diesem Film!“

      „Ja, ich weiß. Ich dachte, das würde gut klingen. Konnte ja nicht ahnen, dass du den… dingens… ähh… diesen Film auch gesehen hast. Da wo dieser… dieser… dingens immer so komisch rumläuft.“

      „Ja, genau den hab ich gemeint! Da spielt noch der… der… aus… aus… diesem anderen Film mit!“

      „Genau! Der war auch gut!“

      „Wer?“

      „Na dieser andere Film.“

      „Ach der! Ja, der war spitze!“

      „Wenn mir bloß wieder der Titel davon einfallen würde…“

      Ein plötzlicher Schmerz im linken Fuß riss sie aus ihrem Gespräch.

      „Verflucht! Jetzt hat wieder keiner auf die Steuerung des Bewegungsapparates aufgepasst! Das kommt dabei heraus, wenn man ihn sich selbst überlässt. Schadensbericht!“

      „Leichte Kollision mit einem Tischbein. Keine bleibenden Schäden, Sir.“

      „Man kann dich aber auch keine fünf Minuten aus den Augen lassen!“

      ‚MUTTER!’, dachte Max, während er sich halb gebückt die schmerzende Stelle massierte.

      Sein Blick fiel auf einen Schlüsselbund direkt vor seiner Nase. Es waren Autoschlüssel. Die Automarke kannte er nicht, aber das war ihm auch völlig egal. Er wollte nur noch weg. So weit weg wie nur möglich, bevor ein betrogener Ehemann auftauchte und ihm eine Freifahrt im Rettungswagen spendierte. So weit weg wie nur möglich von dieser ganzen Situation, die langsam begann, ihm über den Kopf zu wachsen. Er brauchte etwas Abstand – vor allem räumlichen Abstand – um in Ruhe über alles nachzudenken. Dann würde sich alles aufklären. Die Erinnerung würde wiederkommen. Dann könnte er sie anrufen und sie würden über alles reden. Ein Gespräch unter erwachsenen zivilisierten Menschen. Doch dazu musste er sich erst einmal selbst über alles klar werden. Und das wäre hier unmöglich, wo ihn immer mehr Panik beschlich und er sich von Sekunde zu Sekunde unwohler in seiner Haut fühlte. Spontan fasste er einen Entschluss.

      Und die Autoschlüssel.

      Das Auto stand Gott sei Dank direkt neben dem Haus. Er war so nervös, dass er den Schlüssel erst nach dem dritten Versuch ins Zündschloss bekam. Er drehte hastig, doch nichts rührte sich. „Verflucht, zuviel Gas. Abgesoffen! Verdammte Kacke!“ Er hämmerte auf das Lenkrad und wollte den Schlüssel erneut drehen als jemand aufforderte: „Bitte Fahrziel angeben.“ - „Was?“, entfuhr es Max. „Bitte Fahrziel angeben“, wiederholte die Stimme. Sein Kopf fuhr herum. Der Kerl hatte es vorausgesehen! Er hatte sich die ganze Zeit im Auto auf dem Rücksitz versteckt und auf seine Chance gelauert. Jetzt würde er sein grausames Spiel mit Max spielen. Er würde ihn angrinsen und sich an seinem dämlichen