K. W. Müller

Nebelgeister


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warf einen Blick auf die große Bahnhofsuhr. Der Zug würde erst in knapp zehn Minuten einfahren. Sabine seufzte. Sie hatte keinen Zweifel, dass Anna den Zug besteigen und auch den restlichen Weg zur Schule finden würde. Das hatte sie in ihrer Begleitung ausgiebig geübt und war nicht der Grund, weshalb sie ihrer Tochter gefolgt war.

      Plötzlich ließ ein Rascheln sie zusammenfahren. Sie drehte sich um. Nur wenige Schritte von ihr entfernt pellte ein Mann sich aus einem Schlafsack. Er hatte sein Lager auf dem harten Fliesenboden vor den Schließfächern aufgeschlagen. Sabine hatte ihn nicht bemerkt, weil er von einem Mülleimer verdeckt wurde. Nun richtete er sich auf und rieb mit dem Handballen kräftig über seine Augen, wobei Sabine seine langen, schwarzen Fingernägel sehen konnte und die ungepflegten braungrauen Haare, die in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden.

      Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie ihn nicht gleich gesehen hatte. Und sie ärgerte sich über die Deutsche Bahn, die hier kein Personal mehr stationierte, sondern einfach eine Wach- und Schließgesellschaft mit der Aufsicht über das Gebäude beauftragte. Deren Anwesenheit beschränkte sich allerdings auf das morgendliche Auf- und das abendliche Abschließen der Eingänge. Niemand suchte wohl noch die Räume nach Personen ab, die nicht hier sein sollten. Sabine schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ihrer Tochter zu.

      Annas Summen hatte sich in einen einzigen monotonen Ton gewandelt. Stocksteif zu Boden guckend saß sie auf der Bank und blähte ihre Nasenlöcher auf. Die Knöchel ihrer Hände stachen weiß hervor, so fest klammerte sie sich an das abgewetzte Holz, auf dem sie saß. Anna reagierte nicht, als Sabine aus ihrem Versteck trat. Sie ging auf das Kind zu. Nichts. Sabine blieb stehen. „Anna“, sagte sie voll Zärtlichkeit. Keine Reaktion. „Anna!“, wiederholte sie etwas lauter.

      Zögernd blickte Anna auf. „Was ist?“ erwiderte sie mürrisch.

      Irritiert öffnete und schloss Sabine den Mund, ohne etwas zu sagen. Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen. „Du bist ja gar nicht überrascht, mich zu sehen“, bemerkte sie dann und glaubte, sich näher erklären zu müssen. „Ich wollte nur sehen, ob du den Weg auch ohne mich findest.“

      Der Mann aus dem Schlafsack hustete sich lautstark den morgendlichen Raucherschleim von der Lunge. „Ach herrje“, nuschelte er, nachdem die Stimmbänder endlich frei waren. Eine Flasche fiel klirrend zu Boden. „Na, na!“, schimpfte der Mann. „Du wartest schön auf mich, bevor du dich auf den Weg machst!“

      Sabine sah ihn sich torkelnd bücken, schreckte aber auf, weil sie eine Bewegung an der Eingangstür wahrnahm. Jemand zog daran. Ein erster Impuls mahnte Sabine: „Versteck dich!“ Doch sofort flogen ihren Gedanken wieder Anna zu. Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Im Gegenteil! Sie war ja nur hier, um das Mädchen zu beschützen. Wenn sie sich also offen vor das Kind stellte, würde sich niemand an ihm vergreifen. Nur darum ging es ihr. Die Welt war so schlecht!

      Die Tür pendelte zurück und ein Mann in Uniform erschien. Er ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. „Morgen Olli!“, sagte er zu dem Penner.

      „Moin“, antwortete der. „Bin gleich fertig.“ Er rülpste.

      „Lass dir Zeit, ist nicht viel los“, meinte der Uniformierte.

      „Ist gar nichts los“, verbesserte ihn der Penner, während er seinen Schlafsack langsam und umständlich zusammenfaltete.

      Obwohl Sabine ein wenig zornig wurde, weil die Herren sie wie Luft behandelten, baute sie sich mit großer Entschlossenheit wie ein Schild vor Anna auf. So nah, dass sie ihr auf den Fuß trat.

      „Au, Mama!“, schrie Anna. „Pass doch endlich mal auf!“

      Mit einem raschen Blick auf die Männer sprang Sabine zur Seite und wies Anna zurecht. „Ich passe doch immer auf dich auf! Kein Mensch passt so auf dich auf, wie ich! Ich verteidige dich gegen Angr...“

      „Ach Mama!“, fiel Anna ihr ins Wort. „Du begreifst nie und nichts!“

      „Hast du einen Kaffee oder so was dabei?“, fragte der Penner. Etwas wackelig auf den Beinen stopfte er sich seine wenigen Utensilien unter die Arme und kam aus seiner Ecke heraus.

      „Japp“, erwiderte der Uniformierte und deutete auf seine Aktentasche.

      Der Penner grunzte. „Die Sonne scheint, lass uns draußen frühstücken“, schlug er vor.

      „Immer draußen!“, maulte der Uniformierte. „Hier drin ist soviel Platz!“

      Der Penner warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. „Hier drin ist nirgends genug Platz, dass ich auch nur einen Bissen herunter kriegen würde“, sagte er.

      Breitbeinig und bereit, ihr Leben für ihr Kind zu opfern, stand Sabine da und stemmte die Arme in die Hüften. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Für einen Moment dachte sie daran, sich auf die Männer zu stürzen, ihnen die Gesichter zu zerkratzen und um Hilfe zu schreien. Da spürte sie Annas zitternde Hand im Rücken.

      „Die sprechen darüber, als ginge es ums Essen“, sagte das Kind wimmernd.

      Sabine holte tief Luft. „Es ist noch nicht geschehen!“, sagte sie bestimmt und es brach ihr fast das Herz, als sie dieTränen in Annas Augen sah.

       Unvermittelt schrie das Mädchen sie an: „Es ist längst geschehen, Mama! Wann begreifst du das endlich?“

      Es dauerte einen Augenblick, bis Sabine den dicken Klos herunter geschluckt hatte, der ihr die Kehle zuschnürte. Sie rang die Hände. „Nein!“, sagte sie fast tonlos. Dann schlug sie sich die Hände auf die Ohren. „Nein!“, wiederholte sie. „Nein! Ich bin immer für dich da. Niemand tut dir etwas an, solange ich da bin!“

      „Ach!“, rief Anna schluchzend, sprang auf und rannte an ihr und dem Uniformierten vorbei zum Hinterausgang, der zu den Gleisen führte.

      Ohne zu überlegen lief Sabine ihr nach.

      „Anna war ein Kind!“, sagte der Penner. „Ein Kind!“

      „Hätte dir die Mutter besser gefallen?“, fragte der Uniformierte. „Dann hätte sich das Kind vor den Zug geworfen. Wäre auf dasselbe rausgekommen.“

      „Wäre es nicht!“, widersprach der Penner. „Erstens hätte die sich gewehrt und zweitens wäre das Kind vielleicht nie mehr in einen Zug gestiegen, aber es wäre nicht davor gesprungen!“

      „Möglich“, gab der Uniformierte zu. „Aber die Alte war ja nunmal nicht dabei.“

      „Tja“, nuschelte der Penner. „Ein einziges Mal war sie nicht dabei, als das Kind zur Schule wollte.“ Er kratzte seine Kopfhaut und versuchte dann, die Haare mit den Fingern zu ordnen.

       „Mach dir keine Sorgen, die beiden sind doch längst weg und vergessen“, meinte der Uniformierte und pfiff ein kleines Lied. Dann legte er dem Penner eine Hand auf die Schulter und fügte hinzu: „Nun ist ja alles wieder gut. Schließlich versorge ich dich doch aufs Beste, hm? Und immerhin kannst du hier schlafen, solange du nichts über mich ausquatschst. Von mir aus bis sie das Haus abreißen.“

      Sabine hätte sich am liebsten die Ohren abgerissen. Sie fand es unerträglich, wie locker die beiden Männer über Anna und sie redeten. Vor allem, weil es sich anhörte, als seien sie tot.

      Ein frostiger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren.

      Mit großen Schritten versuchte sie, dem Gerede zu entkommen und Anna zu folgen, die bereits auf den Bahnsteig gelaufen war. Sie nahm noch kurz die Sonne wahr, die heiter und friedlich vom hellblauen Himmel strahlte. Trotz der frühen Tageszeit spürte sie die Wärme des Hochsommers aufsteigen. Und doch kam Sabine sich vor, als befände sie sich auf einem Gletscher.

      Nein, berichtigte sie sich im Stillen. Nicht auf einem Gletscher, sondern auf einer abgebrochenen, wankenden Eisscholle. Und nichts konnte sie aufhalten, sich auf den festen Gletscher vor ihren Augen zu retten.

      Sie