Joana Goede

Körperekel


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Straßenlaterne grell gelb. Es war die letzte Laterne, die Minna passieren musste, bevor sie ihren Arbeitsplatz erreichte. Licht war schon lange zu einer der vielen Unerträglichkeiten des Lebens geworden. So wie alles zu hell war, war auch alles zu laut, zu hektisch. Nachtarbeit das einzige, das in Frage kam. Schon allein, weil nachts die Straßen nicht so voll waren, die Sonne nicht schien und der Stadtlärm sich in Grenzen hielt.

      Sie arbeitete in einem Krankenhaus. Weil das künstliche Licht da dämmrig-grünlich war und nicht so in die Augen stach. Da konnte sie sitzen und nichts machen. Nachts kam ja keiner, der jemanden besuchen wollte. Keiner erkundigte sich nach dem Namen eines Verwandten oder Freundes, keiner hatte einen Blumenstrauß oder ein Stofftier dabei. Oder gar eine Schachtel teure Pralinen. Niemand kam. Nur Ärzte gingen ein und aus, die ihre Schichten überzogen hatten, Krankenschwestern mit geröteten, übermüdeten Augen durch Überstunden, Putzfrauen, die beim Putzen kein Radio hören durften, da es die Kranken im Schlaf gestört hätte.

      Die Arbeit bestand im Grunde nur darin, auf einen Knopf zu drücken, wenn jemand kam oder ging, damit die Tür sich automatisch öffnete. Es durfte nämlich niemand herein, der nicht im Krankenhaus arbeitete. Nach 22.00 Uhr. Notfälle benutzten einen anderen Eingang. Wenn jemand herein oder heraus wollte, den Minna nicht als zum Personal des Krankenhauses gehörig erkannte, musste sie sich den Ausweis zeigen lassen, den Grund für den Aufenthalt im Krankenhaus in Erfahrung bringen und denjenigen ein Sonderformular ausfüllen lassen. War einer der Gründe, die auf dem Formular standen, gegeben, beispielsweise ein lebensbedrohlicher Zustand eines Angehörigen oder ein Kind, das nach Mutter oder Vater verlangte, weil es Angst allein im Krankenhaus hatte, dann durfte derjenige mit Sondererlaubnis herein. Wenn nicht, dann nicht. Da gab es keine Ausnahme. Das Formular entschied, wer herein durfte und wer nicht.

      Es war eine recht entspannte Tätigkeit, die sie da ausübte. Viel Geld gab es nicht dafür, aber es reichte. Zum Leben reichte es. Denn zum Leben brauchte man nicht viel.

      Minna hatte ein ziemlich blasses Gesicht mit grauen Ringen unter den schmalen grünen Augen, leicht eingefallene Wangen und bereits graue Strähnen in den Haaren. Dabei war sie erst achtunddreißig. Sicher kam das durch die Schlaflosigkeit. Der Körper war dünn und kraftlos, nicht sonderlich weiblich. Aber da sie kaum mit Menschen Kontakt hatte, machte sie sich über ihr äußeres Erscheinungsbild keine Gedanken. Fünf Nächte in der Woche saß sie hier hinter einer Glasscheibe. Trank Kaffee, aß Kekse. Spielte Solitär auf dem Computer. Schrieb Nachrichten an ihre jüngere Schwester. Der einzige Mensch, mit dem sie regelmäßig gern kommunizierte. Und das, wenn es ging, schriftlich. Las Bücher. Was ihr eben gerade in die Hände fiel. Romane, Sachbücher, philosophische Texte, Kurzgeschichten, Gedichte. Das meiste, das sie gelesen hatte, vergaß sie bald darauf. Es war nämlich nicht so, dass sie all das, was sie las, auch wirklich interessiert hätte. Das Lesen war eher mechanisch. Ein Zeitvertreib. Die Augen folgten den Zeilen, das Gehirn vollzog den Inhalt nach. Aber viel hängen blieb davon auf Dauer nicht. Sie las alles vollkommen teilnahmslos. Als hätte es nichts mit ihr zu tun. Im Grunde hatte ohnehin kaum etwas von außen mit ihr zu tun. Sie fühlte sich abgeschnitten. Sah die Welt durch einen dichten Schleier. Nichts kam an sie selbst heran. Alles befand sich zu ihr in großem Abstand. Deshalb konnte sie auch an nichts Interesse haben. Es war ja egal. Weil es sie nicht berührte.

      Lustlos tauchte sie den Löffel in die Kaffeetasse, wirbelte die Milch auf, damit sie sich gleichmäßig mit dem Kaffee vermischte, betrachtete die entstehenden Wirbel und starrte auch noch dann in die Tasse, als alles eine Einheit gebildet hatte. Dann erst zog sie den Löffel heraus, legte ihn auf den Schreibtisch neben einen Drucker, den sie selten benutzte und wo schon viele Kaffeeflecke von dem immer gleichen Löffel waren, den sie stets an derselben Stelle abzulegen pflegte. Anschließend nahm sie einen großen Schluck aus der Tasse, stellte sie dort ab, wo sie sie immer abstellte und wo runde Rückstände auf der hellen Tischplatte waren. Dabei bemühte sie sich, die Tasse genau auf einen dieser alten Kreise zu stellen, um nicht einen neuen zu produzieren. Das tat sie seit einigen Wochen mit Erfolg. Es war kein neuer Kaffeetassenabdruck dazu gekommen. Dafür hatten sich die alten verstärkt und ein Muster gebildet.

      Sie mochte das Muster. Eine zufällige Anordnung von sich überschneidenden braunen Kreisen, ineinander übergehend, aneinander anschließend, miteinander verschmelzend. In der Unordnung steckte ein gewisses System, so schien es ihr, je länger sie die Kreise betrachtete. Möglich, dass das, was nach Zufall aussah, doch keiner war. Denn eine Kombination von drei Kreisen, die sich auf eine bestimmte Art schnitten, schien sich mehrfach zu wiederholen. Außerdem waren es exakt sechsunddreißig Kaffeetassenkreise. Nach dem sechsunddreißigsten Kreis hatte sie aufgehört, neue Kreise zu hinterlassen. Von diesen sechsunddreißig Kreisen bildeten immer drei zusammen ein und dasselbe Muster. Zwölfmal dasselbe Muster. Die Zwölf war ja eine wichtige Zahl. Im Märchen, in der Mythologie, in der Bibel. Sie fragte sich, ob das einen tieferen Sinn hatte. Ob es eine Bedeutung hatte. Nun versuchte sie sich an das Datum des Tages zu erinnern, an dem sie zum ersten Mal einen alten Kreis verwendet und sich entschieden hatte, keine neuen mehr zu machen. Wahrscheinlich war es im August gewesen, genau wusste sie es nicht mehr. Doch der August war der achte Monat, das passte nicht zu der Zwölf.

      Sie gab das Denken darüber auf und konnte auch bald die sich wiederholenden Muster in den Kaffeekreisen gar nicht mehr erkennen. Wahrscheinlich doch nur Einbildung, das Ganze.

      Das Bild verschwamm vor ihren Augen, so wie sie häufig Probleme mit dem Sehen hatte in letzter Zeit. Die Kontraste der Umgebung lösten sich auf. Immer öfter war es, als habe jemand einen Weichzeichner über ihr Sichtfeld gelegt. Dabei waren ihre Augen vollkommen in Ordnung. Zumindest sagte das der Arzt. Sie brauchte keine Brille. Trotzdem konnte sie zwischendurch den Text im Buch nicht lesen, die Ärzte von Weitem nicht erkennen, weil die Gesichter unscharf waren, und auch Straßenschilder nicht entziffern, wenn sie mit dem Auto unterwegs war. Dadurch verfuhr sie sich oft. Weil sie zu spät sah, dass sie abbiegen musste. Und nicht mitdenken konnte beim Fahren. Viel zu sehr musste sie sich auf den Verkehr konzentrieren, zumal ihr Konzentration generell sehr schwer fiel. Da konnte sie nicht noch schnell die Schilder lesen. Insgesamt überforderte sie der Straßenverkehr. Zu viele Eindrücke, zu viel, auf das man gleichzeitig achten musste. Wo sie ja nicht mal auf eine Sache richtig achten konnte.

      Mittlerweile ließ sie den Wagen manchmal stehen und nahm den Bus. Besser für die Umwelt, sagte sie sich. Weil sie sich nicht eingestehen wollte, dass sie Angst hatte vor dem Autofahren. Obwohl sie nie einen Unfall gehabt hatte.

      An guten Tagen fuhr sie mit dem Auto. An schlechten nicht. Es gab Tage, an denen konnte sie die Schilder lesen. Dann wurde sie auch nicht so nervös, wenn sie die Spur wechseln musste. Oder einen neuen Weg finden sollte, den sie noch nicht gefahren war. Aber an schlechten Tagen hatte es keinen Sinn, sich hinter das Lenkrad zu setzen. Sobald sie auf der Straße war, brach Panik aus. Das Herz pochte heftig und schnell, die Hände zitterten, ihre Unterlippe bebte, die Knie wurden im Sitzen weich, sie spürte kaum mehr den Druck ihres Fußes auf dem Gaspedal. Wenn es sich vermeiden ließ, fuhr sie an solchen Tagen nicht.

      Immer ließ es sich nicht vermeiden. Hektisch und fahrig war sie dann, total fertig mit den Nerven. Nur irgendwo verkriechen und heulen. In einem Schrank, unter dem Bett. Eingraben und fliehen vor der hässlichen Realität.

      Warum sie überhaupt Autofahren musste? Ihre Schwester Lisbeth. Hatte sich vor zehn Jahren entschieden, dass sie mit Männern nichts anfangen konnte, aber trotzdem ein Kind wollte. Minna hatte das nicht verstehen können. Sie vertrat die Ansicht, dass ein Kind zu viel Arbeit war. Immer musste es beschäftigt werden, war im Weg, machte Ärger. Auf die Idee, ein Kind zu kriegen, wäre Minna nie kommen. Lisbeth hingegen, die im Gegensatz zu Minna sehr entschlussfreudig war und sich so einiges zutraute, was sich die meisten nicht zutrauen würden, hörte nicht auf die ältere Schwester. Minna wusste nicht genau, wie Lisbeth es angestellt hatte, aber kurz darauf kam die Mitteilung, dass sie schwanger war.

      Bis heute hatte Minna nicht erfahren, ob ihr mittlerweile neunjähriger Neffe auf natürlichem Weg gezeugt worden oder einer Samenbank entsprungen war. In jedem Fall war er da und zwang Minna dazu, am Leben teilzunehmen. Lisbeth hatte mit Jakob zwar nicht das geringste Problem, die beiden waren ein Herz und eine Seele, Jakob war erstaunlich eigenständig und immer ein ruhiges, liebenswertes Kind gewesen. Leider hatte er (wie seine Mutter) einen gewissen Hang zur Hyperaktivität.