Joana Goede

Körperekel


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Handball. Lisbeth ließ ihn immer machen. Und wenn er nicht wollte, dann eben nicht. Sie sagte, sie wolle ihn nicht beeinflussen. Er solle Dinge ausprobieren und sehen, was ihm gefiel und was nicht. Und wenn er lieber Zuhause sitzen und Computerspielen wollte, durfte er das. Solange es sich in Grenzen hielt und er die Schule nicht vernachlässigte.

      Da Jakob also ausprobieren konnte, was er wollte, solange es sich im für seine Mutter finanzierbaren Rahmen bewegte, kam es nicht selten vor, dass Lisbeth ihn nicht bringen oder abholen konnte. Dann musste Minna einspringen. Je älter Jakob wurde, desto häufiger war das er Fall. Minna hatte tagsüber ja frei. Zwar schlief sie zwischendurch, meistens mehrfach kurz über den Tag verteilt, kaum mal lange am Stück. Aber sie war Zuhause und damit auch für ihre Schwester verfügbar.

      Jakob trieb Minna in den Wahnsinn. Saß er bei ihr im Auto, sprudelte er los. Erzählte von jeder Einzelheit, die er erlebt hatte, auch wenn es Minna nicht die Bohne interessierte. Das war beim Autofahren die Hölle. Minna musste ihn dann ständig bitten, jetzt nicht mit ihr zu reden, weil sie sich beim Fahren konzentrieren musste. Aber Jakob war in seinem Redefluss kaum zu bremsen.

      Minnas Neffe war in gewisser Weise der einzige lebendige Teil in ihren Leben. Lisbeth sah sie deutlich weniger als Jakob. Denn in der Regel war Minna so geschafft von Jakob, dass sie für Lisbeth keine Reserve mehr hatte. Sie konnte dann nur noch verschwinden und sich in die Ruhe und Dunkelheit ihrer Wohnung zurückziehen. Für andere Freizeitbeschäftigungen hatte sie keine Kapazitäten. Spazieren gehen vielleicht, Haushalt. Ansonsten eben Dösen, Schlaf sammeln, wo es ging. Im Internet surfen. Musik hören. So vergingen die Tage. Und nachts eben ab und zu auf einen Knopf drücken, ansonsten warten, Kaffee trinken, Solitär spielen oder andere einfache Spiele. Manchmal Kreuzworträtsel. Oder Schach gegen den Computer, wobei sie dabei immer verlor. Deshalb traute sie sich das nur selten, es deprimierte sie zu sehr. Sie verzweifelte dann, wenn sie nicht mehr wusste, welche Spielfigur sie wie bewegen sollte, weil alles aussichtslos wirkte. Das erinnerte sie zu sehr an ihr eigenes Leben. An die Hoffnungslosigkeit darin. Sie hatte das Spiel in solchen Momenten dann in der Regel abgebrochen. Ohne es weiter zu versuchen. Ehrgeiz war ihr fremd. Anstatt es solange zu versuchen, bis sie es schaffte, wie Lisbeth es getan hätte, ging Minna immer davon aus, dass sie es ohnehin nicht schaffen würde. Folglich war jeder Versuch Zeitverschwendung.

      Und so wie Minna sich beim Schach verhielt, tat sie es auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Freundschaften oder gar Partnerschaften ließen sich nie halten. Bei den kleinsten Problemen hatte Minna umgehend abgebrochen. Abbrechen müssen, weil es sonst für sie zur Qual geworden wäre. Für sie war jede Beziehung nur eine zusätzliche Verpflichtung, nur Arbeit. Davon hatte sie genug. Mehr Beziehung als zu ihrer Schwester und zu ihrem Neffen konnte sie nicht leisten. Schon damit war sie überfordert. Kam noch eine Freundin oder gar ein Mann dazu, dann überschritt das Minnas Grenzen, dann musste sie aufgeben, bevor sie richtig angefangen hatte.

      Sie pflegte keinerlei Kontakt zu Kollegen, zu Schulfreunden, zu Nachbarn. Auch nicht zu ihrer restlichen Familie. Das einzige, was sie wusste, war das, was Lisbeth ihr ab und an mal erzählte. Wobei Lisbeth selbst nicht viel auf die Familie gab und sich nur mal sporadisch bei Tante und Onkel meldete. Lisbeth hatte immer alles allein machen wollen. Und das konnte sie auch. Minna dagegen hatte nie etwas allein machen wollen und sich lieber an Lisbeth gehängt, die alles konnte und für die alles so leicht war, was für Minna eine unüberbrückbare Schwierigkeit darstellte. Ohne Lisbeth konnte Minna sich keine Existenz vorstellen. Zwar war ein Zusammenleben in einer Wohnung unmöglich, aber Minna brauchte Lisbeths Rat, sie brauchte ihre gute Laune, ihren Lebensmut zum Ausgleich ihrer eigenen dunklen Gemütslage. Dafür nahm sie auch Jakob in Kauf. Denn Lisbeth war wohl das einzige, was Minna je geliebt hatte.

      Manchmal glaubte Minna, dass die Nachbarn sie für gestört halten mussten. Zumal sie sie nie sahen. Nur selten begegnete Minna morgens, wenn sie nach Hause kam, einigen Nachbarn, die aus dem Haus gingen und zur Arbeit wollten. Es war auch schon vorgekommen, dass Minna sich dann versteckt hatte, unten im Keller des Hauses. Bis das Treppenhaus wieder leer war. Wie es eben ging, war sie bemüht, den anderen auszuweichen. Außerdem waren ihre Rollos immer unten. Weil das Licht ja in den Augen schmerzte. Sie wollte tagsüber jede Gelegenheit zum Schlafen nützen, da wäre Licht hinderlich gewesen. In ihrer Wohnung war es also meistens dunkel. Zumindest ein wohliges Zwielicht herrschte dort. Von draußen musste es so wirken, als ob dort niemand wohnte. Aber das war Minna ganz recht so. Sollten die Leute denken, was sie denken wollten. Menschen, die nur nachts arbeiten, sind eben tagsüber etwas scheu.

      [Als sie an diesem Morgen nach Hause kam, wurde sie kurz vor der Haustür von einer SMS von Lisbeth aufgehalten. Schlaftrunken und erschöpft hatte sich Minna soeben aus dem Bus gequält, wollte nur noch aufs Sofa fallen und dort unter einer Wolldecke verschwinden, da teilte Lisbeth ihr mit, dass sie dringend ihre Hilfe brauchte. Jakob war nämlich verschwunden. Minna schaute irritiert auf ihr Handy und las die Nachricht mehrfach. Auf einen Schlag war sie hellwach. Jakob verschwunden. Was hatte sie sich darunter vorzustellen?

      Sie rief bei Lisbeth an und war schon auf dem Weg zum Auto. Lisbeth klang etwas weinerlich am Telefon. Das kam selten vor. Stockend erzählte sie umständlich, wie Jakob am vorigen Abend vom Handballtraining nicht nach Hause gekommen war. Er hätte mit einem Freund mitfahren sollen, doch dem hatte er gesagt, dass er den Bus nehmen wollte. Es fuhr aber gar kein Bus um diese Uhrzeit auf der entsprechenden Strecke. Lisbeth hatte dann am Abend gegen 21.00 Uhr noch die Polizei kontaktiert. Die hatte ihr gesagt, dass sie abwarten müsse. Es sei noch zu früh, um etwas zu unternehmen. Lisbeth wurde allerdings immer nervöser und war dann nachts auf eigene Faust durch die Gegend gefahren, hatte Jakob gesucht, ihn immer wieder auf dem Handy angerufen. Es blieb allerdings aus. Jakob war einfach weg. Und sie konnte sich nicht erklären, wo er plötzlich hin war. Natürlich war sie in großer Sorge. Die Angst war ihrer Stimme deutlich anzumerken. Häufig brach sie Sätze ab, fing neue an, ohne jede Überleitung. Es war nicht leicht, ihr zu folgen. Gerade für Minna nicht, die durch Schlafmangel bedingt ohnehin nicht gut dem folgen konnte, was andere sagten.

      „Hör zu“, sagte sie zu Lisbeth, „ich komme jetzt zu dir. Ok? Keine Panik.“

      Lisbeth rief: „Keine Panik? Mein Kind ist weg, Minna! Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet? Welche Ängste ich ausstehe? Was alles passiert sein kann? Und da soll ich keine Panik kriegen? Ich melde mich jetzt nochmal bei der Polizei.“

      „Ja, mach das“, sagte Minna und legte auf. Hinter dem Lenkrad kam die Müdigkeit wieder und die Nervosität schlug voll zu. Einen Moment wusste sie nicht mehr, wie man den Motor startete. Das war schon öfter vorgekommen. So legte sie den leeren Kopf einen Augenblick zum Ausruhen auf das Lenkrad, atmete mehrfach tief durch, murmelte besänftigende Worte. Es war eine Art Blackout. Eben eine Überforderungssituation. Mit plötzlichen Ereignissen konnte Minna nicht umgehen. Schon gar nicht mit welchen, die dermaßen dramatisch waren. Und vor allem katastrophal enden konnten. Da war sie auf einen Schlag fertig, kraftlos, ihre Nerven lagen blank und vibrierten ängstlich.

      Irritierend für Minna war dabei, dass sie sich keine Sekunde um Jakob sorgte. Das einzige, was sie beunruhigte, waren die Auswirkungen, der Stress für sie selbst und für Lisbeth. Wo war ihr Mitgefühl, fragte sie sich. Sie fand es nicht. Vielleicht untergegangen in der Gefühllosigkeit, die sie gemeinhin plagte. Eine generelle Leere in dieser Hinsicht.

      In Bezug auf Jakob war sie vollkommen ruhig. Sie machte sich keine Gedanken, wo er sein könnte, was ihm zugestoßen sein könnte. Er war eben weg. Das kam vor und konnte unterschiedliche Gründe haben. Von ganz harmlosen bis zu ganz schrecklichen. Machen konnte man da ohnehin nichts, die Polizei würde schon ihr Bestes geben. Zu mehr war Minna nicht in der Lage. Sie hatte nur das Ziel, zu Lisbeth zu kommen und Lisbeth zu helfen, welche Hilfe sie auch immer brauchen konnte. Minna wollte für Lisbeth da sein. Und deshalb fasste sie auch Mut, versuchte die Angst wegzudrängen, drehte den Zündschlüssel um und vertraute darauf, dass sie wusste, wie man fuhr. Auch wenn es ihr vielleicht mal kurzfristig entfiel. Wie das meiste. In der Regel kam das vermisste Wissen allerdings von allein zurück.

      Mühsam bewegte sie den Wagen durch die vollen Straßen. Der Berufsverkehr war ein Alptraum. Besonders für einen Menschen wie Minna mit Überängstlichkeit und herabgesetztem Reaktionsvermögen. Sie scheute sich, die Spur zu wechseln. Deshalb fuhr sie Umwege, versuchte