Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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und zwei der Jungen gingen sogar in seine Klasse. Zauberer, von denen er es nie für möglich gehalten hätte.

      Als die Gruppe sich langsam auflöste, wandte Charlie sich ihnen grinsend zu.

      „Jetzt kennt ihr bald alle meine Geheimnisse“, sagte sie. Wie üblich trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover und dunkle Hosen, die einen leichten Pulverfilm aufwiesen von den wenigen Malen, in denen sie im Sand gelandet war.

      „Das ist unglaublich!“, rief Peer. „All die Nachmittage, die wir zusammen rumgehangen sind, und nie hast du auch nur angedeutet, dass du Karate kannst!“

      Charlie zuckte die Schultern. „Es ist besser, wenn man mit seinen Stärken nicht hausiert. Dann hat man das Überraschungsmoment auf seiner Seite, weißt du.“

      Tom beobachtete das schwarz glühende Licht über ihrem Herzen, das sich in der hereinbrechenden Dunkelheit zusehends abzeichnete. Er fragte sich, was es damit auf sich hatte.

      „Soll ich euch noch etwas zeigen?“, fragte Charlie. „Früher oder später müsst ihr sowieso damit anfangen, dann können wir es auch jetzt gleich machen. Ein paar elementare Stellungen zu Beginn.“

      Peer blickte sich erschrocken nach der Kirchturmuhr um. „Verdammt, ich hab meinen Eltern gesagt, ich bin um acht zum Essen zuhause! Ein ander Mal, Charlie!“ Er spurtete davon.

      „Glaubst du, das war eine Ausrede?“, grinste Charlie Tom an.

      „Ich glaub nicht. Seine Eltern merken langsam, dass was im Busch ist.“

      „Und Reginald?“

      Sie sprachen eine Weile über Toms verrückten Vater und wie es ihm mit den ersten Magiestunden ergangen war. Charlie ließ ihn die verschiedenen Zauber vormachen, berichtigte seine Handbewegungen und seine Zauberformeln. Sie schien zufrieden mit seinen Fortschritten. Dann zeigte sie ihm tatsächlich noch ein wenig Karate, aber weiter als bis zur gebeugten-Knie-Stellung und ein paar Faustdrehungen kamen sie nicht, weil Tom vor Müdigkeit zu taumeln begann.

      „Ich muss auch heim“, sagte Charlie, nachdem sie ihn prüfend angeschaut hatte. „Sonst schickt mein Dad einen ganzen Suchtrupp los, inklusive Spürhunde.“

      Tom grinste. Er unterdrückte ein weiteres Gähnen. „Bist du morgen bei Griselbart? Dann sehen wir uns da.“

      „Klar“, sagte Charlie und lächelte.

      Tom fand seinen Vater – wie könnte es anders sein? – im Keller, über eine seltsame Apparatur geneigt, die, wie er sagte, magische Bewegungen wahrnehmen konnte. Im Moment zeigte sie pfeilgerade auf Tom, was Reginald als Fehler deutete.

      „Da muss ein Fehler bei der Kalibrierung vorliegen“, schimpfte er und hantierte an den vielen Rädchen herum. „Bis gerade zeigte es auf Oswald Griselbarts Haus und schlug so heftig aus, dass ich dachte, der Zeiger springt aus dem Gehäuse.“

      „Dad, ich muss dir was sagen“, begann Tom.

      „Die Elektroden scheinen keinem natürlichen Gesetz mehr zu gehorchen … “, schimpfte Reginald.

      „Dad, hör mir mal zu.“

      Sein Vater schaute von der Apparatur auf, verunsichert ob des ernsten Tonfalls.

      „Wir ähm … wir waren heute wieder bei Meister Griselbart und wir ähm …“ Es war nicht leicht, alles in Worte zu fassen, was geschehen war. Schon beim Versuch begann Toms Kopf wehzutun. Aber Reginald verdiente die Wahrheit. Schon allein aus dem Grund, dass er aufhörte, diese fantastischen Apparate zu bauen.

      „Wir müssen für eine Weile weg. Charlie, Peer und ich. Es hat mit diesen Vorkommnissen zu tun, mit den … Wesen … den Kobolden zum Beispiel.“

      Reginald fuhr sich mit einer Hand über seine ergrauten Bartstoppeln. Er runzelte die Stirn. „Ihr wollt danach suchen?“, fragte er. „Nach der Magie? Dabei kann ich euch doch helfen. Du weißt, wie gern ich das tue. Aber in letzter Zeit scheinst du nicht mehr viel Lust auf unsere Ausflüge zu haben …“ Ein trauriger Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen.

      An Tom nagte das schlechte Gewissen. Er würde schon etwas weiter ausholen müssen, um sich verständlich zu machen.

      „Nein, Dad. Ich meine … Die Wesen, Griselbart … sie sprechen mit uns und …“

      Reginald blickte ihn verwirrt an. Sorgte mischte sich in seinen Blick und Tom merkte, dass sein Verhalten ihm Angst machte. Vielleicht zweifelte nun er bald an seinem Verstand, nicht andersherum. Da sah er ein, dass es leichter war, wenn er es seinem Vater einfach zeigte.

      Tom zog den Zauberstab aus der hinteren Hosentasche. Er richtete ihn irgendwohin und murmelte: „Anaphaino!“ Die große, wabernde Kugel brach aus der Spitze des Zauberstabs hervor und manifestierte sich vor ihnen in der Luft.

      Reginald stolperte ein paar Schritte zurück und wäre fast über eine Kiste mit gefrorenen Hühnerkrallen (angeblich die Leibspeise von Hippogreifen) gefallen. „Das ist – aber – wie-“, stammelte er.

      Tom zog den Kragen seines T-Shirts herunter und zeigte ihm das blau glühende Gluthien über seinem Herzen.

      Reginald starrte darauf, das Gesicht eine Maske der Entgeisterung. Dann schrie er, so laut, dass Tom zusammenzuckte. „ICH HABS GEWUSST! Ich hab immer gesagt, dass es mit dem Lichtbehälter zu tun hat! Es ist der Sitz ihrer Zauberkraft!“

      Tom musste ein wenig lachen angesichts seiner Freude. „Ja, Dad, ja, das stimmt, du hattest mit allem recht.“

      Reginalds Lächeln verblasste ein wenig. „Dir ist gelungen, was ich versuche, seitdem ich fünf Jahre alt bin. Du hast einen Zugang zur Anderswelt erlangt und bist sogar ein Teil von ihr geworden.“

      „Ohne dich hätte ich es nie geschafft. Ich hab nur daran geglaubt, weil du mir alles gezeigt hast, die Beweise, die Unstimmigkeiten. Nur dein Sohn hätte einen Zugang in die Anderswelt finden können.“

      Ein kleines Lächeln umspielte Reginalds Lippen. „Du hast Recht. Außerdem bin ich schlichtweg zu alt, um zaubern zu lernen und mit Einhörnern zu rennen und mit Drachen zu fliegen … Aber warum willst du weggehen, Tom?“

      „Das sag ich dir auf dem Weg nach draußen. Vorher will ich dir Astos zeigen.“

      Sie stiegen die Treppen hoch und Reginald stellte pausenlos Fragen, ohne eine Antwort abzuwarten: „Gibt es Einhörner überhaupt? Die habe sogar ich für eine Erfindung der Menschen gehalten, zu rein, zu unschuldig … Wo kam der tote Kobold her und was hat ihn getötet, Tom? … Wie hast du den Lichtbehälter bekommen? Hast du ihn verschluckt? Aber nein, das wäre absurd …“

      Tom antwortete, so gut er konnte, bemühte sich aber gleichzeitig, nicht zu viel zu verraten. Griselbart kannte Reginald und wusste, er würde ihre Geheimnisse so gut wie seine eigenen hüten - Kuru dagegen wäre von seiner Redseligkeit bestimmt nicht begeistert.

      Im Garten hinter dem Haus hielt Tom die Finger an die Lippen und pfiff. Ohne dass er sich je besonders darin geübt hätte, kam ihm eine aus drei Tönen bestehende Melodie in den Sinn.

      „Was kommt jetzt?“, fragte Reginald. „Ein Kobold?“

      Eine Weile standen sie stumm da und warteten, bis ein schwaches Schimmern zwischen den Bäumen des Waldes auszumachen war. Es wurde schnell kräftiger und schließlich trat der schneeweiße Hirsch unter einer Tanne hervor. Er verharrte wachsam, ehe er sich in Bewegung setzte, den Blick ausschließlich auf Tom gerichtet. Durch eine Lücke im Zaun betrat er ihren Garten. Toms Herz begann schneller zu schlagen.

      Reginald stieß ein andächtiges Seufzen aus. „Wie wunderschön.“

      Tom stimmte ihm im Stillen zu. Dass dieses stolze und sanfte Tier ausgerechnet auf sein Pfeifen hörte und ihn zum Gefährten wollte, ließ seine Brust vor Stolz anschwellen.

      Astos blieb vor ihnen stehen und sah in der Nacht fast unwirklich aus, wie die Traumgestalt, derer er sich so lange bedient hatte.

      „Danke,