Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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sanft. „Zerbrich dir bitte nicht den Kopf, mein lieber Junge. Es ist ohnehin schon alles verwirrend genug und auf Wahrsagerei ist niemals Verlass, merk dir das.“

      Tom gab sich nur widerwillig mit der Antwort zufrieden. Aber er sah ein, dass er viel zu lernen hatte und dass es nach und nach geschehen musste.

      Peers Zauberstab bestand aus Eichenholz, in dessen Kern die tote Hofdame zu einem Pulver verarbeitet war. Er hatte sich beim Verzieren an die gängigen Muster gehalten und viele parallele, sich wiederholende Elemente gewählt; es passte zu ihm.

      „Nun gut, Jungs, ich würde sagen, dabei belassen wir es fürs Erste.“

      Tom und Peer protestierten, aber Griselbart schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. „Schaut mal, wie spät es ist. Ihr habt die ganze Nacht nicht geschlafen. Schlaf ist unabdinglich für die Erholung von Körper und Geist und nur, wenn ihr ruht, seid ihr in der Lage zu lernen und Großes zu vollbringen.“

      Die beiden gaben nach und ehe sie sich versahen, standen sie wieder auf Griselbarts vorderer Veranda und die Tür war ins Schloss gefallen. Doch mit einem Unterschied: beide hatten sie jetzt Zauberstäbe in der Hand und unstillbare Abenteuerlust im Herzen.

      Erste Sonnenstrahlen krochen über die Häuserdächer und just in diesem Moment fühlte Tom, wie ihn die Müdigkeit mit der Wucht einer Abrissbirne überkam. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Nacht durchgemacht zu haben, außer an Silvester.

      „Unglaublich, Tom, wärst du nicht Griselbart zu Hilfe gekommen, als er gegen die Chipera kämpfte, wäre das alles nie passiert!“

      „Vielleicht doch. Finwa zufolge passiert alles, was die Sterne voraussagen.“

      „Ist das die Katze?“

      „Der Kater. Leider hat er nicht mehr verraten.“

      Am üblichen Punkt trennten sie sich voneinander.

      „Du gehst heute nicht in die Schule, oder?“, fragte Peer mit zweifelndem Blick.

      Tom schüttelte den Kopf. „Glas muss die Matheprobe wohl ohne uns schreiben.“

      Peer nickte. Vor Müdigkeit schien er sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. „Wann gehst du wieder rüber?“

      Mit „rüber“ meinte er Griselbarts Anwesen.

      „Sobald ich wach bin“, sagte Tom. „Soll ich dich dann anrufen?“

      „Ja.“ Peer grinste breit. „Kann's kaum erwarten.“

      Tom wusste, als er aufwachte, im ersten Moment nicht, warum er so glücklich war. Müde, aber glücklich. Dann erinnerte er sich. Das Ritual, Griselbarts Erklärungen, die Magie. Er zog den Ausschnitt seines T-Shirts herunter und da war es, das dunkelblaue Licht, das im Rhythmus seines Herzschlags pulsierte. Er dachte an Astos, dessen Geist er vage am Rande seiner Wahrnehmung spürte, und der wohl nicht weit entfernt im Unterholz über seinen Schlaf wachte. Ohne sein Zutun breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, so ehrlich, wie seit Wochen nicht mehr. Alle Sorgen schienen weit weg und in diesem Moment hätte er in sein Kissen boxen können vor lauter Glück. Da öffnete sich die Tür und Reginald trat ins Zimmer. Seine sonst so offene Miene war umwölkt.

      „Die Schule hat angerufen, weil du unentschuldigt gefehlt hast“, sagte er und sah ihn scharf an. „Ich hab natürlich gesagt, ich hätte vergessen anzurufen - nicht dass es die Sekretärinnen überrascht hätte. Als ich in dein Zimmer geschaut habe, hast du so tief und fest geschlafen, dass ich gar nicht probiert habe dich aufzuwecken. Tom, warst du diese Nacht überhaupt zuhause?“ Ernste Sorge sprach aus seinen grauen Augen.

      Die Schule. Die Matheprobe. Tom hatte sie komplett vergessen, hatte sogar vergessen seinem Vater zu sagen, er wäre krank. „ Ähm … “, sagte er.

      „Du verhältst dich seltsam in letzer Zeit, kommst mitten in der Nacht nach Hause oder gar nicht. Du weißt, du hast bei mir keine Grenzen, weil ich dir vertraue, aber trotzdem musst du mir sagen, wenn du Probleme hast!“

      Tom sah ein, dass sein Verhalten mehr als besorgniserregend war. Jetzt galt es zurückzurudern. „Peer und ich sind dem Geheimnis auf der Spur“, sagte er schnell. „Dem Geheimnis von Griselbarts Villa.“

      Reginald schaute verblüfft drein, suchte nach Worten. Mit einer solchen Antwort schien er nicht gerechnet zu haben. „Ich verstehe … Und was habt ihr bisher herausgefunden?“

      „Die Wesen, sie wohnen im Wald. Sie besuchen Griselbart. Kobolde sind darunter und auch Hirsche … “ Tom wollte seinem Vater die Wahrheit sagen, aber nicht zu viel.

      Reginalds neugieriges Naturell gewann letztendlich die Oberhand. „Hirsche? Ihre Spuren habe ich bereits am Waldrand gefunden und, stell dir vor, sogar bei uns im Garten! Erst heute früh bei Sonnenuntergang. Komm mit in die Küche, Tom, dann kannst du mir mehr erzählen.“

      Das Gespräch dauerte den ganzen Morgen und Tom bereitete es einiges an Kopfzerbrechen, Reginalds Neugier zu befriedigen und gleichzeitig nicht zu viel zu verraten. Als er dann endlich doch aus dem Haus rannte, ließ er einen entspannt zurückgelehnten Reginald zurück, der eine Menge Stoff zum Nachdenken hatte.

      Tom fragte sich, wo Astos war; es beunruhigte ihn, wenn er ihn lange nicht sah, ein Gefühl, das er so nicht kannte.

      Peer wartete vor Griselbarts Tor auf ihn. „Du glaubst nicht, wie meine Eltern sich aufgespielt haben, weil ich nicht in die Schule gegangen bin. Sie haben zum Glück nicht mitbekommen, dass ich in der Nacht nicht zuhause war, sonst hätte ich jetzt bis zu meinem achtzehnten Geburtstag Hausarrest.“

      Tom erzählte ihm, wie Reginald seine Geständnisse aufgenommen hatte.

      „Manchmal beneid ich dich echt, dass dein Vater so verrückt ist“, seufzte Peer.

      Griselbart öffnete, ehe sie die Klingel betätigt hatten. Er wirkte erfrischt und voller Tatendrang und seine Augen zwinkerten freundlich.

      „Habt ihr eure erste Nacht als Zauberer gut überstanden?“

      Die Jungen bejahten und schauten ihn gespannt an.

      „Hier war auch einiges los. Das Ergebnis der Diskussion ist zufriedenstellend. Die Wesen der ersten Pforte sind bereit, euch eine Chance zu geben.“

      „Was, wenn sie nicht bereit gewesen wären?“, fragte Peer.

      Griselbart warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Sind wir einfach froh, dass sie es sind.“

      Es war jetzt früher Vormittag und der alte Zauberer hielt das für eine gute Zeit, um mit dem Zauberunterricht zu beginnen. „Gehen wir nach oben in den ersten Stock. In den Räumen ist es nicht so schlimm, wenn ihr etwas kaputtmacht.“

      Tom und Peer folgten bereitwillig, gespannt, den Rest des Hauses zu sehen. Griselbart nahm dieselbe mit Teppichen ausgelegte Treppe, die zum Käfig des Wolfshundes führte. Der Flur, den sie betraten, führte an rund ein Dutzend Zimmern vorbei. Die Wände waren getäfelt und rote samtene Vorhänge waren in regelmäßigen Abständen angebracht. Ahnenbilder schauten auf die Besucher herab und je eine Ritterrüstung daneben schien sie mit erhobener Lanze zu bewachen. Griselbart nahm gleich die erste Tür auf der rechten Seite. Der Raum dahinter war größer, als man von außen vermutete, und angelegt wie ein Tanzsaal; Dielenbretter bedeckten den Boden und bogenförmige, mannshohe Fenster tauchten den Raum in helles Licht. Alle bis auf eins, das geöffnet war, waren von zerschlissenen grauen Vorhängen bedeckt. Hinter dem Lehrerpult war eine Tafel in der Wand eingelassen, altmodisch mit Kreide und Lineal auf ihren Ablageflächen, und versetzt dahinter stand ein großer Spiegel mit Bronzefassung an der Wand. Kalte Morgenluft wehte durchs offene Fenster und Tom schauderte.

      „Willkommen im Studierzimmer!“ Griselbart wies auf zwei Tische und Stühle in der ersten Reihe. „Setzt euch, ich muss euch viel beibringen. Wir haben leider nicht viel Zeit, ehe ihr nach Bruckwalde aufbrechen müsst.“

      „Unterrichten Sie hier auch andere Schüler?“, fragte Tom. Sein Stuhl verursachte ein lautes Schaben, als er ihn zurechtrückte.

      „Nicht