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Weggabelung wandte er sich nach links. „Dazu muss ich nach Hause, wir sehen uns später, ja? Passt gut auf, ihr zwei!“

      Es sah aus, als wollte er den Hirsch streicheln, aber dann überlegte er es sich anders und ging mit einem staunenden Lächeln davon. Tom blickte ihm nach, bis er ins Haus gegangen war. Er schüttelte leicht den Kopf; das alles kam ihm vor wie ein verrückter Traum.

      Hinter ihm leuchteten die Fenster des Bernsteinwegs sechs einladend in der Dunkelheit. Etwas in ihm wollte nichts lieber als hinein in sein Zimmer zu gehen und die Tür zuzumachen. Aber da war auch eine neue Abenteuerlust in ihm erwacht und diese erlaubte es nicht, dass er den Hirsch jetzt verließ. Er musste sich zunächst um seinen Zauberstab kümmern, wie Griselbart vorgeschlagen hatte.

      Ein kühler Windhauch fuhr ihm unter die Kleider und ließ ihn frösteln. Er konnte von Glück reden, einen Vater wie Reginald zu haben. Jeder andere wäre wohl auf die Barrikaden gegangen, wenn der dreizehnjährige Sohn um Mitternacht nicht im Bett war.

      Er drehte sich zu dem Hirsch um. Sein Gesicht erschien ihm noch immer wie eine Traumgestalt und er spürte eine gewisse Scheu und Ehrfurcht vor dem Tier. Es war stark genug, einen erwachsenen Mann mit seinem Geweih zu töten und obendrein genauso klug wie ein Mensch.

      „Ich hätte schon eine Idee“, sagte er leise. „Ein Zauberstab, der aus deinem Geweih gemacht ist. Dann würde man sofort erkennen, dass wir zusammengehören. Aber ich denke, das geht nicht, oder?“

      Astos sah ihn mit seinen intelligenten Augen aufmerksam an. Sie waren das einzige an seinem Körper, das in der Dunkelheit nicht glomm. Dann sank er, wie zuvor beim Ritual der Gluthien mit den Knien zu Boden. Gleichzeitig schaute er mit seinem Kopf nach hinten in Richtung seines breiten Rückens.

      „Ich soll aufsteigen?“, fragte Tom nervös, der in seinem ganzen Leben noch nie geritten war. Der Hirsch senkte langsam den Kopf. Das sollte wohl Ja bedeuten.

      Es gestaltete sich schwierig, in Jeanshosen ein Bein über den Rücken des Hirsches zu strecken, aber schließlich gelang es ihm. Stolz blickte er sich um. Die Welt sah anders aus, jetzt, wo er sie von weiter oben betrachtete. Er stellte sich vor, was ein weiterer Nachbar, zum Beispiel Herr Behrer oder Herr Reß, sehen würde, wenn er jetzt aus dem Fenster schaute. Den jungen Tom Winter auf dem Rücken eines weißen Hirsches, die zusammen in die Nacht ritten. Er lachte ein glockenhelles Lachen.

      Astos machte ein paar Schritte von der Straße weg auf bewachsenen Boden und Tom klammerte sich an seinem Hals fest. Über die Wiese hinter seinem Haus ging es in Richtung Wald. Unter seinen Beinen spürte er die starken Muskeln des Hirsches, der sein Gewicht ohne sichtliche Anstrengung trug. Seine Ohren flackerten mal in die eine, mal in die andere Richtung und verrieten, dass er stets wachsam war. Als sie vom Wald nur noch wenige Meter trennten, beschleunigte Astos seine Schritte und begann schließlich zu traben. Ein paar Sekunden schaffte Tom es sich festzuklammern, ehe er abrutschte. Er landete unsanft auf dem Boden und fluchte. Astos drehte sich nach ihm um und blickte ihn aufmerksam an, aber Tom meinte, in seinen Augen ein Lachen zu sehen.

      „Probieren wir es noch einmal“, sagte er grimmig.

      Nach ein paar Anläufen klappte es besser, auch wenn ihm nach kurzer Zeit gewisse Körperstellen ziemlich wehtaten. Astos überschritt die Waldgrenze und das Licht des Mondes nahm noch weiter ab. Außer den Hufschlägen des Hirsches und einsamen Vogelstimmen störte kein Laut die Stille. Als Tom wusste, er würde nicht gleich wieder runterfallen, konnte er den Ritt genießen. Er vergaß die Zeit, vergaß die Erlebnisse der letzten Wochen und konzentrierte sich ganz auf den Moment. Es fühlte sich merkwürdig vertraut an, auf dem Rücken des Hirsches zu sitzen, als würde er das schon seit langem tun.

      Astos schien genau zu wissen, wo er hin wollte. Während Tom nach ein paar Biegungen und Abzweigungen völlig die Orientierung verloren hatte, sprang der Hirsch leichtfüßig über am Boden liegende Stämme und Erdhügel tiefer ins Herz des Waldes. Hin und wieder knackte etwas im Unterholz und manchmal meinte Tom, etwas aus den Augenwinkeln davonhuschen zu sehen.

      Sie gelangten an eine Wegkreuzung, wo in gerader Richtung vier unterschiedliche Pfade verliefen. Tom schaute in die pechschwarzen Schatten zwischen den Bäumen und schauderte. Einerseits war er neugierig, wohin die verschiedenen Pfade führten, andererseits fühlte er, dass Gefahr von ihnen ausging. Vor allem der Weg ganz rechts bannte ihn.

      „Da geht es nach Bruckwalde, oder?“, fragte er den Hirsch leise. „Wo wir hin müssen, weil König Lokaro krank ist.“ Woher er das wusste, konnte er nicht sagen.

      Astos schnaubte. Wieder ein Ja. Dann setzte er sich in Bewegung und nahm den zweiten Weg von links. Tom schaute noch eine Weile über die Schulter, dann verdrängte er das unheimliche Gefühl. Minutenlang ritten sie weiter.

      Auf einer großen Lichtung, die von den Sternen in funkelndes Licht getaucht wurde, machte Astos Halt. Er senkte die Schnauze und schnoberte im Gras, als wollte er zu fressen beginnen, aber dann sah Tom, wofür er sich interessierte. Im Gras lag ein abgeworfenes Geweih, das viel größer war als das, welches zwischen Astos‘ Ohren wuchs. In der Dunkelheit konnte man meinen, es wäre aus Elfenbein. Tom sprang von seinem Rücken und fragte: „Das ist von dir? Ich kann es haben?“

      Astos sah ihn mit einem Blick an, der wohl Ja bedeutete.

      „Ich werde es als Ganzes mitnehmen müssen. Ich hab nichts zum Sägen dabei.“

      Das Geweih war schwerer, als Tom vermutet hatte. Allein es in die Höhe zu hieven, erforderte einiges an Kraft. Es dauerte eine Weile, bis er eine Sitzposition auf Astos' Rücken fand, in der er nicht gleich wieder den Halt verlor.

      Auf dem Rückweg wollte der Hirsch etwas Neues ausprobieren. Ohne Vorwarnung fiel er von Trab in leichten Galopp. Tom stieß einen erschrockenen Laut aus und klammerte sich wie ein Äffchen um seinen Hals. Doch zu seiner Verwunderung war der Galopp eine Gangart, in der er sich besser halten konnte als im Trab und eine, die mehr Spaß machte. Er lachte, während die Welt in einem Kaleidoskop bunter Farben an ihm vorbeirauschte. Das bedeutete es also, ein Reiter zu sein.

      An Schlaf war nicht zu denken, deshalb schüttelte der Junge den Kopf, als Astos vor seinem Haus stehenblieb, in dem alle Lichter aus waren, und deutete stattdessen auf die Villa nebenan. Astos schnaubte und klang belustigt.

      Griselbart war noch wach, als Tom klopfte. Er war zwar früher gekommen, als ausgemacht, aber das schien ihn nicht zu stören.

      „Kriegst wohl nicht mehr genug von der Magie, hm?“, brummte er und lächelte, wobei ein Dutzend neuer Fältchen um seine Augen entstand. Er trat einen Schritt zurück, um Tom und Astos über die Schwelle zu lassen. Der Junge blickte sich aufmerksam um. Bei den bisherigen Besuchen war so viel los gewesen, dass er sich nie richtig umgesehen hatte. Griselbart besaß eine Unmenge an Büchern, von denen die meisten verstaubt in den Regalen standen. Der Großteil der Möbel war aus dunklem Eichenholz, es gab ein Aquarium mit dunkelblauem Wasser darin und eine Vielzahl von Uhren, Waagen und Pendeln. Vielleicht sammelte Griselbart diese.

      Die anderen Wesen waren nach Hause gegangen, nur ein paar zurückgelassene Federn und Haarbüschel bewiesen, dass Tom nicht alles geträumt hatte.

      Griselbart führte ihn ins Wohnzimmer, wo zum Tee gedeckt war, und erzählte, dass Wachtposten in der Nähe stationiert waren, für alle Fälle. „Xerxes hatte vor allem das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Beim nächsten Mal würde er, denke ich, gegen eine Chipera den kürzeren ziehen. Außerdem könnte es sein, dass dann mehr als eine auftaucht. Früher gelang es ihnen nicht so einfach, in von Menschen besiedelte Gebiete zu kommen ...“ Er driftete ab, während er für sich und Tom eine Tasse Grünen Tees eingoss.

      Der Junge lud Astos' Geweih auf einem Schemel ab. „Ich wollte aus diesem alten Geweih einen Zauberstab machen. Denken Sie, das ist eine gute Idee?“

      Griselbart schien es erst jetzt zu bemerken.

      „Es ist sogar eine sehr gute Idee! Die Reiter im Norden machen das auch so. Sie zupfen eine Schuppe vom Hals ihres Drachen und benutzen ihn als Kern für ihren Zauberstab. Das erzeugt außergewöhnliche Magie. Ich selbst habe noch nie einen solchen Zauberstab gemacht, es ist also auch für mich das erste Mal.“