Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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Vor dem Fenster ging er in die Knie und lugte nur eine Handbreit über den Sims. Wie zu erwarten hatte der Nachbar erneut Besuch und wie gewöhnlich war der Gast eindeutig nicht menschlicher Natur. Das schwarze, in einen Umhang gehüllte Wesen, schwebte ein paar Handbreit über dem Boden. Anders als die sonstigen Besucher schien es seine Unnatürlichkeit nicht verbergen zu wollen und Tom wollte wetten, dass es auch unter seiner Kapuze kein vorgetäuschtes menschliches Aussehen angenommen hatte. Auf dem Rücken hatte es einen Buckel, der sich hin und wieder verschob und dabei den Mantel verrutschte als wäre er ein eigenständiges Körperteil, das sich frei bewegen ließ. Als es seinen Kopf drehte, um nach links und rechts zu sehen, ging Tom unwillkürlich weiter in die Knie; er wollte in seiner Spähposition nicht entdeckt werden. Beim Anblick dieser Kreatur fühlte er zum ersten Mal einen Anflug von Angst, anders als beim Elf oder beim Kobold, an denen er durchaus Gefallen gefunden hatte, bis sie angefangen hatten, einander umzubringen. Das gespenstähnliche Wesen auf dem Weg klopfte nicht und klingelte auch nicht, soweit es für Tom ersichtlich war. Dennoch öffnete sich die Tür zu Griselbarts Villa einen Spaltbreit, denn Licht fiel aus dem Inneren des Hauses auf die Veranda. Dann geschah alles ganz schnell: das fliegende Wesen fegte mit unnatürlicher Geschwindigkeit und einem schrillen Kreischen, das Tom die Haare zu Berge stehen ließ, durch die offene Tür; Krachen und Schreie ertönten, dann kamen weder Griselbart noch der Geist erneut zum Vorschein. Tom schluckte. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er die Vermutung, Griselbart würde angegriffen. Aber wenn er sich daran erinnerte, wie er mit dem Kobold umgesprungen war, hielt sich sein Mitgefühl in Grenzen. Weitere Kampfgeräusche drangen aus dem benachbarten Haus, das Rücken von schweren Möbeln, unterdrückte Schreie und Grunzer, dazu immer wieder die schrillen hohen Laute, die die Kreatur von sich gab. Hörte es denn niemand? Warum halfen Griselbart nicht die vielen Wesen, die er seine Freunde nannte, zum Beispiel der Werwolf? Aber Tom wusste instinktiv, dass Griselbart dem Ding ganz allein gegenüberstand. Er biss sich auf die Lippen. Sollte er helfen? Ein Laut erregte seine Aufmerksamkeit. Neben den Kampfgeräuschen gab es da noch ein anderes, das nicht recht passen wollte; es war das Winseln und Schaben eines Hundes, der mit den Krallen am Boden wetzte. Es schien aus dem oberen Stockwerk zu kommen. Tom wusste, dass Griselbart dem Angriff nicht lange standhalten konnte. Er vergaß seine Vorsicht und rannte aus dem Zimmer. Draußen schlug ihm kalte Nachtluft entgegen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Die Tür zu Griselbarts Haus war immer noch angelehnt und Tom konnte die Stimme des alten Mannes hören: „VERSCHWINDE! Antipipto! Zu Hilfe! Hört mich denn niemand?“

      Alle Warnsignale in den Wind schlagend, dass dies eine Falle sein könnte, rannte Tom zur Tür. Kurz vor der Treppe nahm das Schaben und Kratzen des Hundes einen Stockwerk weiter oben weiter zu und Tom fasste kurzerhand einen Entschluss. So leise wie möglich und mit wild klopfendem Herzen verschaffte er sich Zutritt ins Haus, dann wandte er sich nicht in Richtung Küche, wo der Kampflärm ertönte, sondern nach rechts, wo eine zweite Treppe lag. Um Griselbart stand es offensichtlich schlecht, seine Schreie hatten sich in schwache Ächzer verwandelt, während das ihn angreifende Wesen immer noch unerträglich hoch und schrill kreischte. Tom spurtete nach oben und gelangte in ein Zimmer, das merklich kühler war als der Flur. In einem Käfig lauerte ein Wesen, das Tom nur schemenhaft sehen konnte, aber er spürte anhand der Kälte und dem Flimmern, das in der Luft lag, dass auch dieses magisch war. Ohne zu überlegen, ging er vor dem Käfig in die Knie und schob den Riegel zur Seite. Zweimal verhakte er sich, ehe das Schloss mit einem Quietschen aufsprang. Das Geschöpf im Käfiginneren hielt sich nicht mit ihm auf, sondern raste die Treppe hinunter, so schnell, dass es zu verschwimmen schien, um seinem Herrn zu Hilfe zu eilen. Tom beeilte sich hinterherzukommen, doch mit dem Vierbeiner konnte er nicht mithalten. Er hörte das Wesen, mit dem Griselbart kämpfte, schreien, diesmal aus Angst und dann, gerade als Tom am oberen Treppenabsatz ankam, floh es Hals über Kopf aus der Haustür. Sein Anblick aus der Nähe war fürchterlich. Jetzt konnte Tom sehen, dass der Buckel auf dem Rücken in Wahrheit große, ledrige Schwingen waren und dass der Kopf dem eines Nagers ähnelte, wobei der Mund mit riesigen scharfkantigen Zähnen besetzt war; anstatt Augen prangten nur leere Höhlen im Schädel. Die Fledermaus - denn das schien sie zu sein - sah ihn, wie er da auf der Treppe stand - oder spürte sie nur seine Präsenz? - änderte die Richtung und flog auf ihn zu. Tom starrte in die leeren Höhlen, die, obwohl die Augäpfel fehlten, eine hypnotische Wirkung hatten. Als das Wesen ihn fast erreicht hatte, wandte er schließlich den Blick ab - er musste es tun, das fühlte er.

      Als er wieder hinsah, war der Geist verschwunden. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken und er merkte, dass er die Luft angehalten hatte.

      Mit zitternden Knien ging er weiter. Im Flur, der zum letzten Zimmer vor der Veranda führte, lag der heftig schnaufende Griselbart rücklings am Boden. Er blutete aus einer Wunde am Hals und tätschelte schwach das Wesen, das Tom aus seinem Käfig befreit hatte. Es war ein Hund, zumindest hatte es die Gestalt und die Schnauze eines Hundes, doch es wirkte wilder und ungezähmter mit zotteligen Haaren und einem größeren Kopf; auch über seinem Herzen glomm ein helles gelbes Licht. Vielleicht ein Wolfshybrid. Ein unbestimmbares Summen lag in der Luft, bis Tom an seinen Lippenbewegungen erkannte, dass der Hund mit Griselbart kommunizierte und ihm auf seine eigene Weise erzählte, was passiert war. Griselbart wandte den Kopf und sah Tom, wie er unschlüssig am Ende des Ganges stand.

      „Tom Winter!“ Seine raue Stimme klang ungläubig. „Xerxes hat mir gesagt, dass du gekommen bist. Ich konnte es nicht glauben.“

      Tom ging langsam auf ihn zu. Die Wunde am Hals sah schlimm aus, tief, noch ein wenig später und die riesige Fledermaus hätte ihn geköpft.

      „Was war das für ein Ding?“, fragte er leise.

      „Das war eine Chipera.“ Ächzend kam Griselbart auf die Füße, Xerxes, der Wolf, half ihm dabei, indem er ihn mit seiner Schnauze stützte.

      „Was ist eine Chipera?“, fragte Tom.

      „Ein Fledermausgeist. Einer von insgesamt sechs, glücklicherweise einer der schwächeren, und sie dienen allesamt Graf Skelardo.“

      Tom konnte mit dieser Information wenig anfangen. „Was können wir gegen Ihre Wunde tun?“

      „Ich habe vorerst ein Heilmittel. Es wird nicht genügen, weil die Wunde schwarzmagisch verseucht ist, aber für den Anfang reicht es.“ Griselbart humpelte ins Wohnzimmer, wo er den Geräuschen zufolge eine Schublade öffnete und darin herumkramte. Mit einer Tube in der Hand kehrte er zurück, deren Inhalt, eine grünliche verklumpte Paste, er sich großzügig auf die Wunde strich. Der Blutstrom versiegte augenblicklich und die Haut wuchs glatt zusammen, bis sie aussah wie zuvor.

      „Gegen innerliche Verletzungen hilft das natürlich nicht. Thalíng wird das heilen können, Hauptsache, es blutet nicht mehr.“

      Tom, der den Heilungsprozess staunend verfolgt hatte, fiel nichts ein außer: „Gut.“

      Griselbart seufzte und bedachte ihn mit einem langen Blick. „Die Chipera. Hatte sie Interesse an dir?“

      „Sie ist auf mich zugeflogen. Ich habe … “ Er wollte weggeschaut sagen, aber irgendwie klang das in dem Zusammenhang unsinnig und er verstummte.

      Griselbart schien ihn auch so zu verstehen. Er seufzte wieder. „Ich hab dir Unrecht getan, nicht wahr? In dir steckt viel mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.“

      Tom wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

      „Nimm Platz, ich hole die anderen und dann sehen wir, wie es weitergeht.“ Griselbart hob einen verschnörkelten Stock, den Tom bisher übersehen hatte, von einem Beistelltisch im Flur auf, wobei er murmelte: „Wäre ich an den rangekommen, hätte die Chipera nichts zu lachen gehabt.“ Er zeigte mit dem Stab an die Decke und murmelte die Worte: „Kataneuo.“

      Ein rotes Licht brach aus der Spitze des Stabes und schwebte durch die Decke, bevor Tom es erkennen konnte.

      „Was ist das?“, fragte er.

      „Ein Zeichen, es zeigt die Fahne der ersten Pforte und die Freunde, die es sehen, kommen zu meinem Haus.“

      „Leben die alle im Wald?“ Tom spähte aus dem Fenster im Wohnzimmer, ob er Bewegungen ausmachen konnte, aber der Garten lag verlassen und ruhig