Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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war das dunkle Glas des Fensters direkt vor ihm. Tom dachte schon einen Schritt weiter: wenn er sich vom Baum in die Nähe der Regenrinne hangeln konnte, könnte er aufs Dach klettern und dann wäre es ein Leichtes zur Rückseite des Hauses zu gelangen, wo er einen Blick in den Garten werfen konnte … denn dass dort die krummeren Dinge abliefen, war eindeutig.

      Doch in dem Moment, als er sich nach oben strecken wollte, erschien das Gesicht einer Bestie auf der anderen Seite des Fensters. Gelbe Augen mit Pupillen, die zu Schlitzen verengt waren, stierten ihn an, während riesige Fangzähne sich über rosafarbene Lefzen zogen. Es sprang vorwärts, das Maul weit aufgerissen und Tom sah in eine gähnende Weite aus Zunge, Rachen und bestialischen Zähnen.

      Ein Schrei des Entsetzens fuhr ihm über die Lippen und er verlor den Halt. Er segelte durch die Luft und es gab nichts, wo er sich hätte festhalten können, seine Arme griffen ins Leere. Hart prallte er auf der Seite auf, wobei alle Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er hörte Peer und Charlies erschrockene Schreie von der anderen Seite der Hecke, konnte aber nicht antworten, Sterne tanzten vor seinen Augen. Dann spürte er den Schmerz, betäubend und fordernd, der sich von seinen Schultern bis zur Hüfte ausbreitete. Am Rande seiner Wahrnehmung hörte er, wie die Haustür zu Griselbarts Villa aufging und er spürte die drohende Gefahr. Er keuchte.

      Oswald Griselbart kam die Treppe herunter gestampft, angelockt vom Heidenkrach, den der Junge veranstaltete. Als er Tom am Boden liegen sah, zogen sich seine dunklen Brauen zornig zusammen. Zornig - aber auch besorgt. Er war sehr groß und hatte einen dicken Bauch, den er in ein Samtjäckchen zwängte, seine Nase saß schief in seinem Gesicht und hatte einen kleinen Höcker; rundherum wucherte struppig ein grauer Vollbart.

      „Junge! Hast du dir was getan?“ Erstaunlich behutsam drehte er ihn auf den Rücken und blickte ihm ins Gesicht. Tom hatte keine Ahnung, wie er für ihn aussah - klein, blass, kränklich und jetzt auch noch mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht. Er wirkte nicht wie jemand, der einen Sturz aus drei Metern Höhe unbeschadet überstehen konnte.

      „Es geht schon“, murmelte er. „Ich bin runtergefallen … “

      „Was du nicht sagst“, sagte Griselbart, klang jedoch erleichtert. „Was fällt dir ein, auf meinen Baum zu klettern? Gerade du, der du nicht genug Kraft hast, ein paar Treppen zu steigen!“

      Tom war es gewohnt, bissige Kommentare wegen seiner Gesundheit zu hören und machte sich nicht viel daraus. Er murmelte etwas von wegen: „Sie wollten mir meinen Ball nicht zurückgeben, ich hab geklingelt“, aber es kam nur ein undefinierbares Brumpfeln aus seinem Mund. Er stöhnte, als etwas an seiner Seite schmerzhaft zu stechen begann.

      „Lass mich das ansehen.“ Griselbart schlug Toms Hand weg und untersuchte seine Rippen. „Nicht gebrochen“, sagte er brüsk. „Vielleicht geprellt, dein Vater wird wissen, was er zu tun hat. Ich sag‘ es dir im Guten, Junge, und ich sag‘ es nicht noch einmal, also hör mir zu.“ Seine kalten grauen Augen waren nur Zentimeter von Toms entfernt. „Steck deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten, wenn sie eine Nummer zu groß für dich sind. Ich werde Reginald hiervon natürlich unterrichten.“

      Er griff Tom unter die Arme, der schmerzerfüllt das Gesicht verzog. Die Warnung machte ihm nicht viel Angst. Griselbart wusste so gut wie er, dass Reginald selbst gern unbefugt Ländereien anderer Leute betrat, wenn er magische Aktivitäten darauf vermutete. Nur dass Tom sich in Gefahr begeben hatte, würde er nicht lustig finden, das Beste wäre wohl, wenn er sich eine andere Ausrede als den Fußball einfallen ließ …

      „Du wolltest deinen Ball haben?“, fragte Griselbart, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Hier, bitte sehr.“

      Er ließ etwas, das einmal Peers Ball gewesen war, in Toms Hände fallen. Und da geschah es wieder, eine laute, blecherne Stimme ohne jedwelchen Ursprung ertönte im Kopf des Jungen und zischte: „Nächstes Mal ist es dein Kopf!“ Bevor Tom mehr tun konnte, als ihm einen schockierten Blick zuzuwerfen, stampfte Griselbart ins Haus und warf die Tür zu.

      „Den Weg nach draußen findest du wohl allein!“, drang dahinter hervor.

      Tom saß da wie vom Donner gerührt. Der Ball, der vorher hart und aufgepumpt gewesen war, war flach und luftleer. Oben und unten wies er jeweils drei faserige Einstichlöcher auf, wie von großen Fangzähnen hineingestoßen. Wenn man bedachte, wie hart so ein Fußball für gewöhnlich war ... wie viel Beißkraft musste ein Tier dann aufbringen, um ihn so zuzurichten? Ein Tier … oder was sonst? Mechanisch ging Tom zurück zum Tor, das nun auf wundersame Weise nicht mehr verschlossen war. Charlie und Peer, die die letzten Minuten in einiger Panik verbracht hatten, liefen ihm entgegen.

      „Heiliger Strohsack, was ist mit dem Ball passiert?“

      „Ist Griselbart rausgekommen?“

      „Das war jedenfalls kein Messer!“

      Charlie wich ein paar Schritte vor Griselbarts Haus zurück. Sie war blass im Gesicht. „Ich weiß nicht, Jungs, mir wird langsam echt unheimlich zumute. Vielleicht sollten wir Griselbart in Ruhe lassen, wer weiß, was der da drin versteckt hält.“

      „Spinnst du?“, sagte Tom, der über ihre Worte allen Schmerz und Schock vergaß. „Morgen Abend schleiche ich mich von der anderen Seite her auf sein Grundstück. Ich weiß, dass die Hecke von Thalmayer nicht ganz so stark bewachsen ist wie die unsrige, weil sie vor kurzem Ungeziefer und sowas hatte, das hat mir mein Dad erzählt. Und dann werden wir schon sehen, was diesen Ball kaputtgemacht hat!“

      Er verabschiedete sich von Peer und Charlie und lauschte, wie ihre Schritte in der Dunkelheit verklangen. Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten umher wie Laub in einer frischen Brise und noch immer war das blaue Feuer in seinen Augen, das sein leichtes Humpeln wieder wettmachte. Er hatte eine Stimme gehört, irgendetwas oder irgendjemand hatte zu ihm gesprochen und auch Griselbart hatte zugegeben, dass seine Angelegenheiten „eine Nummer zu groß für ihn waren.“ Tom schnaubte. Das würde sich noch herausstellen.

      Der Junge überlegte gerade, wie er Reginald die blauen Flecke und Schrammen erklären sollte, als ihm etwas auffiel. Die Haustür zum Bernsteinweg sechs stand sperrangelweit offen, und, was noch viel ungewöhnlicher war, ebenfalls die Tür, die zum Keller führte. Es konnte schon mal vorkommen, dass Reginald in der Eile vergaß, die Haustür zu schließen, aber niemals die zu seinem Forschungslabor. Es gab keinen Zweifel: Seinem Vater musste etwas geschehen sein! Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte Tom die Treppe hinunter. Unten angekommen sah er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt; Reginald lag auf dem Boden, die Augen geschlossen, und rührte sich nicht. Im Hintergrund piepten mehrere Apparaturen, nichts ahnend, dass ihr Besitzer der Ohnmacht anheimgefallen war. Tom stürzte an seine Seite und rüttelte an seiner Schulter.

      „Dad! Papa, wach auf!“

      Es bedurfte nur ein wenig Schütteln, da schlug Reginald die Augen auf. Orientierungslos blickte er um sich und fasste sich mit der Hand an den Kopf, der offenbar wehtat. Er stöhnte. Da bemerkte Tom etwas.

      „Dad, der Kobold! Er ist weg!“ Dort, wo vor zwei Stunden das fantastische Wesen gelegen hatte, war nichts mehr zu sehen, die graue Arbeitsfläche des Tisches war leer. Zu seiner Überraschung lächelte sein Vater und sah plötzlich sehr erschöpft aus. „Die anderen, sie müssen ihn mitgenommen haben“, murmelte er, während er sich vorsichtig aufsetzte.

      „Wer? Andere Kobolde? Und dich haben sie überwältigt?“

      „Mit Magie außer Gefecht gesetzt, würde ich sagen.“

      „Kobolde beherrschen auch Magie?“

      „Oh ja. Es hat etwas mit diesem glühenden Licht direkt über dem Herzen zu tun. Ich war gerade dabei, das Geheimnis zu entdecken, ich wollte den Kobold nämlich sezieren.“

      Tom machte ein Geräusch, das seinen ganzen Ekel und Unglauben ausdrückte. „Dad, wenn die Kobolde das mitbekommen haben, hast du Glück, dass du noch am Leben bist.“

      Reginald stützte sich auf seinem Sohn ab, um auf die Füße zu kommen. Er schwankte bedrohlich. „Du hast Recht. Ich glaube, nur die Tatsache, dass ich öfters Nahrung und Arzneimittel