Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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wollen?“

      Reginald lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht. Nur weil ich jetzt weiß, dass sie existieren, heißt das nicht, dass ich nochmal einen finden werde. Dieser wurde durch Magie getötet, wie oft kommt das schon vor?“

      Tom zuckte die Schultern, ihm war mulmig zumute. Noch immer schwirrte sein Kopf von all den kuriosen Ereignissen und er wusste nicht, worüber er zuerst nachdenken sollte.

      „Aber Tom!“, sagte sein Vater, während sie gemeinsam die Treppen hinaufstiegen. „Was ist mit deinem Gesicht passiert? Es ist ja ganz grün und blau!“

      „Ich bin gestürzt“, murmelte Tom und wandte das Gesicht ab. Er wollte den enttäuschten Blick ins Reginalds Augen nicht sehen, der immer traurig wurde, wenn es um die schwache Gesundheit seines Sohnes ging. Natürlich ließ er ihn in dem Glauben, dass er umgeknickt oder eine Treppe hinunter gefallen war. Griselbart würde ihm vielleicht so schnell nicht begegnen, sodass der Moment der Wahrheit noch ein wenig hinausgezögert werden konnte.

      Zum Glück fragte Reginald nicht weiter nach und war damit zufrieden, dass Tom ihn auf einem Stuhl in der Küche ablud. Er seufzte. „Ich werde wohl oder übel Professor Specht Bescheid geben müssen, dass sich mein Jahrhundertfund in Luft aufgelöst hat. Er wird nicht erfreut sein.“

      Griselbarts Villa

      Charlie versuchte während des gesamten nächsten Vormittags, Peer und Tom ihr Vorhaben auszureden. Sie tauschte vorsätzlich ihren Sitzplatz mit Paulina, sodass sie neben Tom saß und ihm ihre Warnungen ins Ohr flüstern konnte. Das sorgte für einigen Wirbel in der Klasse und die Mädchen, die eine Reihe vor ihnen saßen, drehten sich nach ihnen um und kicherten. Ihrer Ansicht nach war es höchst erstaunlich, dass ausgerechnet die unnahbare Charlie Rottint Interesse am Winterjungen zeigte, der wieder einmal aussah, als hätte er die ganze Nacht in einer Tiefkühltruhe verbracht mit dem papierweißen Gesicht und den dunklen Augenringen.

      Aber Charlie warf ihre langen Haare zurück und ignorierte sie.

      Zu Tom sagte sie: „Ich wäre mir gar nicht so sicher, ob das überhaupt ein Zauberwesen war, das den Ball zerstört hat. Vielleicht hat Griselbart mit einem Messer hineingestochen, weil er dich in sein Haus locken will.“

      „Unsinn“, zischte Tom zurück, denn die erste Stunde (Erdkunde) hatte bereits angefangen. „Er setzt ja gerade alles daran, dass ich nicht hineinkomme, außerdem war das Loch scharfkantig und ein Messer würde glatte Schnitte ergeben.“

      „Warum bist du so überhaupt scharf drauf, deinen Hals zu riskieren? Was hast du davon, wenn er seinen Monsterhund auf dich los hetzt oder was auch immer du da drin gesehen hast? Ich bezweifle, dass du dich dagegen verteidigen kannst!“

      Natürlich hatte sie Recht, aber das war nicht, worum es Tom ging. Während alle ihre Atlanten aufschlugen, schüttelte er den Kopf und flüsterte: „Ich möchte es einfach wissen, vielleicht plant er ja auch einen Monsterangriff auf die ganze Menschheit und es ist meine Pflicht, alle zu warnen!“

      „Monsterangriff! Mach dich nicht lächerlich, Griselbart gehört zu den Guten.“

      „Was soll das denn jetzt wieder heißen?“

      Charlie machte den Mund auf, um zu antworten, aber Peer, der auf Toms anderer Seite saß, kam ihr zuvor: „Du kannst ihn nicht umstimmen, Charlie, und mich auch nicht. Die ganze Sache ist einfach zu … wichtig, als dass wir rein gar nichts unternehmen könnten.“

      „Zu wichtig? Was könnte wichtiger sein als die Landflucht in Südafrika?“ Herr Aßbeck, der Erdkundelehrer, war hinter ihnen aufgetaucht und klopfte ungeduldig auf den aufgeschlagenen Atlas.

      „Tom, könntest du bitte mal das Schaubild erklären?“

      „Ähm … “

      Ein paar Schüler lachten, als er erst noch das richtige Diagramm suchen musste und dann sehr stockend mit der Interpretation begann.

      „Vielleicht sollte Charlotte sich in der nächsten Stunde wieder auf ihren ursprünglichen Platz setzen, wenn sie euch zwei so ablenkt.“ Herr Aßbeck ging nach vorn zum Pult und hinter seinem Rücken drehten sich einige Schüler um und grinsten.

      Tom schaute mit glühendem Nacken zur Tafel und versuchte, die Blicke zu ignorieren. Glücklicherweise ließ Charlie es für den Rest der Stunde bleiben, ihm Warnungen einzuflüstern.

      Gegen Mitternacht huschte Tom die Treppen hinab, Taschenlampe und Rucksack in der einen, Klappmesser in der anderen Hand. Reginald war im Labor mit - wie es klang - Bohrarbeiten beschäftigt und hörte es nicht, als die Tür ins Schloss fiel.

      Zwei Gestalten warteten an der Wegkreuzung, als Tom sich ihr näherte; die etwas kleinere und schmächtige Peers und die große elegante Charlies. Wie verabredet waren sie ganz in Schwarz gekleidet, um in der Nacht nicht aufzufallen.

      Ein Käuzchen über ihren Köpfen stieß einen leisen Schrei aus und unwillkürlich bekam Tom eine Gänsehaut. Er bemühte sich, seine Nervosität mit einem Grinsen zu verstecken.

      „Hey“, sagte er.

      „Was ist der Plan?“, fragte Charlie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Der Rollkragen ihres Pullovers verbarg fast die gesamte untere Hälfte ihres Gesichts, nur ihre Augen waren deutlich erkennbar. Sie hatte bemerkenswert lange Wimpern, fiel Tom auf, selbst für ein Mädchen.

      Er händigte jedem ein Messer und eine Taschenlampe aus, welche er zuvor aus Reginalds Küchenschublade entwendet hatte. „Wir versuchen von Thalmayers Grundstück aus durch Griselbarts Hecke zu kommen.“

      „Das dürfen wir nicht“, sagte Charlie prompt.

      „Du musst ja nicht mitkommen.“

      Peer war nicht schwer zu überzeugen. „Lass uns endlich rausfinden, was da los ist!“

      Das Mädchen seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich habe euch gewarnt, Jungs. Beschwert euch nicht bei mir, wenn ihr nachher erwischt werdet!“

      „Wir sagen natürlich, es war deine Idee“, grinste Tom.

      Zusammen marschierten sie los, an Griselbarts Villa vorbei, zu dem kleinen von Weißtannen gesäumten Bauernhof am Ende des Bernsteinwegs, der Hektor Thalmayer gehörte. Die Nacht war windstill und sehr warm und der wolkenlose Himmel gab den Blick auf den zunehmenden Mond frei. In einem der unzähligen Ratgeber Reginalds hatte Tom einmal gelesen, die Zeit des zunehmenden Mondes wäre ideal für Unternehmen jeglicher Art, da man über mehr Leistungskraft und Ausdauer verfügte. Und tatsächlich ging er leichtfüßigen Schrittes und mit vor Wachsamkeit leuchtenden Augen.

      Hektor Thalmayer, ein siebenundsechzigjähriger Farmer, der nie verheiratet gewesen und nie einem Beruf außerhalb der Landwirtschaft nachgegangen war, galt in Glöckerlstadt als Kinderschreck. Er besaß einen scharfen Rottweiler namens Josef, den er in unregelmäßigen Abständen fütterte, und es war allgemein bekannt, dass er nicht davor zurückschreckte, ihn auf ungebetene Eindringlinge loszulassen. Das alles wussten die Freunde, deshalb flüsterte Tom: „Leise jetzt!“, ehe er durch ein Loch im Zaun schlüpfte.

      Der schwierigste Teil des Unterfangens bestand darin, unbemerkt an Thalmayers Schlafzimmerfenster vorbei zu schleichen, denn trotz seines fortgeschrittenen Alters verfügte er über ein ausgezeichnetes Hörvermögen. Charlie verhakte sich kurz an einem vorstehenden Draht, aber sie riss kurzerhand ein Loch in ihren Pullover und gab den anderen einen Wink weiterzugehen. Danach lief alles glatt, bis sie etwa bei der Mitte des Bauernhauses angekommen waren, als Peer, der als letzter ging, gegen eine angelehnte Mistforke stieß. Diese fiel um, aber als hätte das nicht gereicht, traf sie beim Hinfallen eine Schubkarre, ein blechernes Scheppern ertönte, das noch einige Zeit nachhallte. Den drei Kindern blieb das Herz stehen; dann brach der Hund im Inneren des Hauses in zornentbranntes Kläffen aus und sprang kratzend und jaulend die Wände hoch.

      „LAUFT!“, rief Tom. Ohne nach links und rechts zu sehen, stürmten sie die Hecke entlang, darauf bedacht, so viel Abstand wie möglich, zwischen sich und