Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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Dad, ich treff mich heute mit Peer zum Lernen.“

      Reginald nickte und sah wieder so besorgt aus wie am Morgen.

      Im Klassenzimmer zeigte Tom Charlie die kalte Schulter, während er mit Peer stillschweigend zu dem Entschluss gekommen war, kein Wort über das Erlebte zu verlieren. Nur Peers Augenringe ließen vermuten, dass er die Nacht ebenso schlecht geschlafen hatte. Die ersten beiden Stunden Mathematik vergingen im Schneckentempo und ließen ihn kaum Ablenkung finden. Zwischen acht Uhr dreißig und acht Uhr fünfzig schlenderte er allein über den Schulhof und ging den Grüppchen von Schülern, die ihn kannten, gezielt aus dem Weg. Ihm war nicht der Sinn nach einem Gespräch. Nach der Pause wartete Charlie vor dem Klassenzimmer und bat Tom um ein Wort unter vier Augen. Er stimmte zu, wenn auch widerwillig.

      „Tom, ich schwöre, es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest, aber es ist besser, wenn du dich aus allem heraushältst.“ Sie hatte die Arme verschränkt, in der Hoffnung, ruhig zu wirken, aber die Farbe auf ihren Wangen verriet sie.

      Vielleicht hatte Tom auf eine Erklärung gehofft, vielleicht auf eine umfangreichere Entschuldigung, jedenfalls wurde er ob dieser Worte wütend. „Keine Sorge, ich werde keinen Fuß mehr in die Richtung dieser irren Vereinigung setzen!“, zischte er.

      „Sie sind nicht so schlimm, wie du denkst.“

      „Jaah, klar“, schnaubte Tom.

      Charlie schwieg einen Moment und schaute auf ihre Schuhspitzen. „Wir können trotzdem noch Freunde sein, Peer, du und ich.“

      Tom schnaubte wieder. „Du hast uns tagelang angelogen, bis zum Schluss hast du uns nicht gesagt, was los ist.“

      „Ich konnte nicht, Tom-“

      Er sprach lauter, um sie zu übertönen. „Peer und ich werden nicht so tun, als hätten wir nichts gesehen, wir werden ihre dunklen Machenschaften nicht unterstützen!“

      „Wir betreiben keine schwarze Magie, Tom, wir gehören zu den Guten!“

      Das gleiche hatte sie über Griselbart gesagt. „Immer lügst du!“, fauchte er und im offen stehenden Klassenzimmer wurde es schlagartig still; jeder war interessiert an plötzlich auf- und abbrandenden Liebeleien von Klassenkameraden und der damit verbundenen Möglichkeit, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Tom musste sich Mühe geben, seine Stimme zu senken, während ihn Paulinas und Chiaras Blicke durchbohrten. „Ihr habt den Kobold umgebracht, vielleicht beide, und das ohne richtigen Grund, ich kann das nicht einfach vergessen!“

      „Es ist alles ganz anders, als du denkst.“

      „Dann erklär's mir! Sag mir, wie es wirklich ist.“

      „Das geht nicht, Tom, ich darf nicht-“

      Er schüttelte ungeduldig den Kopf. „Du glaubst also, wir reden einfach nicht mehr darüber, vergessen das alles und dann wird alles wieder so wie früher?“

      Charlie machte den Mund auf und schloss ihn dann wieder. Es war klar, dass sie Ja sagen wollte.

      „Tut mir leid, das mach ich nicht, ich glaub es wär am besten, wenn du mich einfach in Ruhe lässt, Charlie.“

      Eine Hand zwischen seinen Schulterblättern brachte ihn zum Verstummen, Herr Tissarek, der Deutschlehrer, war von hinten auf sie zu getreten und schob sie vor sich her ins Klassenzimmer. „So jung und schon Beziehungsstress“, sagte er, dass die ganze Klasse es hören könnte. „So gern ich euren Problemchen lauschen möchte, empfehle ich euch, die Unterhaltung nach der Stunde fortzusetzen. Gib nicht gleich auf, Charlotte, er wird seinen Groll schon hinunterschlucken.“

      Die ganze Klasse, Peer ausgenommen, lachte. Tom ging rauchend vor Zorn zu seinem Platz und schwor sich, von jetzt an nie wieder ein Wort mit Charlie Rottint zu wechseln.

      Die nächsten Tage verliefen ereignislos, Tom gab vor, nicht zu wissen, dass das Haus nebenan existierte, sein Vater machte keine weiteren Koboldfunde und Charlie hatte nach mehreren fruchtlosen Versuchen, ihn versöhnlich zu stimmen, aufgegeben. Peer hatte ihr größtenteils verziehen, sie betrachteten jetzt wieder Schmetterlinge unter dem Mikroskop, aber Tom wollte nichts davon wissen.

      „Die töten sich gegenseitig, Peer, und wer weiß, ob du Charlie überhaupt trauen kannst. Vielleicht soll sie für ihre Vereinigung Menschen auskundschaften und du bist der erste, der dran glauben muss. Hat sie dir schon irgendwas Neues erzählt?“

      Peer verneinte. Und solange das so blieb, hielt Tom an seinem Standpunkt fest.

      Nur in seinen Träumen holte ihn das Erlebte wieder ein. Meist wusste er am nächsten Morgen nicht mehr, worum es ging, nicht so in dieser Nacht.

       Tom wanderte eine einsame Straße entlang. Es war die Fußgängerzone der nächst größeren Stadt Waldkirchen am Wesen, wo er bereits das ein oder andere Mal gewesen war. Außer ihm war keine Menschenseele unterwegs und Tom betrachtete interessiert die Schaufensterauslagen. Bei einem Antiquitätengeschäft, das kleine Modelle vom Mond und von der Sonne anbot, blieb er stehen und verfolgte mit dem Blick die Kurven und filigranen Details auf den silbernen und goldenen Figuren.

       Da bemerkte er die Gegenwart eines weiteren Wesens und er schaute auf. Vom Ende der Straße kam ein silbernes Licht auf ihn zu und sein Herz machte einen Hüpfer. Er hatte ihn sofort erkannt, es war der Hirsch, der ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen besuchte. Tom lächelte zaghaft. Die braunen Augen schauten ihn mit der für sie typischen Ruhe an und schienen wie immer tiefere Geheimnisse zu bergen.

       Tom erinnerte sich, wie er vor den magischen Tieren und auch vor dem Hirsch geflohen war und fühlte das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Hier in diesem Traum kam ihm sein Verhalten plötzlich feige und falsch vor. Was war geschehen, dass er das Heil in der Flucht gesucht hatte? Er konnte sich nicht erinnern.

      „Du verschließt dein Herz vor der Magie“, sagte der Hirsch und es klang wie ein Anklage.

      „Ich … “ Tom wollte erklären, aber ihm fiel kein einziger Grund ein. Mit großen dunkelblauen Augen schaute er den Hirsch an.

      „Bald wird es zu spät sein. Die Schatten werden länger und die Sterne stehen nicht mehr lange in einer günstigen Konstellation.“ Der Hirsch blickte über die Schulter und Tom war, als sähe er einen dunklen Schatten, der sich vom anderen Ende der Fußgängerzone her auf sie zu bewegte. Die Ohren des Hirsches flackerten nervös.

       Tom machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Er hatte das Gefühl, wenn er ihn nur einmal berühren könnte, würde sich der Nebel in seinem Kopf lösen und er könnte besser verstehen.

       Aber der Hirsch wich zurück und seine Hufe klackerten auf dem Asphalt. Um sie herum wurde es dunkler.

      „Verschließe dein Herz nicht länger, junger Freund“, raunte der Hirsch jetzt eindringlicher. „Lass dich nicht von Ängsten blenden, sondern sei mutig! Die Schatten kommen.“

       Tatsächlich umfing die Dunkelheit den Hirsch mit einer solchen Gnadenlosigkeit, dass Tom aufschrie. Kurz noch kämpfte das silberne Leuchten mit den Schatten, versuchte sich herauszuwinden, aber dann ging es aus, wie eine Kerzenflamme, die der Wind ausgeblasen hatte.

      Tom stieß einen weiteren Schrei aus und wachte auf.

      Sondern sei mutig! Er konnte den Satz nicht aus seinen Gedanken verbannen. Er drehte sich auf die Seite und knüllte das Kissen zusammen. Er wollte mutig sein.

      Zwei Tage waren seit dem Traum vergangen. Am Donnerstagabend saß Tom in seinem Bett und wiederholte ein Kapitel aus seinem Matheschulbuch; es ging um Winkelsummen im Dreieck. Gegen halb zehn, als er sich überlegte, früher schlafen zu gehen, bemerkte er, wie es in seinem Zimmer schlagartig kälter wurde. Mitte Juli war er es gewöhnt, nur im T-Shirt herumzulaufen, aber jetzt überkam ihn eine Gänsehaut. Er packte seine Schulsachen weg und zog eine Jacke über. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, dass irgendetwas im Gange war. Er warf einen argwöhnischen Blick zum Fenster. Konnte es wieder