Nicole Wagner

Tom Winter und der weiße Hirsch


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klaren, eindeutig weiblichen Stimme. „Wenn sie uns entdecken, ist es unsere Pflicht, sie aus unserer Welt zu verbannen. So lautet der Kodex. Jedes Leben ist wertvoll … Und - es ist Isabellas Sohn, Kobrat!“

      Der Hippogreif, der vor ihr gelandet war, riss den Schnabel auf und kreischte, eine gespaltene Zunge und ein roter, tief liegender Rachen kamen zum Vorschein. Er bewegte sich nicht weiter auf sie zu, als hielte ihn eine unsichtbare Barriere davon ab. Er schüttelte unwillig den Kopf und trat dann ein paar Schritte zurück.

      Tom schluckte. Sein Herz hämmerte mittlerweile wie wild.

      Dann schob sich ein Wesen aus der hintersten Reihe nach vorne, es überragte die anderen um ein Vielfaches, und bewegte sich schleichend, fast lautlos. In die rot glühenden Augen hatte Tom erst am vergangenen Abend geblickt, jetzt sah er die Gestalt ohne Mantel und erschrak. Es war eindeutig ein Wolf, aber riesig, mit dem Körperbau eines ausgewachsenen muskulösen Mannes und einem Gesicht, das vollkommen haarig war und in einer langen zähnebewehrten Schnauze endete. Am schlimmsten waren die roten Augen, die sich in Toms bohrten und es ihm unmöglich machten, den Blick abzuwenden. Unbändige Kraft sprach aus seinen fließenden Bewegungen.

      „Der Mensch weiß zu viel“, sagte das Wesen zischend, wobei seine Zunge gegen die Zähne schlug. Es war offensichtlich, dass er sich für gewöhnlich einer anderen Sprache bediente. „Ich kann mich darum kümmern.“

      Toms Gedanken rasten. Ein Werwolf!

      „Schon gut, Kuru“, sagte Griselbart und streckte einen Arm aus, wie um ihn zurückzuhalten. „Und du auch, Feydra. Wir werden das Problem aus der Welt schaffen.“

      Die Elfe gab ihre Kriegerstellung auf und trat wieder ein paar Schritte zurück zu den anderen Wesen, dabei sah sie aus, als würde sie über das Gras tanzen.

      Griselbart blickte die Jungen mit unnachgiebigen Augen an. „Tom und Peer wollen etwas von unserer Magie haben, sie leben in der verblendeten Vorstellung, dass sie Anspruch darauf haben. Also lasst uns ihnen etwas davon geben.“

      Nicht nur ein Wesen zischte angriffslustig bei diesen Worten. Der weiße Hirsch machte eine Bewegung, als wollte er dazwischengehen, doch er besann sich.

      „Wir werden die Kobolde opfern, sie sind am wenigsten wert, Thalíng und Kuru, ihr übernehmt die Schlachtung.“

      Tom meinte, er müsste sich verhört haben. Die Kobolde brachen in aufgebrachtes Quietschen aus, doch ehe sie etwas tun konnten, wurden sie von dem dunklen Elf und dem Werwolf gepackt. Mit ausgebreiteten Pfoten platzierte man sie vor dem Halbkreis der Zuschauer und ignorierte ihr verzweifeltes Strampeln. Der Wolf bohrte seine Krallen in den Oberarm des Kobolds, der ein Wimmern von sich gab. Der Elf zückte einen Zauberstab und hielt ihn dem Kobold vor die Brust. Es war der mit dem grünen Licht über dem Herzen.

      „Wartet“, sagte Tom langsam. Wenn sie wirklich das vorhatten, was er glaubte …

      Griselbart ließ ihn nicht ausreden. „Natürlich werden wir unsere Magie einem Menschen geben, wenn er danach verlangt. Die Kobolde sind nicht würdig, sie zu besitzen.“

      „Ich-“, sagte Tom.

      „Das ist, was du dir wünschst.“ Griselbart nickte.

      Der Elf schrie einen Zauberspruch, lila Licht blitzte auf; der Kobold quietschte, dann sank er in sich zusammen, die Glieder erschlafft.

      „NEIN!“, schrien Tom und Peer gleichzeitig. Sie warteten darauf, dass der Kobold aufsprang und kicherte, einen Scherz mit ihnen trieb, aber die vollkommene Bewegungslosigkeit, in der er verharrte, weder ein Lid, noch ein Muskel zuckten, konnte nicht gespielt sein. Das grüne Licht über seinem Herzen war verloschen.

      „Und jetzt der andere!“, befahl Griselbart.

      Der Elf wandte sich dem wimmernden, übrig gebliebenen Kobold zu und packte ihn an der Schulter, um ihn in eine stehende Position zu hieven. Er richtete seinen Zauberstab auf das rote Licht.

      Tom hatte genug gesehen. Die Starre, die seine Glieder überfallen hatte, löste sich. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte über die Veranda in Griselbarts Haus, so schnell er konnte. Verschwommen nahm er zu seiner rechten war, wie der weiße Hirsch einen zögerlichen Schritt auf ihn zu machte, aber der Junge rannte nur noch schneller. Er drehte sich noch einmal um, um zu sehen, ob Peer ihm folgte. Hinter ihm im Gras lag der tote Kobold, der zweite, den er in zwei Tagen zu Gesicht bekam.

      „Dies ist die Straße der Magie, Tom!“, wehte Griselbarts Stimme hinter ihnen her. „Überlege, ob sie das ist, was du dir wünschst!“

      Die beiden Jungen verließen das Haus, warfen sich einen wilden Blick zu, dann rannten sie ohne ein Wort des Abschieds in verschiedene Richtungen davon. Nach Charlie sah niemand, auf eine Verräterin konnte man getrost verzichten.

      Die Chipera

      Das Erlebnis hatte gravierende Auswirkungen auf Toms Gesundheit. Sein Vater fand ihn gegen Morgengrauen in seinem Bett liegend und ein Blick in sein Gesicht genügte, um ihn in Alarmzustand zu versetzen. Das Funkeln, das er darin seit ein paar Tagen mit Wohlwollen beobachten hatte können, war verschwunden.

      „Ich rufe die Schule an“, war sein erster Kommentar. „Du gehst heute nicht.“

      Zuerst war Tom versucht, dem Befehl nachzugeben. Aber dann trat ihm ein Bild vor Augen, das Bild, wie Charlie sich mit Griselbart darüber lustig machte, dass er sich zuhause verkroch und Angst hatte, einem von ihm zu begegnen. Er würde es nicht auf sich sitzen lassen, ein Feigling genannt zu werden.

      Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Ich hab nicht viel Schlaf bekommen“, sagte er. „Mir war zu heiß.“

      „Tom, du siehst … schlimm aus“, sagte Reginald besorgt.

      „Es ist nichts.“ Er stand auf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann fiel ihm etwas ein. „Hey, Dad?“

      „Ja?“

      „Hatte meine Mutter gesundheitliche Probleme?“

      „Deine Mutter?“

      Tom wartete.

      „Ähm ja, hatte sie. Genau das gleiche wie du. Schlafprobleme, Appetitlosigkeit, Depressionen …“

      „Ich hab keine Depressionen.“

      „Natürlich nicht.“

      Tom merkte, welch große Sorgen sein Vater sich um ihn machte und wie sehr er seine Mutter vermisste und fühlte sich schrecklich schuldig.

      Doch er sagte nur: „Komm, fahren wir zur Schule.“

      Sie stiegen in den roten, halb vermoderten Chevrolet Pickup, den Reginald sein Eigen nannte. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fragte Tom ihn, ob die neueste Ausgabe von „Paranormaler Wissenschaft“ angekommen war, da er wusste, dass Reginald die Zeitschrift jeden Mittwoch beim Frühstück verschlang.

      Bereitwillig erzählte Reginald, wie Chinchillas vor knapp fünf Jahrhunderten von einem anderen Planeten auf die Erde kamen - dafür gab es zahlreiche Beweise und Augenzeugenberichte - und Tom musste nichts weiter tun, als zu nicken und zuzustimmen. Er hörte nicht wirklich zu, er dachte an seine Mutter. Die Elfe hatte ihren Namen erwähnt und ihm damit einigen Stoff zum Nachdenken gegeben. Die Zauberwesen hatten Isabella gekannt. War sie eine von ihnen gewesen? Und ihr Tod vor acht Jahren - war es vielleicht kein gewöhnlicher Autounfall gewesen? Er wusste, dass sein Vater Selbstmord vermutete; dass ihre Depressionen schuld gewesen seien. Tom war sich nicht mehr so sicher. Nach allem, was er gesehen hatte, konnten Griselbart, Kuru und Thalíng etwas damit zu tun haben. Und er wusste, dass es seine Pflicht war, die Wahrheit herauszufinden.

      Der rote Pickup hielt vor der Schule und sein Vater öffnete seine Tür.

      „Bis nachher! Was hältst du davon, wenn wir am Nachmittag im Wald nach einem Koboldbau suchen, nur wir beide?“, fragte Reginald mit leuchtenden Augen.

      Tom zuckte zusammen, aber nicht, weil gerade drei Zehntklässler an ihm