Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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wirst“, antwortete Annie wie aus der Pistole geschossen.

      „Siehst du“, freute sich ihr Grandpa mit gutmütigem Lächeln, „du ahnst es. Das nennt man Intuition.“

      „Du isst jeden Tag einen Apfel. Also weiß ich es ja.“

      „Das war nur ein Beispiel.“ Er stupste sie an die Nase. Das tat er oft. „Eines Tages wirst du eine Wissenschaftlerin sein, so viel wie du hinterfragst.“ Herzlich lachte er auf. Annie schaute ein wenig ängstlich auf sein gelbes Gebiss, das ihm schon einige Male beim Lachen aus dem Mund gefallen war. Beim ersten Mal hatte sie laut aufgeschrien, so sehr war sie dabei erschrocken. Doch ihr Grandpa hatte ihr erklärt, was es damit auf sich hat. So, wie er ihr ständig alles erklärte. Er wusste einfach alles.

      „Ich möchte keine Wissenschaftlerin werden, wenn ich groß bin“, stellte Annie klar. „Lieber will ich so sein wie du.“

      „Das ehrt mich, mein Schatz.“ Er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. „Wenn du groß bist, solltest du jedoch so sein, wie du bist.“

      „Kann ich wenigstens das machen, was du tust?“ Sie kuschelte sich an sein Flanellhemd mit dem Karomuster. Seit sie ihn kannte, trug er solche Hemden in allen Farben.

      „Dem steht nichts im Weg. Es würde mich sogar unendlich stolz machen, wenn du mein Geschäft eines Tages übernehmen würdest.“ Plötzlich klang seine Stimme, als hätte er Schnupfen.

      „Das mache ich, versprochen.“ Annie schaute zu ihm hoch. Seine Augen waren nass. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Oder war er traurig, weil sie ihre Zwillingsschwester nicht in ihre Pläne einbezogen hatte? „Sandy und ich werden zu Cornwalls berühmtesten Schmuckmacherinnen, Grandpa“, versicherte sie sogleich.

      „Schmuckdesignerinnen“, verbesserte er sie und blickte aus dem Fenster. Von hier aus hatte man einen weiten Blick auf die Bucht und die Klippen. „Sandy wird vermutlich eine Surfschule eröffnen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie mit dem Brett irgendwann zusammenwachsen würde.“

      Annie stellte sich das bildlich vor. „Geht das denn?“

      Lachend küsste er sie auf die Stirn. „Das war nur eine Metapher.“ Auch das zeichnete ihren Grandpa aus. Er kannte Worte, die diese Welt mit Sicherheit noch nie gehört hatte. Annie sparte sich jedoch eine genaue Nachfrage, weil es sich wahnsinnig kompliziert anhörte. „Ich möchte dir gerne etwas zeigen, Annie. Ein Versteck, das nur deine Grandma kannte“, wurde er plötzlich ernst und ließ sie los. Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Großvater erhob sich und schob den Sessel weg. Dann bückte er sich ächzend und beugte sich unter den Werktisch hinein. Annie setzte sich auf die Knie und schaute gespannt dabei zu, wie er ein loses Dielenbrett anhob. Eine kleine Holzkiste mit einem Herzschloss kam zum Vorschein, die er herausnahm und vor sie hinstellte. Andächtig blickte Annie darauf und war stolz, dass er dieses Geheimnis mit ihr teilte. Umso neugieriger war sie, was sich darin befand. Vielleicht ein Schatz?

      Ihr Grandpa zog die Schublade neben sich auf, holte einen roten Schlüssel heraus und kurz darauf entfernte er das Schloss. Als er den Deckel des Kästchens öffnete, hielt Annie die Luft an – um sie gleich darauf förmlich aus sich heraus zu pusten.

      „Da ist ja gar nichts drin“, stellte sie enttäuscht fest.

      „Richtig. Trotzdem ist sie wertvoller als alles andere. Das gilt ebenso für das Herzschloss. Weißt du, beide Dinge haben eine große Bedeutung für mich.“ Sein Blick wurde abwesend, als wäre er auf einmal woanders. „Vor vielen Jahren besuchte ich einen Markt in Redruth. Auf einmal sah ich bei einem Stand etwas leuchten, das mich förmlich angezogen hat. Es war dieses Herzschloss.“ Mit seiner von Adern durchfurchten Hand glitt er vorsichtig darüber, als hätte er Angst, es kaputt zu machen. „Die Verkäuferin behauptete, dass das Herzschloss magische Kräfte hätte und ich kaufte es, obwohl ich nie an sowas geglaubt habe. Bis ich mich umdrehte und es mir aus der Hand fiel. Eine junge Frau mit blonden Zöpfen bückte sich, hob es auf und streckte es mir lächelnd entgegen. Es war deine Großmutter Olivia, in die ich mich sofort verliebte.“ Annie hörte diese Geschichte zum ersten Mal. Wie verzaubert saß sie da und dachte an Grimms Märchenbuch, aus dem ihr die Mutter manchmal vorlas. „Daraufhin schrieb ich deiner Grandma einige Briefe, die sie in diesem Kästchen aufbewahrte. Wie einen Schatz, den man hüten muss.“ Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. „Du hast sie nie kennengelernt, Annie. Das ist sehr schade. Deine Granny war eine wundervolle Frau, die mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt hat.“

      Annie schaute auf die Kiste. „Wo sind die Briefe, Grandpa?“

      Er seufzte. „Olivia wollte sie bei sich haben, als sie uns für immer ver…, ach, lassen wir das. Für solche Dinge bist du zu klein. Jedenfalls ist das Kästchen leer und wartet darauf, dass es erneut gefüllt wird. Vielleicht liegt irgendwann wieder ein Brief darin. Für dich und Sandy, der ich das Versteck natürlich ebenfalls zeigen werde.“

      „Ein Brief?“ Mit großen Augen schaute Annie ihn an. „Nur für uns?“

      „Ja, Kleines, nur für euch und bevor du fragst: Ich verrate dir nicht, warum, wieso, weshalb und überhaupt. Manches muss man erwarten können. Und falls es dich tröstet: Ich habe selbst keine Ahnung, was ich euch schreiben werde. Nur, dass ich es mache ist so sicher wie das Amen im Gebet.“ Stürmisch umarmte sie ihn, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Lachend drückte er sie an sich, bis sie schließlich das Kästchen versperrten und ins Versteck zurücklegten. Danach arbeitete ihr Grandpa wieder am Medaillon weiter.

      Fasziniert schaute Annie ihm dabei zu, wie er den Stein in die erhabene Fassung einsetzte, die von Muschelornamenten umgeben war. Sie konnte sich kaum sattsehen. Nachdem er es neben den Brennofen gelegt hatte, kümmerte er sich um den Silberring für Minnie. Seine Skizze dazu hatte er Annie vor ein paar Tagen gezeigt. Die gefiel ihr eindeutig besser als das, was ihr Grandpa jetzt machte, denn Minnie hatte den gesamten Entwurf geändert. Nachdem sie das Geschäft verließ, hatte ihr Grandpa mit sich selbst geschimpft. Annie konnte ihn kaum verstehen. Nur Wortfetzen wie Nullachtfünfzehn und Der Kunde ist leider König. Jetzt bildete ein ovaler blauer Saphir den Mittelpunkt. Rundherum setzte er blätterförmig Zirkonia-Steine. Dabei schaute er ständig auf seine antike Armbanduhr mit dem beigen Gehäuse und dem braunen Lederband. Ob er sie gleich nach Hause schicken würde? Eigentlich hätte sie sich längst um ihre Hausaufgaben kümmern müssen, doch die konnten warten. Zur Not würde sie morgen vor der Schule von Lance abschreiben. Das taten sie und ihre beste Freundin Josie öfter.

      „Sollen wir ein Eis essen gehen?“, erkundigte sich ihr Grandpa und betrachtete grimmig sein Werk. „Mit viel Schokolade? Das ist gut für die Nerven.“

      „Au ja!“ Annie klatschte in die Hände und spazierte kurz danach mit ihrem Großvater entlang der Quay Road zum Breakers Beach Café hinunter. Die Trevaunance Bucht war gut besucht. Am Strand und im Wasser tummelten sich viele Touristen und Einheimische. Weiter draußen einige Surfer. Unter ihnen befand sich ihre Zwillingsschwester Sandy, die so viel mehr Mut hatte als Annie. Ihre Schwester kletterte auf die höchsten Bäume, während sie von unten dabei zusah und um Sandy bangte. Auch vom Karussellfahren vor einigen Tagen hatte ihre Zwillingsschwester nicht genug bekommen können. Annie hingegen hatte sich nach nur einer Fahrt vor allen Leuten übergeben. Roger aus der Nebenklasse machte sich seitdem ständig darüber lustig!

      „Wie schön, unser Tisch ist frei“, meinte ihr Grandpa, als sie das Breakers betreten hatten und über die Stufen hinaufgingen. Meistens saßen sie am ersten Tisch gleich links mit dem großen Fenster. Von hier aus konnte man den Strand und das Meer sehen. Heute wirkte es türkisblau und ruhiger als sonst. Das würde Sandy weniger gefallen, die keine Ahnung hatte, was sie versäumte. Ein Eis war allemal besser, als von Wellen verfolgt zu werden und wie üblich ließ es sich Annie schmecken. Ihr Grandpa trank einen Cappuccino und starrte in sich vertieft aus dem Fenster. Wie so oft wirkte er bedrückt. Sicher vermisste er ihre Grandma. Das sagte zumindest Annies Mom häufig, die ihn ständig einlud. Zum Essen, zu Ausflügen oder Sonstigem. Er wohnte gleich neben ihnen, im kleinen Cottage, in dem ihre Mom und deren Bruder Jeremy aufwuchsen. Annies Dad war ihr unmittelbarer Nachbar und Spielkamerad gewesen, in den sich ihre Mom irgendwann verliebte.