Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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hämmerte regelrecht gegen die Mauern der Häuser, als sie wieder zum Geschäft hochgingen. Wie meistens am Nachmittag setzten sie sich auf die Bank, die er an den Stamm des Apfelbaumes gezimmert hatte, dessen Äste sich über die Fassade seines Ladens hochschlängelten. Ihr Grandpa hatte ihn selbst gepflanzt. Cornish Gilliflower, die Sorte mochte er am liebsten und verschenkte ständig welche, wenn Kunden in Randalls Silbermine kamen. In den vielen Vitrinen glänzte und funkelte es. Meistens fertigte er Silberschmuck an, weil er dieses Metall lieber mochte als Gold, obwohl er damit ebenfalls arbeitete. Je nachdem, was die Kunden wollten, zu denen viele Einheimische gehörten, die sich nicht selten nur bei ihm trafen, um einen Kaffee zu trinken. Ihr Grandpa war sehr beliebt in St. Agnes, doch niemand liebte ihn so sehr wie sie, davon war Annie überzeugt, als sie sich an ihn kuschelte. Lächelnd legte er seinen Arm um sie. In seiner Nähe fühlte sie sich, als könnte ihr nichts passieren. Hoffentlich lebte er ewig. So wie sein Schmuck.

      „In einem Monat habt ihr Geburtstag“, erinnerte er sie unnötigerweise an das Ereignis des Jahres. Annie zählte bereits die Tage. Sandy und sie hatten die Einladungen schon vor zwei Wochen ausgeteilt. Die Mutter wollte wieder ihren legendären Kirschkuchen machen und nur beim Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen. „Ich bin gespannt, wie euch mein Geschenk gefällt.“.

      „Was ist es denn?“ Annie blinzelte gegen die Sonne an und schaute zu ihm auf. Witzig. Sie spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Ihr langes dunkelblondes Haar wehte im Wind und die Schmetterlingsärmel ihres geblümten Sommerkleides flatterten, als wären es tatsächlich Flügel.

      „Das werdet ihr früh genug sehen.“ Er stupste mit dem Zeigefinger an ihre Nase. „Jetzt solltest du nach Hause gehen und Hausaufgaben machen, sonst schimpft mich deine Mom.“

      „Muss das sein?“, maulte Annie.

      „Keine Widerrede“, blieb er dabei, wenngleich mit nachgiebigem Ton. „Wir sehen uns ja abends zur Party.“ Plötzlich grinste er. „Ein wenig mehr Ehrgeiz würde dir wirklich nicht schaden. Schon komisch, wie unterschiedlich ihr Schwestern seid.“ Sandy war Klassenbeste und schien fürs Lernen geboren zu sein. Annie hingegen mühte sich mit schlechten Noten ab und zog ständig den Tadel von Mrs. Wilde auf sich. Die Lehrerin schien sich ohnehin auf sie eingeschossen zu haben. Bloß, weil sie ein bisschen fauler war als die anderen und Mathe hasste wie Minnies Weihnachtskekse, die nach Lakritze schmeckten. Noch dazu hatten sie Annie einen Milchzahn gekostet, so hart waren die. Seitdem machte sie um Minnies Stahlkekse einen großen Bogen. Bei den Hausaufgaben ging das leider nicht so einfach und nur eine halbe Stunde später brütete Annie am Esszimmertisch neben Sandy über unlösbare Rechnungen. Wer brauchte Divisionen? Neuerdings sogar teilbar durch zweistellige Zahlen. Dabei hatte sie erst vor kurzem das Teilen mit einer Zahl kapiert. Wenigstens war auf Sandy Verlass, von der sie abschreiben konnte, nachdem diese mit sämtlichen Erklärungsversuchen scheiterte. Sie war eben kein Genie wie ihre Schwester, trotzdem hingen sie aneinander wie Pech und Schwefel. Oft wusste die eine sofort, was die andere sagen wollte. Sogar in Gestik und Mimik waren sie eins. Nur ihre Gehirne schienen unterschiedlich zu arbeiten …

      Nachdem sie endlich fertig waren, spielten sie mit ihren Barbies in Annies Zimmer. Durch das offene Fenster hörte man Meeresrauschen. Deswegen beschlossen sie, an den Strand zu gehen, um Muscheln zu sammeln. Ihre Mom war zu beschäftigt mit den Party-Vorbereitungen, um es ihr auf die Nase zu binden und ihr Dad noch nicht zuhause. Als Baumeister hatte er immer viel zu tun, was in Situationen wie diesen von Vorteil war. Er war ziemlich streng. Trotzdem redete er nicht stundenlang auf sie ein wie es ihre Mom tat, wenn sie etwas angestellt hatten, sondern begnügte sich mit ein paar knappen Worten – die es allerdings in sich hatten. Auf der anderen Seite tobte er oft mit ihnen herum, zeigte ihnen bei vielen Wanderungen ihre Heimat und erzählte ihnen gerne Spukgeschichten. Wenn sie danach nicht mehr einschlafen konnten, freute er sich wie einer der Jungs in der Schule, dem ein besonders guter Streich gelungen war.

      „Oh, wie schön!“, rief Sandy aus und bückte sich nach einer weißen Jakobsmuschel, ohne Annies Hand loszulassen. Als sich ihre Schwester wieder aufrichtete, tat sie so, als würde sie wie eine feine Dame einen winzigen Fächer halten. „Es ist fürchterlich heiß, findet Ihr nicht auch, Prinzessin Annie?“ Ihr beider Lachen hallte über die Bucht, bis sie ihre Mutter entdeckten, die vor dem Cottage stand. Mit den Händen in die Hüften gestemmt und mit ihrem Dad neben sich. Ahnend, was das hieß, liefen sie schnurstracks nach Hause und erhielten den üblichen Vortrag von wegen, dass Eltern immer wissen müssten, wo ihre Kinder seien. Als wären sie Babys! Dementsprechend schlechtgelaunt legten sie danach die Muschel in eines der Gläser auf der Küchenfensterbank, wie im ganzen Haus ähnliche standen, die sie mit Sand, Muscheln und Seesternen gefüllt hatten.

      Nur eine halbe Stunde später wurden sie von der Clique ihrer Eltern geherzt und geküsst. Dazu gehörten Minnie und ihr Mann Duncan. Harold mit seiner Frau Harriet sowie dessen zwölfjährigen Sohn Mason, der ihnen in einem unbeobachteten Moment die Zunge herausstreckte. Sofort zeigten Annie und Sandy ihm fast zeitgleich den Mittelfinger. Angeblich war das etwas ganz Schlimmes. Es musste stimmen, weil Mason sie empört anblickte. Ähnlich wie ihr Onkel Jeremy. Er war Pfarrer und wurde vor kurzem hierher versetzt. Auch ihr Großvater kam – der eine Flasche Wein dabei hatte – sowie Hermes mit seiner Frau Beth. Letzterer war der beste Freund ihres Vaters und sah aus wie der Weihnachtsmann. Heute jedoch wie ein braungebrannter, denn er und Beth waren gerade von ihrem Thailand-Urlaub zurückgekehrt.

      Annie mochte diese Abende, weil sogar ihr Dad mehr sprach als sonst. Außerdem gab es jede Menge Süßigkeiten, bei denen sie allerdings schnell zugreifen mussten, weil Minnie ordentlich zulangte. Ihr Bauch war ähnlich groß wie der des Großvaters, der sich angeregt mit Harold unterhielt. Dessen Antiquitätenladen befand sich direkt neben Minnies Souvenirgeschäft am Town Hill.

      Nachdem die Gäste versorgt waren, holte die Mutter ihr erstes selbstgemaltes Aquarell-Bild, um es mit gespanntem Blick zu präsentieren. Alle klatschten begeistert und überhäuften sie mit Komplimenten. Nur Annies Dad lächelte müde, während er an seiner Zigarette zog.

      Die Mutter stellte ein wenig betrübt das Bild beiseite und machte sich am Plattenspieler zu schaffen. Als die ersten Töne erklangen, drehte sie sich erwartungsvoll zu ihm um und fuhr sich glättend über das gelbe ärmellose Kittelkleid, das sie oft trug. „Wie lange ist es jetzt her, Joseph? Drei, vier Jahre?“ Ein verträumter Ausdruck lag in ihrem Gesicht. Das war immer so, wenn sie sich die Lieder der Band Chicago anhörte. „Erinnerst du dich? Im Greek Theatre hat die Luft förmlich gebrannt. Es war ein wundervolles Konzert in Los Angeles.“ Vor einigen Jahren waren sie extra dorthin geflogen und hatten gleichzeitig ein paar Tage Urlaub gemacht. Seitdem hörte die Mutter ihre Lieblingslieder rauf und runter. Will you still love me – das gerade lief – und Hard to Say I`m sorry. Annie konnte die Texte inzwischen fehlerfrei mitsingen. Da sollte Mrs. Wilde noch einmal sagen, sie könne sich nichts merken! „Tanz mit mir, Joseph“, bat die Mutter und nahm seine Hände, um ihn zu sich hochzuziehen. Annies Dad schüttelte den Kopf und blieb hartnäckig sitzen. Enttäuscht ließ sie ihn los und setzte sich neben Minnie, die ihr aufmunternd zulächelte. Annies Mom zuckte die Schultern und wirkte nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Um neun schickte sie Annie schließlich ins Bett. Sandy war bereits schlafen gegangen, weil sie über Bauchschmerzen geklagt hatte. Vermutlich zu viel Süßes, mutmaßten die Erwachsenen.

      Kaum im Bett schlief Annie sofort ein, wurde aber irgendwann durch ein Geräusch munter. Es war fast stockfinster im Zimmer. Nur die Straßenlaternen des Dorfes waren schemenhaft durch die luftigen Vorhänge zu erkennen. Von unten erklang leises Murmeln. Da, schon wieder! Annie horchte angestrengt, bis ihr bewusst wurde, dass ihre Schwester im angrenzenden Zimmer weinte. Schnell sprang sie aus dem Bett, lief zu ihr hinüber und schaltete das Licht ein. Sandy lag im Bett, die Decke halb auf dem Boden. Das Haar war nass, als würde sie fürchterlich schwitzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie Annie an und hielt sich die Hände an den Bauch. Immer wieder krümmte sie sich zusammen.

      „Was ist mit dir?“, rief Annie aus, die sich hilflos fühlte. Gleichzeitig kroch Angst in ihr hoch.

      „Mein Bauch tut so weh. Hol bitte Mom und Dad!“

      Annie nickte und lief panisch nach unten, wo ihre Eltern nach wie vor mit der Clique im