an ihm vorbei. Tiefer und tiefer tauchte er in die Vergangenheit. Mit jedem Schritt näherte er sich dem Ursprung.
Zwergulin der Zehnte. Mia, seine Gemahlin.
Was war das für ein Gedanke, den er nicht fassen konnte?
Sandkörnchen knirschten unter seinen Sohlen. Die Flamme der Fackel wurde kleiner. Je tiefer er in die Gruft eindrang, desto knapper wurde der Sauerstoff. Obeidian schritt weiter voran. Zwergulin der Sechste. Seine Gemahlin. … Zwergulin der Fünfte. Gemahlin. …
Zwergulin der Zweite. Migralia, seine Gemahlin. Diese Sarkophage befanden sich links von Obeidian. Er wandte seinen Blick nach rechts. Dort lag nur ein einziger Sarg in einer Wandnische. Die Inschrift lautete: Milprania, Gemahlin Zwergulins des Ersten.
Von Ehrfucht erfüllt betrachtete Obeidian die Ruhestätte der Stammmutter. Niemals zuvor war er bis hierhin vorgedrungen. Jetzt fragte er sich: Wo war der Sarkophag des ersten Zwergenkönigs? Er suchte das Gewölbe ab. Dann entdeckte er einen schmalen, niedrigen Durchgang.
„Kommt!”, befahl er den beiden Zwergenposten, die zögernd der Aufforderung folgten. Das Licht ihrer Fackeln erhellte die Szenerie. Alle drei traten in die Kammer, die sich hinter dem Durchgang befand.
Obeidian hielt den Atem an.
Der Boden bestand aus einer einzigen Steinplatte. Darauf eingraviert war: ‚Hier ruhet Seine Minoritaet Zwergulin & wehe jedwedem, der es waget, seinige Ruhe zu stoeren!‘
Obeidian schluckte. Dann sah er an der gegenüberliegenden Wand …
Die Stele.
Und auf dieser stand -
Natürlich wusste der Minimister, was es damit auf sich hatte. Er hatte davon gehört, sie jedoch niemals selbst erblickt. Wie ein Denkmal ragte sie auf der Stele empor – die rotgoldene Rüstung des allerersten Zwergenkönigs.
Erfreut lief Obeidian über den Boden, streckte die Arme nach der Rüstung aus – und merkte, wie sein Herz einen Schlag lang aussetzte.
Denn mit scharfem Knirschen glitt die steinerne Bodenplatte beiseite und gab einen unermesslichen Abgrund frei, aus welchem ein heulender Wind aufstieg, der die Zwergenwachen erfasste und mit unerbittlicher Umklammerung nach unten sog.
Obeidian krallte sich an der Stele fest und verfolgte entsetzt die Katastrophe. Die Schreie der Männer gellten in seinen Ohren und Obeidian sah sie in unwirkliche Welten stürzen, die sich unter ihm schwarzfunkelnd auftaten. In der Tiefe bildete sich ein Farbwirbel, erst punktgroß, dann schnell anwachsend. Ein fauchender Sturmwind schlug Obeidian entgegen, dehnte sich aus und füllte in Sekundenschnelle den Raum.
An die Stele geklammert, auf der die Rüstung stand, beobachtete Obeidian, wie Rauchschwaden, Staub und Funken sich zusammenfanden. Eine wabernde Wolke schwebte vor ihm, schmutziggelb und mit einem inneren Glühen.
Obeidian wagte nicht, eine Hand von der Stele zu lösen, um sein Tüchlein zu suchen, obwohl er auf der Stirn schwitzte wie niemals zuvor.
Die Rauchwolke formte sich zu einem Gesicht, doppelt so hoch wie Obeidian selbst. Es war ein Gesicht mit unscharfen Umrissen und es schwebte in der Luft mit pulsierenden Auf- und Abbewegungen.
Ein ausgefranster Mund tat sich auf. „Was … willest ... du …?” Die Stimme klang hohl und staubig, als sei sie Jahrhunderte lang außer Gebrauch gewesen.
Obeidian bemühte sich Speichel zu sammeln, doch sein Gaumen blieb trocken. So bestand seine Antwort nur aus einem heiseren Krächzen: „Die … Rüstung …”
„Was?!” Das Wolkengesicht brodelte wildglühend auf. Als ihn der Ausruf wie ein wuchtiger Windstoß traf, musste Obeidian die Augen zusammenkneifen.
„Die Rüstung”, donnerte das geisterhafte Gesicht, „gehöret dem Stammvater!”
Obeidian wartete den atemnehmenden Sturmwind ab, dann entgegnete er: „Gewiss. Doch sein Enkel benötigt sie.”
Das schien das Gespenst zu irritieren. Ein paar Sekunden lang waberte es vor sich hin.
Obeidian wagte nachzufragen: „Hast du etwas dagegen?”
Nebelbleiche Augen richteten sich auf ihn. „Allerdings! Ich bin der Beschützer des Königshauses von Zwergonien! Ich bin der Hüter des Gruftgewahrsams! Nichts dürfet von hier entfernet werden!”
„Aber der Enkel -”
„Der Enkel ist tot!”
„Ich meine, der Urenkel -”
„Tot! Alle sind sie tot!”, kreischte das Gespenst und rauschte rabiat durch die Gruft. Rau schliffen seine Schleier an den Wänden entlang. Dann fing es sich in einer Ecke rechts oben. Festgekrallt wie eine Spinne saß es dort und wiederholte: „Tot! Alle sind sie tot! Gestorbigt! Nur ich bin noch hiesig! Ich bliebete! Zurückgelasset! Allein, ganz allein!…”
Obeidian spürte, dass es an ihm lag, eine Entscheidung herbeizuführen.
„Nicht alle sind tot”, sagte er. „Ein Urenkel …”
„Ur?”
„Ururenkel”, verbesserte sich Obeidian.
„Urur?”
Obeidian holte tief Luft. „Urururururururur … äh, und Ururenkel!”
Das Gesichtgespenst schien beeindruckt. „Ich bin wohl seit ein paar Generationen nicht ganz auf dem Laufenden …”
Obeidian atmete vorsichtig aus. „Das macht doch nichts.”
Das Gespenstgesicht nahm einen betrübten Ausdruck an. „Man krieget ja hier unten nicht viel mit. Was draußen vorgehet, was in der Welt geschehet … Keiniger saget einem was.”
Obeidian wagte kaum zu atmen. „Soll ich dir verraten, was draußen vor sich geht?”
„O ja, bitte!” Das Gespenst blähte sich erwartungsvoll auf.
Obeidians Zunge leckte nervös über die Lippen. „Bekomme ich dann die Rüstung?”
Das Gespenst schrumpfte etwas zusammen. „Oh, ich weiß nicht, das ist eigentlicherweise gegen die Regeln …”
Der Minimister zählte innerlich auf die bewährte Weise und ließ das Gespenst achtzehn Sekunden lang schmoren, dann spielte er seinen letzten Trumpf aus. „Und was ist, wenn ich es dir zeige, das Draußen?”
Das Gespenst erbebte vor Erregung. „Das … ist unmöglich.”
„Nein”, widersprach Obeidian. „Ich nehme dich mit nach draußen, wenn ich auch die Rüstung mitnehmen darf.”
Die Blicke aus den hohlen, verblichenen Augen des Gruftgespenstes stocherten in der geistigen Leere herum, von der es seit Äonen umgeben war. Es zog sich in eine Ecke der Gruft zurück. „Ich muss ein weniglich über den deinigen Vorschlag nachdenken.”
Obeidians Finger, mit denen er sich an der Stele festklammerte, verkrampften sich allmählich. Er blickte beunruhigt in den Abgrund mit den wallenden schwarzen Nebeln und dachte an das Kampfgeschehen, das über ihnen tobte. Wie weit mochten die Feinde bereits vorgedrungen sein? Er sah, dass das Gespenst in Gedanken versunken war und tastete vorsichtig nach der Rüstung. Nur ein paar Handbreit, und dann, mit einem bisschen Glück …
„Finger weg!” Die Nebelaugen fixierten ihn. „Ich habe mein Nachdenken noch nicht vollendigt!”
Obeidian ließ die Hand sinken. Arme und Beine wurden ihm lahm. Die Zeit verrann.
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